Stadtflucht wegen Corona

Neustart in den Green Mountains

23:34 Minuten
Ein Auto in den grünen Hügeln von Vermont.
Aus der Stadt zieht es sie nach Vermont auf das Land: die digitalen Nomaden. © Unsplash / Sam Burriss
Von Margarete Wohlan · 10.02.2021
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Vermont im Norden der USA gilt als Vorbild im Umgang mit Corona. Es gelten Maskenpflicht und Abstandsregeln, es gibt kostenlose Coronatests für alle. So gilt der kleine Bundesstaat mittlerweile als Zufluchtsort für Stadtbewohner aus dem ganzen Land.
Eine Auskunft, die man seit der Coronapandemie in Vermont häufig hört: "Nein, ich bin nicht von hier." Der Subtext der kleinen Umfrage lautet: "Aber jetzt lebe ich hier."
Es ist Anfang Januar am Eingang von "7-Eleven", einem Lebensmittelladen mit angeschlossener Tankstelle in Winhall. Das Dorf im Süden Vermonts mit seinen 769 Einwohnern liegt im Skigebiet des Bundesstaates und lebt normalerweise von Touristen. Doch die bleiben seit knapp einem Jahr aus – stattdessen hat sich seit dem Ausbruch der Pandemie die Zahl derjenigen, die hier ihren Erstwohnsitz anmeldeten, verdoppelt.
Kim Wohler lebt seit über 25 Jahren in Winhall. Sie arbeitet als Immobilienmaklerin. Wenn sich für eine Branche die Situation durch Corona verändert hat, dann für diese. Kim ist gerade dabei, mit ihren Mitarbeitern in ein größeres Büro umzuziehen, volle Umzugskartons versperren den Weg, deshalb bittet sie, das Interview draußen zu führen.

Das Immobiliengeschäft boomt

"Ich habe in diesem Jahr doppelt so viele Häuser verkauft wie sonst. Und viele sagen mir, dass sie hier etwas suchen, um Covid zu entfliehen. Die Schulen sind voll, Eltern melden ihre Kinder an, denn sie wollen sich hier langfristig niederlassen. Das ist sicher. Es sind sehr bewusste Entscheidungen. Es geht nicht um eine Ferienwohnung, sondern um ein echtes Zuhause. Ich habe hier immer schon viele Zweitwohnungen verkauft, etliche von meinen jetzigen Kunden kommen seit Jahrzehnten hierher, um Urlaub zu machen. Aber das änderte sich 2020 komplett. Die Familien, die bisher nur saisonbedingt kamen, wollen sich nun niederlassen."
Dass das möglich ist, hat auch mit der Digitalisierung zu tun. Viele Zugezogene kommen aus der Technologie- und Finanzbranche und arbeiten nun schon seit einiger Zeit im Homeoffice.
"Sie können mobil arbeiten, weil die Unternehmen es nun zulassen. Sie müssen also nicht von hier aus täglich nach Boston oder New York zur Arbeit fahren. Aber auch die, die weiter weg wohnen, bringen Jobs mit. Homeoffice macht echt den großen Unterschied aus!"

