Städte unter dem Eis

Die Alpen sind die Heimat von fabelhaften Wesen. Der Volkskundler Hans Haid sieht einen großen weiblich geprägten alpinen Mythos am Werk, der seine Wurzeln in matriarchalen Kulten der Steinzeit findet. "Mythen der Alpen" ist ein Buch für Kulturinteressierte und Bergsteiger, die an mehr als am sportlichen Aspekt des Gebirges interessiert sind.
Das "Toggeli" war eine Puppe, die sich vereinsamte Senner während ihrer Zeit auf der Alm aus Teig, Käse oder Holz anfertigen. Die Sage berichtet mit wohligem Schauer davon, wie so eine Puppe lebendig werden kann. Immer größere Mengen an Milch und Brei frisst sie und im Herbst, wenn der verängstigte Senner ins Tal fliehen will, lässt sie diesen nicht gehen. Sie zieht ihm sogar die Haut ab und spannt sie auf dem Dach der Almhütte zum Trocknen auf. Pygmalion und Frankenstein also auf Bergtour. Von solchen und anderen ungewöhnlichen Geschichten erzählt Hans Haid in seinem Buch "Mythen der Alpen".

Die Alpen sind die Heimat von fabelhaften Wesen, vor allem Frauengestalten, den so genannten Weißen Frauen oder Saligen, von ihnen erzählen viele Sagen. Meist sind das hilfreiche Wesen, die dem Senner bei seiner harten Arbeit helfen, aber wer sie erzürnt, bekommt ihren Zorn in Form von Lawinen oder Bergstürzen zu spüren. Oder es werden gleich ganze Städte von der Landkarte gewischt, wie in der Geschichte der Blümlisalp, einem Bergstock im Berner Oberland: Dort führte einst, so erzählt es die Sage, der Senner ein sündhaftes Leben mit seiner Magd Kathryn. Die ließ die Wege zur Hütte mit Käselaiben pflastern und vernachlässigte den alten Vater des Senners, bis eines Tages Eismassen vom Berg herabkamen, die Alm ganz überdeckten und den Senner mitsamt der Kathryn im ewigen Eis einschlossen.

Vergleichbare Sagen werden im ganzen Alpenraum erzählt. Manchmal sind es ganze Städte, die da unter dem Eis liegen sollen, bestraft für Hochmut, sündhaftes Leben oder Verstöße gegen die Gastfreundschaft – eine Art alpines Atlantis also.

Menschen machen sich in diesen Sagen das oft bedrohliche Wirken der Naturgewalten plausibel. Viele dieser Sagen wurden zum ersten Mal schriftlich überliefert ab Anfang des 17. Jahrhunderts. Das war eine Zeit, in der das Klima merklich kälter wurde und die Gletscher teilweise rapide anfingen zu wachsen, in der also auch ehemaliges Kulturland wirklich unter dem Eis verschwand und die Menschen in den Alpentälern dieser bedrohlichen Entwicklung hilflos gegenüber standen. Der ideale Nährboden für Untergangssagen auf der einen Seite, Ritualen zum "Bannen", also Zurückdrängen des Gletschers auf der anderen Seite. Auch von diesen berichtet Autor Hans Haid.

Der Gletscher, der ins Tal vorstößt, erscheint als teuflisches Monster, als so genannter "Greiß". Die Sage vom Uri-Stier erzählt davon, dass dieser Greiß entfesselt wurde, als ein Hirt eines seiner Lämmchen so sehr liebte, dass er es sogar mit gestohlenem Weihwasser taufte – daraufhin verwandelte es sich in ein Monster und trieb auf der Alm sein Unwesen. Gebannt werden konnte es nur von einem weißen Stier, der sieben Jahre lang auf der Weide stand und einzig von einer reinen Jungfrau noch gebändigt werden konnte – die Auseinandersetzung mit dem Greiß überlebten dann allerdings weder Stier noch Jungfrau.

