Stadtgrenze - Ahrensfelde in Brandenburg

Eine Rundfahrt durch die Vorstadtherzen

Von der Station Friedrichstraße in Berlin-Mitte fährt eine S-Bahn nach Ahrensfelde.
Von der Station Friedrichstraße in Berlin-Mitte fährt eine S-Bahn nach Ahrensfelde. © Imago
Von Maximilian Klein und Hans-Otto Reintsch |
Sexy ist Berlin hier nicht mehr: Ahrensfelde liegt hinter der Stadtgrenze der Metropole, ist aber mit der S-Bahn immer noch schnell erreichbar. Trotzdem herrscht hier Landidylle. Ahrensfelde kann sich nicht entscheiden: Ist es Land, Stadt, Vorstadt?
Durch Hochhausschluchten frisst sich eine sechsspurige Straße. Die Straßenbahn steuert ihre letzten Stationen an. Stadtgrenze – wie eine Drohung vermeldet die Tram ihr Ziel. Dann verebben die Gleise unter dem Asphalt. Die Straße ist hier so breit, dass sich Nachbarn auf den gegenüberliegenden Seiten nicht erkennen. Es lädt aus, einen Spaziergang hier zu unternehmen. Hier ist Berlin nicht sexy, sondern schon fast vorbei. Hohenschönhausen. Tiefer Osten. Könnte auch Schwedt sein. Und wenn man gerade Schmerzen im Rücken bekommt, vom Schulternhochziehen, um sich gegen die sozialistische Intensivwohnhaltung zu schützen, beginnt das "Dazwischen". Stadtausgangsschild. Einfamilienhäuser. Das Nicht-mehr und das Noch-nicht beginnt. Landidylle. Eine Ecke weiter doch wieder Industriehof und Hochspannungsleitung.

Bäume so dick wie Wiener Würste

Vom Norden kommend endet die Autobahn in einem Acker. Leere. Dann: Tankstelle. Es schleicht dieses wohlig, gruselige Gefühl über den Rücken: Gleich ist man wieder in der großen Stadt. Die letzten Kilometer, bevor es wieder losgeht. Mit dem Leben. Und dem kuscheligen Wahnsinn der Anonymität. Gleich hat man es geschafft. Aber dann muss man abbiegen. Eine kleine, künstliche Allee. Die Bäume haben den Durchmesser einer Wiener-Wurst. Und dann beginnt eine Siedlung. Stieglitzweg. Rebhuhnwinkel. Fasanenstrasse. Amselallee. Pfauengasse. Reihenhäuser! Langgezogene, zusammenhängende Wohneinheiten, die Einfamilienhäuser imitieren. Wand an Wand mit dem Nachbarn und trotzdem im Eigenheim. Vorgärten und Carports haben die gleiche Grundfläche. Reinlich ist die Reihenhauskulisse.
Bernd: "Nee, wir haben gesucht. Ein Grundstück. Erst waren wir in Mahlsdorf, da hat es dann nicht geklappt. Und war auch nicht so ideal…und denn haben wir hier die Annonce in der Zeitung gelesen und haben wir uns angeguckt. War ja alles Rohbau hier."
Für das Interview im Haus zieht uns Kalinka blaue Mützen über die Schuhe. Kopfbedeckungen, wie sie in Operationssälen getragen werden. Damit der Teppich nicht schmutzig wird. Bernd sitzt in seinem Sessel. Seine Frau Kalinka auf einem Schemel an einem Fliesentisch. Bernd hatte früher einen Kiosk. Nicht so einen Lotto-Laden, nein, so einen Freistehenden. So einer, der aus dem Stadtbild langsam verschwindet. 23 Jahre hat er Zeitungen und vor allem Getränke an die Leute verkauft. Kalinka war Köchin in einer Großküche. Charité. Sie sind Zugezogene. Vor 15 Jahren haben sie im Prenzlauer Berg gewohnt. Direkt an einer Hauptstrasse.
Heute Ahrensfelde. Warum?

Vom Prenzlauer Berg nach Ahrensfelde - warum?

Kalinka: "Ja war dann auch so…bin frühmorgens mit Gummistiefeln…zum Bahnhof."
Bernd: "Wenn du denn arbeiten gehst, bist du den ganzen Tag nicht hier…
Kalinka: "... da hast die gleich die Regionalbahn…"
Bernd: "20 Minuten!"
Kalinka: "Nicht mal 20. Viertel Stunde."
Bernd: "Is doch ejal. 20 Minuten…"
Kalinka: "Aber die Verbindung ist wunderbar! Du kannst zur Straßenbahn mit S-Bahn, mit Regionalbahn…."
Bernd: "Anbindung ist gut."