Homeoffice auf dem Land

Und die Bedingungen für die digitalen Nomaden seien in Vermont mittlerweile richtig gut, sagt Kim. "Nach dem 11. September 2001 kamen schon mal Leute her. Aber das waren nur welche aus New York, und vor 20 Jahren hatten wir noch nicht so ein leistungsfähiges Internet wie jetzt, das einem ermöglicht, von zu Hause zu arbeiten. Jetzt ist das möglich – von Winhall über Dorset bis Landgrove, die ganze Region ist gut ausgestattet."
Immoblienmaklerin Kim Wohler in Vermont.
Für sie laufen die Geschäfte gut, trotz oder gerade wegen Corona: die Immobilienmaklerin Kim Wohler.© Deutschlandradio / Margarete Wohlan
Für die Einheimischen sind die Zugezogenen eine Herausforderung, in vielerlei Hinsicht. Der Recyclinghof von Winhall wurde bereits 1976 eröffnet, zunächst als Mülldeponie, aber schon bald darauf wurde auch Mülltrennung eingeführt. Scott Bushee ist der unumstrittene Chef hier. Korpulent, bodenständig, in sechster Generation ein Vermonter, wie er sagt. Seit 20 Jahren arbeitet er bei der Stadt. Sein Markenzeichen: cranky Dude, übersetzt soviel wie schrulliger Typ. Die Einheimischen wissen ihn zu nehmen – nicht so die Zugezogenen.
"Man muss wissen, dass es dort, woher sie kommen, ganz anders ist. Die Vereinigten Staaten haben keinen nationalen Standard für Recycling, sogar von Stadt zu Stadt ist es unterschiedlich. Und deshalb haben sie keinen Schimmer, was angesagt ist. Aber sie kapieren es. Wenn sie das erste Mal hier auftauchen, kümmern wir uns um die Anmeldung, helfen ihnen, die Formulare auszufüllen, einer von uns geht mit ihnen wortwörtlich in den Müll, und wir erklären detailliert: welcher Container ist wofür. Ist ja groß hier. Ich beantworte ihnen gern den ganzen Tag ihre Fragen, aber danach müssen sie es wissen – und wenn nicht, dann lernen die mich kennen! Denn es gibt eine Sache, die ich gut kann: brüllen. Wenn sie es also nicht kapieren, und ich sehe, dass sie was falsch machen, dann hören sie das quer über den ganzen Hof!"

Zwei Welten prallen aufeinander

Seit spätestens letztem Sommer hat sich seine Arbeit sehr verändert. Während er vorher immer Zeit zum Plaudern hatte – denn in Winhall kennt jeder jeden, und der Recyclinghof war immer der Ort, den man aufsuchte, um Neuigkeiten zu erfahren –, ist dafür nun keine Zeit. Denn seit dem letzten März kamen mindestens 250 Haushalte hinzu, erzählt Scott Bushee.
"Sie haben mich ja in meinem Büro gesehen. Wir sind zu dritt. Früher, vor dem Ansturm, hatte einer Dienst am Tag. Während der Urlaubszeit kam ich dazu, weil es dann voller war, dann waren wir zu zweit. Und jetzt habe ich zusätzlich zu mir zwei Mitarbeiter während der Woche und einen dritten am Wochenende – nur für das Tagesgeschäft! Und wo wir den Unterschied so richtig sehen, ist bei den Containern, wie häufig die geleert werden! Dieser hier ist ein 30-Kubikmeter-Container, da gehen fünf bis sechs Tonnen Zeug rein. Der wurde früher alle vier bis fünf Wochen geleert, jetzt wird er alle zwei Wochen geleert."
Das, was Scott Bushee am meisten zu schaffen macht, ist die so ganz andere Mentalität der Zugezogenen. Wie ein kleiner Kulturschock, sagt er, und glaubt: Sie kommen hier nur klar, wenn sie einen Gang runterschalten und sich anpassen.
"Ich sage den Neuen, ihr kriegt hier nicht etwas dadurch, dass ihr mit dem Kopf durch die Wand geht! Und das andere ist: Vermonter sind berüchtigt dafür, dass Geld uns nichts bedeutet. Ihr könnt hier soviel Geld hinlegen, wie ihr wollt. Damit kommt ihr nicht schneller dran! Wir machen, was wir machen. Wir haben, was wir haben. Und ich weiß, dass es manche frustriert! Denn dort, wo sie herkommen, regiert das Geld. Ich möchte mein Haus streichen lassen, wenn du es sofort machst, gebe ich dir 5000 Dollar extra. Aber hier funktioniert das nicht so. Wir haben unsere Kunden, und die bearbeiten wir der Reihe nach. Auch hier auf dem Recyclinghof. Einmal betreute ich einen Kunden, da rief jemand von hinten: Tschuldigung, ich habe nur eine Frage! Warten Sie, Sie sind noch nicht an der Reihe! Sie müssen sich gedulden! Das ist anstrengend."

