Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie
Siedler Verlag, Berlin 2015
592 Seiten, 29,99 Euro
Misstrauisch und ohne Mitleid
Der Moskauer Historiker Oleg Chlewnjuk lässt sich nicht in die neue Stalin-Verklärung einspannen. Seine in 20 Jahren erarbeitete Biografie des "Stählernen" zeigt einen grausamen Menschen, der bei allen Konflikten den Terror bevorzugte.
Das Interesse an dem Diktator ist in Russland nach wie vor groß, die Neigung, sich ihm kritisch zu nähern, jedoch gering. Im Mai 2010 erschienen in den Straßen von Moskau, Kirow und Woronjesch kurz vor dem Tag des Sieges am 9. Mai Stalin-Poster. Der russische Stalin-Biograf Oleg Chlewnjuk vermutet, dass wer die Gegenwart ablehnt, oft dazu neigt, die Vergangenheit zu idealisieren.
Obwohl es an Stalin-Biografien keinen Mangel gibt, arbeitete der Moskauer Historiker 20 Jahre lang an einem neuen, wissenschaftlichen Werk, in dem er aufräumen wollte mit dem "archivgestützten Sensationsjournalismus", der nach Öffnung der Archive um sich griff, und dem neuentdeckten "alternativen Stalin", dessen angeblich effiziente Führung gepriesen wird.
Waren früher nur gefälschte Publikationen von Sitzungen des Politbüros der Kommunistischen Partei oder der Regierung zugänglich, standen Chlewnjuk jetzt die Originale von Protokollen zur Verfügung, die festhielten, was wirklich besprochen und beschlossen worden war. Und Stalins umfangreicher Briefverkehr. Oleg Chlewnjuk verschweigt nicht, dass wesentliches Material aber bis heute fehlt: das Besucherbuch der Kreml-Wohnung, das jeden Gast registrierte und Briefe, die an Stalin gerichtet waren. So bleibt auch diese Biografie nur eine vorläufige Bestandsaufnahme.
Chlewnjuk lässt sich nicht einspannen in die neue Stalin-Verklärung, die man auch von Nazi-Deutschland kennt: Wenn der Führer das alles gewusst hätte, es wäre so nicht geschehen. So entstehen Mythen: Nicht Stalin, sondern Regierungsbeamte unterer Ebenen sollen für die Massenrepressionen verantwortlich gewesen sein, die ihr Handeln vor Stalin geheim gehalten haben. Der Autor entzaubert diese Mythen und stellt klar: Der im georgischen Städtchen Gori geborene Iosseb Dschugaschwili war grausam und mitleidlos veranlagt. Von allen Methoden zur Lösung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Konflikte bevorzugte er den Terror. Zugeständnisse und Kompromisse sah er als Bedrohung der Unantastbarkeit seiner Macht.
Brillantes Gedächtnis, unbedingte Loyalität
Die Wurzel der Gewalt, seiner Brutalität war sein theoretischer Dogmatismus, wie Chlebnjuk zeigt, nicht etwa – was häufig behauptet wurde – eine schwere Kindheit. Der Sohn einer alleinerziehenden Mutter wurde geliebt, zur Schule geschickt und sollte es zum Priester bringen. Der junge Mann mit dem brillanten Gedächtnis lernte sehr gut Russisch, las Marx und war entflammt. Er schloss sich den Revolutionären an, kam mehrfach ins Gefängnis und in die Verbannung.
Chlewnjuk zitiert Zeitgenossen, die staunten, mit wie wenig sich Stalin begnügen konnte. Fehlender Komfort, Mangel an geistiger Anregung stellten kein Problem dar, er hatte auch nicht das Bedürfnis, seinen Geist zu trainieren, schrieb in der Verbannung keinen einzigen Artikel. Seinen Aufstieg in der Partei der Bolschewiken verdankte er seiner unbedingten Loyalität zu Lenin. Er verbündete sich mit ihm, weil der Parteiführer der Stärkste war. Lenin hatte keinerlei Hemmnisse, einen Bürgerkrieg auszulösen, Stalin war ebenso radikal. Aber schon Lenin warnte, dass Stalin nicht mit Macht umgehen kann, nannte ihn zu grob.