Moses wacht über Kalinka und Bernd

An der Wand hängt ein zwei mal zwei Meter großes Ölgemälde. Moses mit ausgebreiteten Armen und eigener Beleuchtung. Wacht über Kalinka und Bernd beim Fernsehen und Mittagessen. Eine steile Treppe führt in den ersten Stock. Puppensammlung. Arbeitszimmer. Ein Kater streift umher. Überall Fotos der Kinder. Im Keller der Stolz des Hauses: die Sauna.
Bernd und Kalinka stöhnen. Ihr Leben bestand aus harter Arbeit, Familie und langen Autofahrten nach Bulgarien. Zur Familie von Kalinka. Das Eigenheim ist die Abrundung des German way of life. Der Traum vom Eigenheim am Stadtrand mit dazugehörigem Parkplatz. Nach 22 Jahren abbezahlt.
Beginnt nach der letzten Rate noch mal ein neues Leben?
Kalinka: "Denke schon."
Bernd: "Nee. Warum. Nö. Ist doch nischt anders."
Kalinka: "Na ja, dann finanziell, sagen wir, dann hast du diese 700 Euro, was du jetzt bezahlt hast als Kredit…"
Bernd: "Knappe tausend!"
Kalinka: "Ja aber wir haben einen Nachbar sind wir schon seit vier Jahre, die haben alles schon bezahlt!"
Bernd: "... habe ich dir schon mal erzählt: Ich wollte das nicht, dass du kein Geld in den Taschen hast!"
Kalinka: "... da brauchst du doch nicht schreien!"
Bernd: "Jedes Mal erzählste dasselbe! Ich habe dir erzählt, wie, warum wir das so gemacht haben! Die fahren nicht in Urlaub! Sind nicht in Urlaub gefahren. Is doch jeden seine Sache…So flüssig sind wir ja auch nicht. Sind ja keine Großverdiener!"

Der spießige Sehnsuchtsort der Mittelschicht

Das Leben in der Vorstadt. Suburb nennen es die Amerikaner. Sie waren es, die ein Lebensmodell prägten. Mit Serien, Filmen, die sich in der zauberhaften Zahnpastahollywoodwelt der Vorstadt bewegte. William Tenner, der biedere Vorstadtbeamte mit dem immer sauberen Wohnzimmer. Will Smith als Ghettokind im noblen Vorort von Los Angeles. Bill Cosby, der seinen Kindern in seinem Vororthaus das Leben erklärt. E.T., Full House, Tim Tailor. Vorstadt als Lebensziel einer gesunden Mittelschicht. Der spießige Sehnsuchtsort, an dem wir glücklich mit unseren Familien grillen und mit den Nachbarn zusammen Fernsehen.
Bernd: "Na, ich habe schon n paar Mal: Komm mal rüber! Trink n Bier! 'Ach nee!' Und das machste ja auch nicht oft und fragste, ob jemand kommen will."
Kalinka: "Es gibt genauso, ich meine, ich werde mich mal freuen, wenn in Sommer mal hier Tasse Kaffe trinken – sie will nicht!"
Bernd: "Aber schön wärs, wenn man so: Komm! Los, kommt rüber zum Fußball kieken! Ja? Muss ja nich jeden Tach sein! Zum Wochenende mal oder,…mittwochs wenn denn Championsleague is."
Kalinka: "Aber kannst doch mit der Klaus machen…"
Bernd: "Nein!"
Kalinka: "Aber du gehst nur da, wenn du wirklich etwas brauchst."

Wunschvorstellung: Ruhe und Landgefühl

Zerrbild Vorstadt. Sich raus träumen aus dem Gewusel der City. Die Wunschvorstellung: Ruhe und Landgefühl. Aber bitte mit dem Komfort der Großstadt! Und dann wird es zu langweilig. Und man wünscht sich noch weiter raus.
Bernd: "Und im Sommer sind wir so wie so draußen im Garten."
Kalinka: "Und da ist mehr los da in Kremmen."
Bernd: "Na nich mehr los – aber da sind wir da draußen! Im Sommer. Im Winter sind ja wir ja hier."
Die B 158 rein nach Berlin. Oder Richtung raus. Sie führt unweigerlich durch ein kleines preußisches Straßendorf.
Unterrichtet mich mein Vater. Ich kannte den Begriff bisher nicht.
Man kann sich gut vorstellen, wie das Leben früher hier gewesen sein muss. Alte Feldsteinstraße. Darüber stampfen Traktoren und ziehen blauen Dunst hinter sich her. Milchmann. Sonntags Kirche. Preußisch. Schnörkellos. Heute: glatter Asphalt. SUV´s und Motorräder ballern mit 80 durch das Örtchen. Typisch für viele Dörfer hier in der Gegend.
Wir halten vor einem alten Lehm-Fachwerk-Haus. Gefühlte 200 Jahre alt. Es geht eine kleine Treppe hinunter. Nach dem Öffnen der Tür beginnt eine Welt, mit der man nicht gerechnet hat. Latte Macchiatos stehen vor Jackwolfskin tragenden Vätern und Müttern. Kinderlärm. Jazz fliegt durch den Raum.
Cafebesitzerin Lynn Densmore
Cafebesitzerin Lynn Densmore© Deutschlandradio / Hans-Otto Reintsch
Lynn, die Chefin des Cafés, ist gebürtige Kanadierin. Anfang 40. Und sofort will man fragen: Was hat dich an diesen Ort geführt?
Lynn: "Das fragen so viele! Ich bin auch so lange hier, aber zuerst bin ich mit Rucksack für ein Jahr durch Mittel- und Südamerika gereist… und da habe ich dort einen Ostdeutschen kennengelernt, das war 1991… und dann mit ihm verreist, verliebt und… Und wie die Küche eingerichtet war mit alten Holzlöffeln, die haben so ein langes Leben hinter sich. Ach und dieser Kohleofen im Wohnzimmer –Ich war hin und weg!! Ich war sofort verliebt! In alles. Ich bin geblieben. Ich bin nie wieder zurück geflogen."