Corona wird hier ernst genommen

Normalerweise würden solche Mentalitätsunterschiede zu Grabenkämpfen führen – nicht so in Coronazeiten. Denn die Pandemie legt hier den Alltag lahm. Corona wurde hier von Anfang an ernster genommen als im Rest des Landes, nicht nur von den etwa 620.000 Einwohnern des Bundesstaates, sondern auch von ihrer Regierung. Es gibt kostenlose Tests, auch für Besucher. Maskentragen und Abstandhalten sind Pflicht, an die sich die meisten halten.
Diese Einsicht liegt auch an dem Selbstverständnis der Vermonter, die sich schon immer als anders und eigen gesehen haben. Schon allein optisch: Es gibt keine Werbetafeln entlang der Straßen und Autobahnen wie sonst in den Vereinigten Staaten. Vermont war auch der erste Staat, der das Flaschenpfand einführte, und der letzte, der einen Walmart bekam. Und nun eben die Coronaregeln.
Bushee mit der Autorin.
Bei seiner Arbeit auf dem Recyclinghof muss er den Neulingen immer wieder alles erklären: Scott Bushee mit der Autorin Margarete Wohlan.© Deutschlandradio / Margarete Wohlan
Die tägliche Corona-Pressekonferenz der Vermonter Regierung, angeführt vom Governor Phillip Scott: Auf Youtube und im Radio kann jeder die neusten Entwicklungen und Beschlüsse verfolgen, Journalisten können nachfragen. Der Regierungschef von Vermont – ein Republikaner – hat die Pressekonferenzen gleich zu Beginn der Pandemie Mitte März eingeführt und hält sie bis heute aufrecht.

Vermont wächst und wächst

Michael Pieciak ist für die Finanzmarktregulierung von Vermont zuständig und häufig bei der Pressekonferenz dabei. Als Mann für die Statistik kennt er die niedrigen Coronafallzahlen von Vermont im Vergleich zum Rest der USA und ist stolz darauf. Genauso stolz ist er aber auch auf die steigende Zahl der Einwohner seit der Pandemie.
"Bis dahin waren wir ein Bundesstaat, in dem die Bevölkerungszahl stagnierend bis rückläufig war. Nur Rentner kamen her. Und als die jungen Leute und Familien hierherzogen, mit gutem Einkommen, war das für unsere Ökonomie natürlich gut. Wir haben aber auch deshalb regelmäßig die Einwohnerzahl erfasst, um wegen der Pandemie vorbereitet zu sein. Denn für 630.000 Einwohner müssen wir weniger Krankenhausplätze haben, als wenn es da über 50.000 mehr gibt, die eventuell krank werden."
Die Zugezogenen verändern die Wirtschaft. Das sei bereits jetzt schon abzusehen, sagt Michael Pieciak. Einfach deshalb, weil sie ihre Jobs mitbringen.
"Das ist für uns gut, denn es fördert die Diversifikation unserer Wirtschaft. In der Vergangenheit hatten wir in Vermont nur einige wenige große Arbeitgeber wie IBM oder General Electrics, und wenn die umziehen oder schließen, hat es einen wirklich großen Einfluss auf die Wirtschaft hier. Aber wenn nun viele Menschen ihre Jobs mitbringen, dann verändert das alles. Außerdem sind die Jobs im Homeoffice meistens gutbezahlte Jobs, und das bedeutet ein höheres Steueraufkommen hier, was auch gut ist. Ich finde, es braucht jetzt ein Umdenken bei den Arbeitgebern, weil die Leute nicht mehr am selben Ort leben und arbeiten wollen – und das ist möglich, mit dem Internet, das bei uns vorher schon Priorität gehabt hat! Und nun gibt es auch noch die Aussicht, dass der weitere Ausbau auf nationaler Ebene finanziert werden soll."