Stalin war keine 1,60 Meter groß, hatte zwei zusammengewachsene Zehen, einen verkümmerten linken Arm und Narben von einer Pocken-Erkrankung, kränkelte zeitlebens, litt an Tuberkulose, Malaria, Magenbeschwerden und Rheuma, mochte sich nicht bewegen. Er starb an einer Gehirnblutung mit 74 Jahren – ein stolzes Alter für jene Zeit. Er war ein Schürzenjäger, vor allem aber galt er als pathologisch misstrauisch.
Josef Stalin nannte er sich erst im Alter von 45 Jahren. Stalin, der Stählerne − so fest wie der Werkstoff sei seine Verbundenheit zur russischen revolutionären Arbeiterbewegung.
Dass 1932/33 zwischen fünf und sieben Millionen Ukrainer, Weißrussen und Russen verhungerten, lag laut Chlewnjuk an Stalins abgrundtiefer Verachtung der Bauern, mit denen eine Industrialisierung der Sowjetunion nicht möglich schien, deren Schicksal ihm deshalb gleichgültig war.
Er verlangte die Unterwerfung des Individuums unter die Interessen des Staates, Grund für den immerwährenden Klassenkampf waren ausländische und innere Feinde. Ausbleibende politische und wirtschaftliche Erfolge, militärische Fehlschläge wurden nie auf eigene Schuld, sondern stets auf das Wirken von Feinden zurückgeführt.
"Der sowjetische Diktator konnte sich rühmen, einen der mächtigsten und gnadenlosesten Terrorapparate in der Geschichte aufgebaut und geleitet zu haben", schreibt Chlewnjuk.
Leben in ständiger Angst vor der "Säuberung"
Zuletzt wurden allein seine Wohnung und Datscha von 335 Sicherheitsleuten bewacht, 73 Personen bedienten ihn. Sie waren Teil der Nomenklatura, die aus über 50.000 Personen in Moskau und noch einmal 350.000 in den Regionen bestand. Alle lebten in ständiger Angst, wurden dafür aber überaus fürstlich entlohnt. 800.000 Personen fielen den verschiedenen Säuberungswellen zwischen 1930 und 1952 zum Opfer, 20 Millionen Menschen litten in Lagern, Strafkolonien oder Gefängnissen.
Der Historiker hat errechnet, dass in der 24-jährigen Herrschaft im Durchschnitt jedes Jahr eine Million Menschen erschossen, inhaftiert oder in nahezu unbewohnbare Gebiete der Sowjetunion deportiert worden sind:
"Stalin initiierte alle wichtigen Repressionskampagnen persönlich, entwickelte Pläne für ihre Durchführung und überwachte die Umsetzung genauestens. Viele Erschießungen genehmigte er persönlich."
Die berühmteste von ihm empfohlene Ermordung ist die Trotzkis im mexikanischen Exil. Trotzki war 35 Jahre lang einer seiner wichtigsten Feinde, der unter anderem Stalins militärischen Dilettantismus kritisiert hatte. Trotzki war ein charismatischer Redner, brillanter Stilist, faszinierender Schriftsteller, Stalin war nichts von allem.
Im Zweiten Weltkrieg, in dem die Sowjetunion 27 Millionen Menschen verlor, gewann die Rote Armee erst spät Oberhand. Im Juni 1944 dienten mehr als 11 Millionen Sowjetbürger in den Streitkräften. Stalin bestrafte kollektiv "Kollaborateure" in den besetzten Gebieten, ließ ganze Volksgruppen deportieren, erlaubte andererseits der Kirche aber auch, ihre lange untersagte Tätigkeit wieder aufzunehmen, weil er erkannte, dass die Religion das Land einte.
Unter Stalins Herrschaft dehnte das sowjetische Imperium seine Einflusssphäre auf riesige Landstriche Europas und Asiens aus und wurde zu einer von zwei Supermächten.
Bis heute ist in Russland die Ansicht verbreitet: Über den Sieger richtet man nicht. Auch deswegen findet, Chlewnjuk zufolge, eine Aufarbeitung des Stalinismus nicht statt.