Aus Kanada in ein preußisches Dorf

Aus den Weiten Kanadas in ein preußisches Dorf an einer Schnellstraße. An einem neuen Ort ankommen und ein Leben aufbauen.
Ein gewagtes Unterfangen. Da fehlt dann dass bekannte Essen. Die Nachbarn sind wahlweise zu laut oder zu leise, die Straße zu lang und die Hecke nicht hoch genug.
Damit sich etwas bewegt, zumal in der Pampa, bedarf es etwas, das Lynn aus ihrer Pampa mitbrachte. Mut, Pioniergeist und Neugierde. Nicht unbedingt preußische Traditionen.
Lynn: "Ich hatte damals gedacht, wie ich das Café übernommen habe, - oh je, was kriege ich für Gäste? Ich war ignorant damals. Muss ehrlich sagen… Spießergegend! Marzahn!... und ich hatte dann natürlich Gott sei Dank meine Augen war geöffnet!... super nette, sympathische Leute – und die wohnen in Marzahn. Und die wohnen in Hohenschönhausen. Und die sind überhaupt nicht spießig."
Lynn führt durch ihr Lehmsofa. Abstrakte, bunte Bilder hängen an den Wänden. Neonfarbene Katzen, fliegende Batmans. Skizzen. Als hätte ein hochbegabtes Kind gemalt. Die Lampenschirme über den Tischen, ebenfalls Kunstwerke. Tier und Mensch fließen ineinander über zu Fantasiegebilden. Jeder Sitzplatz im Lehmsofa sieht anders aus. Das Café will Begegnungsort, Ausstellung, Museum sein. Und ein Gegenentwurf zum Starbucksallerlei der Einkaufsmeilen in der Großstadt. Nimmt das Publikum das Angebot an?
Lynn: "Das ist eine schwierige Frage… ich bekomme die letzten zwei Jahren ein anderes Publikum hier das Café als vorher. Ich glaube das… viele jüngere Leute waren erst in Lichtenberg, Marzahn, wegen….die hohen Preise die Mieten in Berlin. Ja? So viele von diese so Jüngere…und wir kriegen viele von denen hier als Gäste
Bevor Lynns Leben in die Berliner Vorstadt abbog, tingelte sie durch Städte im ehemaligen Osten des Landes. Sie stammt aus "Kitchener City" in Ontario, Kanada. Fernab ihrer Heimat suchte sie nach einer neuen Lebensform. Und fand sie in einer Vorstadtküche.
Lynn: "Das Café habe ich seit 2003… Von 1993 bis 2003 habe ich überall gewohnt, in Dresden, in Halle, dann eigentlich immer in Prenzlauer Berg, viele verschiedene Jobs gemacht in Gastronomie, nicht in Gastronomie. Und dann hatte ich so einen Kindheitstraum erfüllt, ich habe angefangen mit Catering. Und bei einer Party war jemand dabei, das waren die Vermieter von das Haus hier. Und die haben damals jemanden gesucht… und die haben meine Catering erlebt und haben gedacht: das passt!...ich musste erstmal meine Karte holen Wo ist Falkenberg?"
Falkenberg. Oh, das ist ja gar nicht mehr Ahrensfelde. Ein bisschen wie Kleinstaaterei hier. Dann mal wieder 300 Meter die Straße hoch und schauen, was hinter der nächsten Abbiegung wartet.
Ländliche Tristesse - Ansicht Ahrensfelde
Ländliche Tristesse - Ansicht Ahrensfelde© Deutschlandradio / Hans-Otto Reintsch
Wer ins Rathaus der Gemeinde Ahrensfelde will, muss in den Ortsteil fahren, der so heißt wie die Fünf-Dörfer-Union. Nach Ahrensfelde. Wer den Markplatz sucht, das Herz der Stadt mit Kirche und Rathaus und so, muss raten. Oder umdenken. Muss fragen. Auf der zugestauten Dorfstraße, die nach Berlin führt und B 158 heißt.
Also ein Stop-and-go-Auto anhalten. Scheibe runter. Sind sie von hier? Im Radio Peter Fox und das Haus am See. Kein Quatsch.
Wo ist denn der Platz mit Kommen und Gehen, der Markt, wo alle irgendwo hin müssen, mit Brunnen und Ratskeller und Geschäften?