Die Bäume, der Himmel, die Sterne

Ein typischer Sound in Vermont: Wind und ein einsam bellender Hund. Im Winter kommt der Schnee hinzu, der eine Märchenlandschaft hinzaubert. Das, aber nicht nur das, haben Sienna Martz und Marc Bauman hierhergelockt. Sie leben zurückgezogen, fünf Kilometer von dem nächsten Dorf entfernt und etwa zwei Stunden nördlich von Winhall. Das Paar ist letzten August aus New York hierhergezogen.
"Ehrlich gesagt, es überwältigt mich hier. Es gibt Momente, wo es mich umhaut: Wow, ich lebe hier! Diese Bäume, der weite Himmel, diese vielen Sterne, die man sieht – verglichen mit den Gegenden, wo ich vorher gelebt habe, ist das einfach irre. Manchmal fühlt es sich surreal an. Aber es ist komplett erfüllend."
Die beiden sind Künstler, wollten schon lange weg, Natur als Rückzugsraum. Doch erst die Pandemie machte es möglich. Auch wenn es nicht einfach war, etwas Passendes und Preiswertes zu finden, weil plötzlich alle wegwollten. Aber für ihre Arbeit ist Corona ein Glücksfall.
"Ich glaube, es ist eine sehr gute Zeit, um Künstler zu sein. Denn früher musstest du viel unterwegs sein, um Sammler zu treffen, Galerien zu besuchen, deine Arbeit zu pushen – aber jetzt mit Internet und Social Media kannst du ein erfolgreicher Künstler sein und überall von anderen inspiriert werden, überall auf der Welt, solange du Internet hast."

Kunst geht auch digital

Ihr positives Fazit hat mit Vermont zu tun, aber auch mit ihrer Kunst. Die beiden präsentieren ihre Arbeit auf verschiedenen virtuellen Plattformen und erfahren während der Pandemie eine größere Nachfrage als sonst. Ihre Skulpturen, Deko, Wandschmuck – abstrakt, aber inspiriert durch die Natur – sind Kunst für zu Hause. Außerdem ist das Leben in Vermont um ein Vielfaches günstiger als in New York.
Wir stehen draußen, vor ihrem Haus, mit Abstand und Maske. Ich frage, wie groß der Kontrast zwischen ihrem Leben vorher und jetzt ist, und ob es leicht ist, mit den Vermontern in Kontakt zu kommen. Es scheint, als hätten sich die beiden schon öfter darüber unterhalten.
"Absolut. Wir lebten in Kingston, New York. Dort ist es sehr industriell, mit einem ziemlichen Nachtleben und sehr vielen Künstlern. Während der Pandemie bekamen wir Angst, um ehrlich zu sein. Es leben dort viel mehr Menschen als in Vermont. Allein Ulster County, wo wir lebten, hatte genauso viele Covidfälle wie ganz Vermont! Aber es ist schon eine herausfordernde Zeit, um umzuziehen. Wegen der sozialen Distanz, jeder bleibt zu Hause. Es ist sehr schwer, mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen."
Siena und Marc vor dem Haus.
Begeistert von der Natur in Vermont: Siena und Marc vor ihrem neuen Haus.© Deutschlandradio / Margarete Wohlan
"Auf dem Land gibt es generell eine größere Fremdenfeindlichkeit, und die Pandemie hat das verstärkt, nicht nur hier. Aber ich finde es normal. Das ist die Art, wie Menschen auf Angst reagieren."
"Wir haben immer noch das New Yorker Autokennzeichen und sind damit eine ziemliche Zielscheibe, wenn wir irgendwo langfahren oder parken."

Fremd, aber sicher

"Die meisten Menschen hier reagieren ablehnend darauf, und die, die Fremde ablehnen, zeigen es hier stärker als die in New York."
"Ich fühle mich hier dennoch viel sicherer. Die Menschen befolgen hier viel konsequenter die Maßnahmen. Alle tragen Maske, halten den Abstand ein. Was denkst du?"
"New York ist ziemlich arrogant. Die Menschen hier nehmen den Virus wirklich ernster. Aber ich glaube, die wenigen Fälle sind eine Kombination daraus und aus der geringen Bevölkerungszahl. Es ist alles soweit auseinander, dass man den Abstand gut einhalten kann."
Wie auch immer – Vermont scheint in der Bekämpfung der Coronapandemie etwas richtig zu machen und profitiert davon. Für Scott Bushee, den Chef der Recyclinganlage in Winhall, hat die Sache zwei Seiten, auch eine gute:
"Ich habe grundsätzlich nichts gegen sie, denn ich weiß, dass das die Gemeinde wachsen lässt. Die jüngeren sind meiner Meinung, aber die älteren, die hier schon ewig leben, die sind natürlich dagegen. Sie sind damit nicht aufgewachsen. Für sie ist es schwierig. Da müssen sie aber durch. Sie können stampfen und schreien, aber das wird nichts nützen, denn es wird sich hier mit der Zeit etwas ändern."
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