Diese beiden Motive, Stier und Jungfrau, führen den Autoren dann weit über zerstörte Almen hinaus: Haid sieht hier einen großen weiblich geprägten alpinen Mythos am Werk, der seine Wurzeln über tausende von Jahren hinaus in matriarchalen Kulten der Steinzeit findet, und der verwandt ist zum Beispiel mit dem Gilgamesch-Epos Mesopotamiens. Mit akkadischen Hirten, die die nacheiszeitlich menschenleere Gegend besiedelten, sei dieser Kult dann in die Alpen gewandert.

Natürlich finden sich überall in den Alpen die Spuren jungsteinzeitlicher Besiedlung und auch der entsprechenden Kulte, Besiedlung aus einer Zeit, in der das Klima wärmer und die Gletscher noch wesentlich kleiner als heutzutage waren. Haid verweist auf die vielen so genannten Schalensteine und von Ritzzeichnungen in den Felsen, deren Fundorte er unter Verweis auf drohenden Vandalismus oder esoterische Überbegeisterung leider meist nicht genauer beschreibt.

Natürlich finden sich auch viele Bergnamen und Sagen, die auf einen dezidiert weiblichen Zug in der alpinen Sagenwelt verweisen, Berge wie die "Wilde Frau" oder das "Tote Weibl". Aber als Beleg für eine alpenweite weibliche Gegenreligion reicht das meines Erachtens nicht aus. Die Belege sind dazu dann doch etwas zu spärlich, zu viele Funde werden ohne weitere Erläuterung in die Rubrik "Kultplatz" eingereiht. Schließlich gibt es genauso gut auch männliche Bergnamen, aber zum Beispiel den Watzmann ignoriert der Autor gänzlich. Stattdessen ist er ganz vom "Ötzi", der steinzeitlichen Gletschermumie, fasziniert, die er in seine Kulttheorie einbaut. Vielleicht verständlich, schließlich ist Ötzi für den Ötztaler Hans Haid ein direkter Nachbar.

Aber eigentlich braucht die Bergwelt auch keine nachkonstruierten Mythen. Die Spuren von religiöser Betätigung, die sich von der Steinzeit über die Christianisierung bis zu heutigen Wallfahrten finden, sind da ausreichend genug. Das ist die große Stärke des Buches von Hans Haid: Er bezieht auch moderne Kultstätten mit in seine Darstellung ein, wenn sie denn gelungen so genannte Orte der Kraft zur Geltung bringen, von besonderen künstlerischen Projekten, interessanten Klostergründungen bis zu der Wallfahrtskapelle, die der Architekt Peter Zumthor in schweizerischen Sumrita gebaut hat.

Die Alpen als einen besonderen und lebendigen Raum kultureller Schöpfungen – und eben nicht nur als Naturschauspiel – bringt Hans Haid gut zur Geltung. Das ist auch, nebenbei bemerkt, seine Lebensaufgabe, der er sich als Volkskundler gesetzt hat: das Wiederentdecken der "starken Kräfte" der Berge, um eine regionale Identität zu stärken – unabhängig von überdrehter Esoterik oder seelenlosem Massentourismus. Diesen Lebensraum Bergwelt stellt Haid nicht nur durch seine Mythen und Sagen vor, sondern auch durch teilweise ins Skurrile gehende Porträts engagierter Heimatkundler.

"Mythen der Alpen" ist ein richtiges Entdeckerbuch, mit dem man neue, andere Reiseziele in den Bergen finden kann. Das handliche Format begünstigt einen Platz im Reisegepäck, auch wenn eine Landkarte und ein Register der Ortsnamen schön gewesen wären. Und vielleicht noch ein gründlicheres Lektorat, das die uneinheitliche Schreibung von Namen oder falsche Zahlen (wie die "11.879" m hohe Zehnerspitze) korrigiert hätte. Aber alles in allem ist "Mythen der Alpen" ein schönes Buch für Kulturinteressierte und für Bergsteiger, die an mehr als am sportlichen Aspekt der Alpen interessiert sind.

Rezensiert von Kirsten Dietrich

Hans Haid: Mythen der Alpen. Von Saligen, Weißen Frauen und Heiligen Bergen
Böhlau Verlag Wien 2006, 365 S., 24,90 Euro