Pflasterwege - wie frisch gesaugt

Der Kiesplatz verrät das Reißbrett, auf dem er entstand. Pflasterwege wie frisch gesaugt, seitlich gesäumt von armdicken Bäumchen, frisch gestutzt. In exakt gezirkelten Pflanzkreisen. Wahrscheinlich irgendwann Platanen.
Wir wollen zum Bürgermeister. Ins Rathaus.
Wir sind zu früh. Warten. Zu früh ist auch unpünktlich. Da sind wir Preußen.
Zwei Gebäude markieren ein offenes Rechteck. Stehen sich 30 Meter gegenüber und haben nichts miteinander zu tun. Dreistöckig mit Putz und Glas und grauem Zinkblech. Viel Licht ergießt sich in die Ordnung am Platze. Nicht schlecht. Aber kein Grund zu bleiben.
Links rotbraunes Blendwerk. Klinker. Rechte Winkel, harte Kanten. Verschlossene Türen. Genormte Schrift am Glaseingang: "Ortsteilzentrum. Seniorentreff. Agentur Ehrenamt der Gemeinde Ahrensfelde." Menschenleere Flure. Glanz und Ruhe.
Der Block steht da wie eine Behörde für "Kultur, Sport und Skat am Lebensabend".
Ein Café ist nirgends. Oder unkenntlich. Es ist früher Nachmittag und still. Keiner kommt, keiner geht. Stahlbänke. Metallpapierkörbe. Laternen am Mast. Abstrakte Chromkunst in Hüfthöhe müht sich um Lockerheit im Geviert. Oder sind das Spielgeräte? Ein Platz wie eine 3D Simulation.
Auch das Rathaus ist hell, still und verschlossen. Mit Atrium und sonnigen Balkonen steht es da wie ein nagelneues Kurhaus für Privatpatienten. Kein Pförtner, aber eine Klingel. Keiner da. Einmal ums Haus. Noch eine Klingel. Nichts passiert. Jetzt bin ich zu spät. Und nervös. Da! Eine Angestellte verlässt das Haus, die Tür fällt automatisch ins Schloss. Nein, bedauert die Frau ohne Schlüssel. Sie komme nicht mehr rein, wenn sie einmal raus ist. Und schwingt sich aufs Fahrrad.
Bürgermeister Gehrke: "Ja äh, mein Name ist Wilfried Gehrke, ich bin 57 Jahre alt. Bin diplomierter Landwirt. Also kein… Verwaltungsmensch… nicht von Hause aus Bürgermeister oder Politiker gewesen… ich habe mich 1993 mit den ersten…freien Kommunalwahlen der Nachwende bereit erklärt, ein Amt zu übernehmen… war dann… zehn Jahre ehrenamtlicher Bürgermeister und durfte…"

Ein durchtrainierter Marathonläufer im Business Look

Der Bürgermeister erscheint wie ein trainierter Marathonläufer im Business Anzug. Korrekt, freundlich, Kämpfertyp. Den Konferenzraum verlässt er erhobenen Hauptes. Der Assistent an seiner Seite trägt beflissen die Papiere und schaut, als wäre hier das Kanzleramt.
Die zurückbleibenden Anzugmänner im Konferenzraum bilden Gruppen wie nach einem Teilsieg. Übergangslos und federnd kommt Gehrke zum Pressetermin. Über seine Vorstadt reden. Da hat er Übung. Allein das Wort Ahrensfelde klingt bei ihm nach Horizont, als zeige ein Landwirt sein frisch bestelltes Feld nach der Saat. Weil, Ahrensfelde, Ja?
Das ist mehr als ein Ort.
Bürgermeister Gehrke: "Genau! Ein ganz eigener Siedlungsraum!"
Wilfried Gehrke steht vor einer Wand mit fünf Wappen. Um die erhitzten Dorfgemüter zu besänftigen, behielt jedes der fünf Dörfer damals wenigstens ein Symbol der Eigenständigkeit. Wappen sind wie Landmarken. Heimat geht von hier bis zum Zaun. Danach beginnt das Fremde. Da kennt ein Landmensch nix. Da kann er richtig schwierig werden.
Auch als ein neuer Ortsname her musste. Schuld am friedlichen Ende der Namensrevolution in der Vorstadt war die Berliner S-Bahn. Damals. Wilfried Gehrke erinnert sich.
Bürgermeister Gehrke: "Wir wollen einen einfachen Namen. Ahrensfelde ist bekannt, die S7 fährt durch Berlin und Ahrensfelde, heißt die. Und da hat die Mehrheit der Bürgerschaft gesagt, dann nehmen wir doch das, da haben wir gleich Werbung, die immer durch Berlin fährt… Ahrensfelde am anderen Ende. Aber: Wir wünschen uns, dass jeder Ort gleichberechtigt behandelt wird… das ist unsere Bedingung der Bürgerinnen und Bürger. Jeder Ort soll seine Entwicklung haben. Soll in seiner Kultur, in seiner geschichtlichen Tradition gefördert werden. In seinem Vereinsleben gefördert werden. Das war die Verabredung der Orte untereinender, um die Namensgebung friedlich, ohne Streit zu gestalten… Jeder Ortsteil hat…sein Wappen. Haben wir extra einen Antrag gestellt, dass jeder sein Wappen behalten kann…. also bei uns sind die Ortsteile, ich sag mal, erlebbar."
Bürgermeister Ahrensfelde Wilfried Gehrke im Rathaus.
Bürgermeister Ahrensfelde Wilfried Gehrke im Rathaus.© Deutschlandradio / Hans-Otto Reintsch
Bürgermeister Wilfried Gehrke hat ein Lieblingswort: Entwicklung. Und Entwicklung heißt bauen. Erschließen, erklären, Widerstände überwinden, planen und bauen. Immer weiter. Denn Berlin verdrängt seine Bewohner nach draußen. Mit den hohen Mieten. Viele wollen nicht nur an den Stadtrand, viele müssen. Immer mehr. Ahrensfelde boomt und brummt und baut. Entwickelt sich.
Bürgermeister Gehrke: "Sie kennen den Druck in Berlin. Hier im Nordosten ist ja das Wohnungsbaugebiet per sé, sage ich mal. Wo hier in Zukunft…dreißig, vierzig Tausend Leute mehr wohnen werden. In unmittelbarerer Nähe sollen, weiß ich nicht, fast zehntausend Wohnungen geschaffen werden. – Berlin hat nun mal diese Entwicklung. Und so eine Entwicklung schwappt auch mal schnell rüber. Und wie schnell die Entwicklung rüberschwappt, haben wir hier in der Gemeinde gelernt. Wir waren 1990 fünftausend Menschen. Wir sind heute dreizehn ein halb tausend Menschen."

