"Stätten der späten Moderne"

Vorgestellt von Reinhard Kreissl |
Die größten Abenteuer lauern vor der eigenen Haustüre, man muss sie nur finden. Das Buch von Legnaro und Bierenheide kann hier den Blick schärfen. Es berichtet über ein Forschungsprojekt, das unter dem Titel "Die Ordnung der Nicht-Orte" die Inszenierung von Raum und die Herstellung von sozialer Ordnung an eben jenen trivialen Orten untersucht, die im Titel genannt sind: Bahnhöfe, Shopping Malls und Vergnügungsparks vom Typ Disneyland.
Jedem dieser Nicht-Orte ist in dem Buch ein eigener Abschnitt gewidmet. Ein ausführliches Einleitungskapitel rückt diese faszinierenden Analysen in einen größeren theoriegeschichtlichen Zusammenhang ein und stellt Verbindungen zu den großen Fragen der Gesellschaftsdiagnose her. Die Autoren schaffen damit eine gelungene Synthese von dichter Beschreibung und kritischer Reflexion über den Zustand unserer Städte.

Legnaro und Bierenheide zeigen, wie durch die sichtbare, aber selten bewusst wahrgenommene Gestaltung des öffentlichen Raums unsere Bewegungen und unser Verhalten kontrolliert werden. Zugleich gehen sie unter die Oberfläche: man erfährt, welch umfassender Überwachung jeder unser Schritte unterzogen wird, wie sichtbare und unsichtbare Zugangskontrollen dafür sorgen, dass nur diejenigen sich im öffentlichen Raum aufhalten, die ihr Geld dort lassen. Alle anderen haben an den Nicht-Orten nichts verloren. Mit detektivisch geschultem Blick haben sich die Autoren an den diversen Lokalitäten herumgetrieben, haben beobachtet, was dort geschieht und die Verantwortlichen interviewt und dabei auch registriert, dass manche sich weigern, Rede und Antwort zu stehen. Wer versucht, die Manager von Disneyland zu interviewen, steht vor verschlossenen Türen.

Seinen besonderen Reiz erhält dieses zeitdiagnostische Flanieren im öffentlichen Raum durch den historischen Vergleich: Was hat der heutige Bahnhof noch mit den imposanten Kathedralen des heraufdämmernden Industriezeitalters gemeinsam? Erst der historisch erweiterte Blick führt die Veränderungen vor Augen, deren Zeitzeugen wir als Nutzer dieser Orte sind. Was haben Shopping Malls noch mit traditionellen Kaufläden zu tun und für was steht eine künstliche Welt wie Disneyland überhaupt?

Legnaro und Bierenheide interessieren sich vor allen Dingen für die mehr oder weniger sanften Mechanismen der Kontrolle des Publikums der Nicht-Orte. So beschreiben sie eine Videozentrale am Bahnhof:

"Fernsehschirme übereinander montiert, auf jedem ein aus dem Universum des Beobachtbaren heraus gestochenes Bild. Durch einen Klick mit der Maus wird die Kamera aktiviert und der Blick eingestellt, auf die Ströme der Passanten, eine Frau, die ratlos am Gepäckautomaten entlang blickt, ein sich verabschiedendes Paar.... Der Zoom holt die Szenen in farbiger Schärfe heran, langsam schwenken die Kameras im Kreis von 360 Grad, für die Betrachtenden ein Fernsehspiel, dessen Einstellungen sich beliebig zusammenstellen, vergrößern und panoptisch montieren lassen."

Aus diesen unsichtbaren panoptischen Zentren heraus werden die sichtbaren Sicherheitskräfte dirigiert, die jedes verdächtig wirkende Subjekt sofort kontrollieren. Dabei geht es nicht um spektakuläre Vorkommnisse, sondern um die kleinen Abweichungen von einer zunehmend prekären sozialen Normalität.

"Das durch einen Bahnhof schweifende Auge der Macht aber beobachtet das Publikum bei der Nutzung und Belebung des öffentlichen Raumes, ohne seinen Verdacht zu konzentrieren und zu individualisieren – eine erhabene Gleichheit sieht alle als gleichermaßen verdächtig an und macht sie zum Objekt der Beobachtung .... Konsumenten sind eine Menge, Verdächtige aber sind Einzelne."

Nach solchen Schilderungen überquert man nicht mehr naiv den Bahnhofsplatz. Dabei geht es gar nicht um eine reale Prävention von Straftaten. Es geht, wie Legnaro es an anderer Stelle einmal genannt hat, um "Fiktionen der Übersichtlichkeit."
Sind Bahnhöfe altehrwürdige Gebäude, die mit einem Netz der Kontrolle überzogen werden, so handelt es sich bei Shopping Malls um sorgfältig konstruierte "Wirklichkeitslandschaften". Die Erbauer kalkulieren die Flussgeschwindigkeiten der Besuchermassen, wirken durch entsprechende Gestaltung des Raums auf die Wege ein, in denen sich diese Massen bewegen, verwenden den passenden Grundriss und die konsumfreudige Raumhöhe – all das auf der Basis ausführlicher empirischer Untersuchungen, die das Kaufverhalten in Beziehung zu Dichte, Raum und Zeit setzen.

Ebenso instruktiv wie entlarvend sind die in dem Buch eingestreuten Zitate aus den Interviews mit den verantwortlichen Mitarbeitern von Bahnhöfen und Shopping Malls. Die Mischung aus Naivität und unverhohlener Kontrollwut, die aus deren Einlassungen spricht, erzeugt bisweilen Gänsehaut.

Den dritten Teil dieser Tour durch die schöne Neue Welt bildet das Kapitel über Disneyland, die Mutter aller Erlebniswelten. Disneyland Paris, wo am 10. Januar 2001 nach neun Jahren der 100millionste Besucher begrüßt wurde, ist nicht nur ein kultureller Leuchtturm des American Way of Life, sondern auch ein wichtiger ausländischer Großinvestor mitten in Frankreich. Legnaro und Bierenheide haben eine mehrtägige Expedition in dieses Wunderland veranstaltet und ihr Reisebericht gehört zum Besten, was die Kritik an der Kulturindustrie der Gegenwart hervorgebracht hat. Aber auch hier zeigt sich der verwickelte Zusammenhang von Freundlichkeit und Überwachung. Das scheinbar unbeschwerte Schlendern durch die phantastische Welt von Mickey und seinen Freunden gehorcht einem genau inszenierten und überwachten Plan. Inszenierte Spontaneität ist im Preis inbegriffen.

Wer aus beruflichen Gründen sich durch die dröge Literatur der akademischen Theorie kämpfen muss, empfindet diese Art materialreicher Darstellung als Segen. Wem die Oberflächlichkeit des mit heißer Nadel geschriebenen und auf Effekt zielenden Sachbuchs zu wenig ist, der findet hier wohltuende Komplexität. Man wünschte dieser Art von Analysen größeren Raum im akademischen, wie im Diskurs des interessierten Laienpublikums. Denn die schleichenden Veränderungen des Alltags aufzuspüren, ihre geheime Agenda und ihre Nebenfolgen aufzuzeigen ist eine ebenso spannende wie verdienstvolle Aufgabe, der sich die Sozialwissenschaften leider viel zu selten widmen.

Aldo Legnaro, Almut Bierenheide: Stätten der späten Moderne
Reiseführer durch Bahnhöfe, shopping malls, Disneyland Paris
VS Verlag, Wiesbaden 2005