Stadtflüchter ziehen in die neuen Siedlungen

Aus dem Boden gestampfte Siedlungen, die zu zwei Drittel aus Stadtflüchtern bestehen. Die zur Arbeit nach Berlin fahren. Voller Berliner, die zur Arbeit in die neuen Gewerbegebiete der Vorstadt pendeln. Tausende. Transitraum Vorstadt. Felder verschwinden, Bauernhöfe, Wälder und Sölle, Vorstädte kommen. Voller Neusiedler, die einen Konflikt mit sich tragen. Sie wollen Freiheit, Weite, ins Grüne, ins stille Land. Die Zeit anhalten. Und haben in Ahrensfelde von Anbeginn Baulärm, Zersiedlung, immer mehr Nachbarn, Enge und Stau vor der Nase. Entwicklung. Jahrelang. Immer diese Widersprüche.
Bürgermeister Gehrke: "Das ist sicher ein Widerspruch…und einige von denen, die jetzt neu hinzugekommen sind, kommen auch raus: Es darf sich nichts ändern! Wenn jetzt da noch die zweite Reihe angebaut wird, dann wird dagegen Sturm gelaufen. Sie selber sind auch in so einem neuen Haus, ja? Und das blendet man aus."
Das verschwindende Dorf. Die ewige Stadt am Horizont. Bei schönem Wetter sieht man den Fernsehturm. Steile These: Der Vorstadtmensch lebt mit dem Hintern im Dorf und mit dem Kopf in der City?
Bürgermeister Gehrke: "Ja! Das würde ich so sagen...Und die sind hier rausgezogen, weil sie das Dörfliche, das Grüne wollten. Bewusst wollten. Vielleicht ihre Kinder auf dem Grünen aufziehen… aber sie sind Stadtmenschen geblieben. Sie wollen die Stadt…Und das hat sich schon ganz früh entwickelt."
Und wie, Herr Bürgermeister, ist es mit Ihnen? Wie haben Sie sich entwickelt? Fühlen Sie sich heute als Land- oder Stadtmensch?
"Wir sind aber keine Stadt. Wir haben kein Stadtrecht."
Ach so? Und vom Gefühl her?
"Also ich fühle als Bürgermeister der Gemeinde als Landmann. Hä ja? Und ich werde auch imme Landwirt im tiefsten Innern bleiben. Und ich habe selber noch ein paar Kühe als hobbymäßig, die hier in der Gemeinde grasen. Ja? Weil… wir haben Entwicklung, einen großen Siedlungsdruck, man muss das mit Köpfchen machen. Ja? Und ich glaube, die Menschen, die hierher gezogen sind, wollen eine gewisse Entwicklung, aber sie wollen nicht Wohnungsbau… um jeden Preis. Immer mehr gehen die Bürger dazu über, auch das Verhältnis zwischen Wohnen, Grün, Natur im Kopf zu haben und sich dafür einzusetzen, dass nicht alles… clean ist und gefegt wird."

Tierheim in Ahrensfelde sieht aus wie ein Bürokomplex

Am Ende eines unscheinbaren Weges erhebt sich etwas. Ein Gebäude. Unwirklich. Fast lebensfeindlich und präzise steht es in der Landschaft. Geschwungen sind die Waschbeton-Platten. Dünne Stelen halten ein Vordach. Ein Weg wird zur Brücke, führt über einen künstlichen See. Klare Linien. Apple-Ästhetik. Was anmutet wie der Bürokomplex eines erfolgreichen Startups, ist das Tierheim in Ahrensfelde. Es ist Wochenende. Besucheransturm. In einem Lagerraum für Spenden stapeln sich Katzenfutterdosen. Zentnerweise Hundefutter und Tierspielzeug. Wie ritualisiert legen Besucher Gaben ab.
Ein Heim in Deutschland mit Vorbildwirkung.
Kaminski: "Also wir haben in der Tat immer mehr Anfragen aus dem Ausland, insbesondere aus dem fernen Osten… einer meiner ersten Drehs war mit einem japanischen Team, und wenn dann da so ein Beitrag über ein Tierheim in Europa läuft, - so was kennen die da gar nicht. Dann macht das natürlich die Runde…ganz viel in Südkorea, da wandelt sich viel, da werden Tiere ja relativ schnell euthanasiert, weil es Tierschutz in der Form gar nicht gibt. Und die kommen ja in der Tat her, wollen wissen, wie das geht… ob der Standards, die wir setzen… Ich glaube, dass der koreanische Besucheranteil in Ahrensfelde gar nicht so gering ist."
Beate Kaminski trägt eine schwarze Kastenbrille. Modell: Nerd. Sie ist die Pressesprecherin des hypermodernen Tierheims. Gleich zu Beginn zeigt sie, wo die meisten Besucher hinströmen. In das Katzenhaus. Das Katzenhaus ist ein heller Bau. Lichtdurchflutet würde ein Makler unter sein Angebot schreiben. Ein schmaler Gang führt an Glasboxen vorbei. Jede Box hat die Größe eines Plattenbau-Wohnzimmers. Plattenbauten, wie sie am Horizont zu erkennen sind, für Menschen.
An manchen Boxen hängen die Namen der Insassen. Elfriede Meier Jankowski – steht über einem Katzenbild mit schwarzem Bärtchen. "Meine Patin" steht kleingedruckt darunter.
Kaminski: "Es ist hypermodern, es ist blitzsauber, es riecht nicht…und es ist trotzdem irgendwo im Grünen, aber irgendwie auch halb in der Stadt. Das heißt, man kann auch diesen ganzen Besuch im Tierheim ein bisschen positiver vermitteln…Es ist kein Hort des Elends. Hat so ein bisschen was von einer Kita, finde ich, von der Anmutung. Sehr friedlich, sehr ruhig…Ganz tolle Stuben mit Terrasse – alles sehr schön."
Es gibt sogar Fußbodenheizung für die Flüchtlinge.
Am Ende des Katzenhauses angelangt wird der Besucher von dem Weg in das Innere der Anlage geführt. Kreisförmig angeordnet befinden sich hier die Hundezwinger. Pitbulls, Stafford Terrier, Schäferhunde, Dackel. Sie kläffen durcheinander. Man schwankt zwischen Respekt, Angst, Ekel und Mitleid. Jedes Tier hat seine eigene Geschichte. Eines eint die Geschichten. Es geht ihnen hier besser als vorher. Wer eben noch vernachlässigt war, bekommt jetzt Gesundheitsluxus. Ohne Antrag bei der Kasse.
Kaminski: "Und hier ist der Reha-Bereich. D.h., hier gibt’s ein Laufband… für Hunde, die vielleicht eine OP hinter sich hatten… die können dann hier Wassertraining machen, schön mit Leckerlies angefüttert, machen die dann hier ihre Runde…oder auch einfach zum Auspowern. Z.B. die Heike ist hier einer der Hunde, die einfach mehr Bewegung brauchen und dann darf Heike aufs Laufband, aufs Wasserlaufband. Und macht das total gerne, ist total glücklich und erschöpft und kann danach Leckerlie und kuscheln und dann ist alles gut."
Pythons, Affen, Schildkröten. Alle leben hier zusammen. In Ahrensfelde. Und zwischen all den Gehegen und Käfigen flitzen Dutzende Menschen umher. Mal Angestellte des Tierheims. Mal sind es Freiwillige. Sie führen Hunde aus, reinigen Ställe und sind einfach da. Für die Tiere.
Kaminski: "Streichelpaten… ist eins unserer großartigen Ehrenämter. Das sind phantastische Menschen, die das machen mit sehr viel Zeit. Die setzen sich dann vielleicht einfach da rein, bringen gerne mal gekochtes Hühnerfleisch mit und so… also eigentlich ist für jeden auch was dabei zum Helfen."
In Ahrensfelde liegt alt und neu beieinander.
In Ahrensfelde liegt alt und neu beieinander.© Deutschlandradio / Hans-Otto Reintsch
Alte Bäume und eine weiße Kirche ragen über die Mauer. Dazwischen eine geschwungene Straße, die mal eine stille Landallee gewesen sein muss. Städtischer Feierabendverkehr. Ein stampfender Traktoroldtimer zuckelt mit 5 km/h, erzeugt eine schwarze Wolke und einen Stau. Nach einem Kilometer ist man wieder im Grünen. Ohne Ahrensfelde verlassen zu haben. Felder. Gärten. Und schon Eiche. Ortsteil von Ahrensfelde mit eigenem Ortseingangsschild. Rechts Felder, links eine Kleingartenanlage. Mit vorstädtischen Wohnhäusern, die viel zu groß erscheinen für die Gärtchen, die mal ein paar Beete und eine Laube hatten. Wohnen im Grünen an der Landstraße. Ortsausgang, tausend Meter und wieder Ortseingang.

Den Besucher empfängt eine bizarre Industrieruine

Mehrow. Den Besucher empfängt eine alles überragende, bizarre Industrieruine. Einstürzender Klinkerbau. Schwarze Balken kreuz und quer. Die alte Mühle. Vor Jahren abgebrannt. Es riecht noch immer nach Rauch.
Mehrow. Der kleinste Ortsteil. 500 Einwohner. Ein Drittel Berliner. Vis a Vis der Mühle hat Torsten Rahlf einen Laden in ein garagenartiges Verwaltungsgebäude hinein gebaut. Landhof Rahlf. Eigene Herstellung. Fleischerladen. Prall gefüllte Auslagen. Würste, Schinken. Überall. Fensterläden groß wie Scheunentore. Kräuterduft und Buchenholz. Der Rauch kommt von hier. Nicht aus der Ruine.
Torsten Rahlf: "Ich bin der Torsten Rahlf. Genau. Und komme aus Ahrensfelde."
Landwirt Torsten Rahlf
Landwirt und Allround-Talent Torsten Rahlf© Deutschlandradio / Hans-Otto Reintsch
Hier geboren, zur Schule gegangen und die Schulfreundin geheiratet. Sein Leben lang hier gearbeitet und gelebt. Wie sich das gehört auf dem Dorf. Unternehmer. 70 Angestellte. Gelernter Brunnenbauer, Feuerwehrmann, Winterdienst, Landschaftsbau. 400 Schweine, tausend Hühner, Fleischerei, Hofladen. Mehr Ahrensfelde geht nicht. Torsten Rahlf, 55. Bekannt wie ein bunter Hund im Dorf. Nein. In der Vorstadt.
Torsten Rahlf: "Na ja, wir sind…schon der Speckgürtel. Ja? Nennen wir den mal Speckgürtel. Wenn sie jetzt hier aus dem Fenster schauen, kann man ja den Fernsehturm sehen… also wir sind schon, ähm, privilegiert. Würde es mal so sagen. Hier zu wohnen - so dicht an Berlin, nä?"
Rahlf isst gern, sagt er, und das sieht man ihm an. Lichtdouble von Dirk Bach. Geerdete Landgestalt mit der hochtourigen Energie eines City-Unternehmers. Sitzt in seinem Büro neben dem Fleischerladen. Es duftet nach Wohlstand. Da, wo er ist, da ist Ahrensfelde. Der Erfolg, der Boom, das pralle Leben. Und der Widerspruch. Der Konflikt der Vorstadt. Oder sagt man Vordorf?
Torsten Rahlf: Na ja,… wir wohnen hier in Mehrow… relativ ländlich, ja? Wir haben keine enge Bebauung. Die Grundstücke sind recht groß. Wir haben auch noch eine bäuerliche Landwirtschaft. Also viele Landwirte haben auch noch eine Tierzucht hier. Man kennt sich. Ja? Und haben auch noch einen Busanschluss… und wir haben natürlich einen wunderschönen Spielplatz… und da trifft man sich, also die Jugend heute mit ihren Kindern oder Oma und Opa und schnackt da und man grüßt sich noch untereinander. Man kennt sich noch. Und wenn mal ein neuer Bürger hier ist, der hier ne Wohnung hat oder ein Häuschen gebaut hat und der nicht grüßt, dann grüßt man den einfach, und dann weiß der auch, beim nächsten Mal, dass er Tach sagen sollte... Is so, ja.
Die Zugezogenen, die Vorstadtberliner, bringen etwas aufs stille Land, das schlecht ins Dorf passt. Und nicht leicht zu beschreiben ist. Vielleicht: Der Berliner bringt seine Anonymität mit. Gewohnt, im Gewimmel nicht bemerkt zu werden und unerkannt sein Ding zu machen. Das funktioniert auf dem Land nicht. Wer aufs Land zieht, muss sich kenntlich machen. Der geht am besten als erstes zum Nachbarn und sagt: Tach, ich bin der Neue. Kann ich was helfen. Sonst geht hier draußen etwas Entscheidendes in die Binsen. Das Landgefühl."

Ein eingefleischter Landwirt und Herzmensch

Torsten Rahlf: "Haben wir jetzt zum Teil schon so! Muss man ehrlich sagen, weil man natürlich neu Zugezogene, die sich hier einen Garten gekauft haben und ein Haus gebaut haben und dann vielleicht doch denken: Also jetzt wohne ich hier und jetzt habe ich hier mein Haus und meine Scholle, Jetzt gibt’s hier auch keine Tierhaltung mehr… ich will meine Ruhe haben, darum bin ich ja aufs Dorf gezogen. Mit die hat man natürlich auch zu tun. Und gerade ich, wo man doch eine Landwirtschaft hat, eine bäuerliche Landwirtschaft – sind die natürlich ganz schön, ähh, na ja. Ja, die sind eben halt, - die könne sich das nicht vorstellen, dass man eben auch ‘ne Landwirtschaft auf dem Dorf hat."
Torsten Rahlf schweigt beredt. In der Mittagszeit wird nicht gemäht, und wenn doch, klärt man das übern Zaun. Tiere stinken. Hunde bellen. Die Ernte muss rein, wenn Wetter ist. Auch nachts und sonn- und feiertags. Das ist Krach, normal, darüber muss man nicht reden, das ist Dorf, das ist ungeschriebenes Gesetz.
Wer es ignoriert, das Gesetz, dem wird Dorf bald zur Verbannung. Zum Schlachtfeld.
Torsten Rahlf, der eingefleischte Landwirt und Herzmensch, erzählt von einer Familie. Zugezogen aus Berlin. Die klagte, weil der Falsche auf dem Trecker saß.
Torsten Rahlf: "Jetzt fährt der noch mit einem Mistwagen bei mir vorbei! Also da habe ich schon sehr, sehr viele Gerichtsprozesse gehabt… könnte Ihnen eine Staatsanwaltschaftsakte zeigen… ich habe jemanden angestellt, der war von den Hoffnungsthaler Anstalten mit nem Handicap. Und er hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche und hat auch eine körperliche Behinderung. Und dem haben wir einen Traktor gekauft. Einen Kleintraktor. Der mit sechs km/h fährt. Und den darf er ja auch ohne Fahrerlaubnis fahren und der beherrscht den ja auch super gut. Und da ging es um Anzeigen und Anzeigen. Bis zur Staatsanwaltschaft… und immer wieder. Und die Staatsanwaltschaft hat das denn auch eingestellt am Ende… Mit sechs km/h. Wie kann das sein. Ja. Muss man ehrlich sagen… sind drei gefüllte Akten. Und die Anzeigen haben noch nicht aufgehört, es geht immer wieder weiter."
Torsten Rahlf steht bei seinen Schweinen. Läufer. Die müssen noch. Seine Wurst, sagt er stolz, geht ans Adlon. Hoflieferant, genau. Schaufelt Brot und Körnerbrötchen aus Berlin über den Elektrozaun. Die Koppel sieht aus wie nach der Schlacht von Verdun. Ein Neubau in Sichtweite. Da wohnt sein Sohn. Ansonsten niemand. Niemand, der sich beschwert. Und wenn doch, sagt Vater Rahlf, dann wird er enterbt. Und lacht scheppernd. Und es stellen sich ja auch nicht alle Neusiedler so an.
Thorsten Rahlf füttert seine Schweine.
Thorsten Rahlf füttert seine Schweine.© Deutschlandradio / Hans-Otto Reintsch
Torsten Rahlf: "Nee! Die bringen natürlich auch Leute in die Gemeinde! Wie sie auch gebraucht werden…in der Feuerwehr oder in der Verwaltung oder die haben ihre Arbeitsplätze hier, denn wir haben ja auch das Gewerbegebiet in Blumberg. Oder in Lindenberg."
Und am Wochenende, sagt der alte Ahrensfelder, fahren die Neusiedler, die, die sich für eine viertel Million ein Haus auf dem Lande gebaut haben, rein. Also manche. Nach Berlin. In den Garten.
Torsten Rahlf: "Haben an der Müritz oder sonst irgendwo einen Wohnwagen stehen und fahren denn da hin. Oder haben eben eine Terrasse hinten dran und beschweren sich dann, wenn der Nachbar nebenan grillt, weil der Qualm rüberzieht. Wollen wir mal ehrlich sein, ist nicht überall so, aber die Probleme da hin werden schon größer."
Torsten Rahlf steht bei seinen Hühnern. Freilaufende. Dicht gedrängt unter einem Sonnendach. 1400 Ahrensfelder. Hühner. Die Metropole Berlin, was ist das denn. So weit weg wie Borneo. Und nah wie die Schwiegermutter.
Torsten Rahlf: "Man sagt: Wesste, wir wollen mal heute schön essen fahren! Wo fahren wir schön essen? Muss man schon in die Stadt fahren. Ich will nicht sagen, dass wir hier keine guten Gaststätten haben. Aber die sind meistens dann auch zu, weil sie nicht auf haben. … Ist schon schwierig. Und daher haben wir hier eigentlich alles. Also ich muss nicht in Urlaub fahren! Sage ich immer. Ich kann jetzt meine Schwiegermutter verstehen. Die hat immer gesagt: Mensch, wat fahrt ihr denn schon wieder weg. Det is doch hier so schön! Ja? ... Mensch bleibt doch bloß mal zu Hause, was Fahrt ihr denn weg! Is doch so schön hier! Und jetzt langsam kann man sie verstehen."
Und deshalb erübrigt sich die Frage. Landmann oder Stadtmann. Da kommt man ja ganz durcheinander. Ahrensfelde halt. Vorstadt.
Torsten Rahlf: "Bin schon Landmann. Aber ich muss auch sagen, ich kenne mich in der Stadt auch aus! (lacht) Aber ich fühle mich schon als Städter! Äh, als Landmann, sorry."

Showbusiness in der Provinz - wo war dieses Berlin noch mal?

Im Ortsteil Mehrow reicht ein 360 Grad Schwenk, um in der Vorstadt Ahrensfelde aus der Welt zu fallen. Landstraße, Industrieruine, Feldsteinkirche, Fuhrpark, Friedhof, Restaurant, Bushaltestelle, Spielplatz, Fleischer. Landhof Rahlf. Gelackte Wohnbauten neben bröselnden Werkhallen. Alles auf engstem Raum, in den Lücken freie Sicht auf Felder. Keine Stadt, kein Dorf. Siedlungsraum in Arbeit. Hinterm Spielplatz ein Festzelt. Groß wie eine Stadthalle. Es dröhnt. Mehrow hat sein eigenes Varieté. Seit über zehn Jahren eine Institution im Siedlungsraum. Initiator, Prinzipal, Hauptdarsteller und Sponsor: Torsten Rahlf. Heute ist Premiere. Titel der neuen Show: Himmel und Hölle. Der Vorstadt-Landwirt und Tausendsassa steht geschminkt auf der Bühne wie ein Transvestit mit Dreizack. Der Boss gibt den moderierenden Teufel. Ein dicker Engel schwebt vom Bühnenhimmel.
André (Engel): "Geil, wa? Wat die alles für mich dies Jahr gemacht haben! (Applaus) Ja, Freunde! Hervorragend! Muss ich ein Lob an die Technik geben! Die haben monatelang überlegt, wie kriege ich 85 Kilo hier hoch! (lachen) Ja, und? …"
500 Zuschauer kommen und gehen. Es werden immer mehr. Sanfte Riesen kontrollieren die Internetbuchungen und verteilen gelbe Armbänder. Auf der Bühne moderiert der Satan Torsten Rahlf ein vierstündiges Programm aus Gaudi, Gags und guter Laune. Die Tänzer, Pantomimen, Musiker und Witzerzähler sind die Leute von neben. Laienspiel. Viel Improvisation, viel Durcheinander, viel Playback. Partystimmung, Kindergeburtstag, Bauerntheater in der Vorstadt Ahrensfelde.
Irgendwie schlummert im Vorstadtbewohner ein ausgeprägter Drang nach den Brettern, die die Welt bedeuten. Und der Tontechniker kennt nur eins. Anschlag.
Die Vorstadt lässt es krachen. Nach Wolfgang Petry knallt Blixa Bargeld aus den Boxen. Die Bardamen tragen bunte Strähnchen, der Toilettenwagen Hochbetrieb, die Kinder spielen Klatschereime, das Dorf amüsiert sich wie Bolle und die Bratwurst hat Adlonqualität.
Die Vorstadt Ahrensfelde gibt sich die Ehre. Wo war noch mal Berlin?
Vorstadt, könnte man meinen, ist wie ein Zelt voller Engel und Teufel. Ein temporärer Ort, der nach der Show weiterzieht. Transitraum und Durchlauferhitzer. Käme Helmut Kohl herabgeschwebt, würde er wahrscheinlich sagen: Sag ich doch. Blühende Landschaften.
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