Stadtarchiv Stolberg nach Hochwasser

Rettung für das Gedächtnis einer Stadt

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Ein Helfer des Technischen Hilfswerks geht durch das überflutete Stadtarchiv in Stolberg.
Das Stolberger Stadtarchiv befand sich im Keller und war somit dem Hochwasser nahezu schutzlos ausgeliefert. © picture alliance/dpa | Marius Becker
Von Cornelia Wegerhoff · 24.07.2021
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In Stolberg bei Aachen ist das Gedächtnis einer ganzen Stadt abgesoffen. Freiwillige und Kollegen aus der Region packten an, um die ältesten Dokumente zu retten. Aus Köln kam sogar eine Art Erste-Hilfe-Container für Kulturgüter.
Weiter bergen, alles reinigen – das stand auch heute wieder auf dem Plan von Christian Altena. Seit der Hochwasserkatastrophe teilt er ihn täglich per Facebook-Post mit seinem Helferteam. Der 40-Jährige ist Stadtarchivar von Stolberg bei Aachen und seit dem Unwetter vergangene Woche im Dauereinsatz. Der Vichtbach, der sich sonst so idyllisch durch die Altstadt schlängelt, hatte sich durch Starkregen in reißende Fluten verwandelt.
"Das ist einfach für mich seit Mittwochabend der pure Horror gewesen", sagt Altena. "Also ich setze mich ohnehin schon als Archivar der Stadt Stolberg, meiner Heimatstadt, mit Herz und Seele für das Archiv ein. Und dann sehe ich das regelrecht absaufen. Also das ist einfach Katastrophe pur."

Die ältesten Dokumente konnten gerettet werden

Das Wasser stürzte durch die Stolberger Innenstadt und auch ins Rathaus. Ausgerechnet in den Kellerräumen lagerten dort Gemeindeakten, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen: alte Fotos, Stadtpläne, Literatursammlungen wie historische Zeitungen und Stolberger Vereinsarchive. Als Historiker erforscht Christian Altena diese Dokumente, nutzt sie, um etwa bei pädagogischen Projekten die Erinnerungskultur in Stolberg zu stärken.
Als das Hochwasser kam, versuchte er noch manches retten: "Zusammen mit einigen Mitarbeitern konnten wir einige Akten des Kernbestands sowie die ältesten Dokumente des 17. und 18. Jahrhunderts bergen." Auch Fotos aus der Kaiserzeit und kostbare Stiche aus Stolberg, im Rheinland als "Kupferstadt" bekannt, konnten noch in Sicherheit gebracht werden.

Stolberger gründen Initiative zur Rettung des Archivs

Doch dann drohte Lebensgefahr: Durch mögliche Stromschläge und das Wasser. Der Keller des Stolberger Rathauses lief voll. Das Hochwasser flutete sogar auch noch das Erdgeschoss. Das Bild im Stadtarchiv am nächsten Tag: "Abfall, Dreck und Schlamm. Ein unglaubliches Chaos aus den Akten. Die massive Rollregalanlage war verschoben, Teile waren verbogen. Das hatte ich mir wirklich nicht vorstellen können, dass die Wasserkräfte solche Kräfte dort auswirken", berichtet Altena.
Selbst die drei Außendepots des Archivs an anderen Stellen von Stolberg wurden überschwemmt. "Zuerst der Albtraum und dann im Grunde Achterbahn der Gefühle: Also dass die Stolberger eine Initiative, eine Facebook-Gruppe gegründet, dass sie sich bei mir gemeldet haben auf allen Kanälen, dass man sagt: Wie können wir helfen? Wie geht es jetzt weiter? Das war fantastisch."

Kölner Stadtarchiv kommt mit Kulturschutz-Container

Christian Altena, der das Archiv in Stolberg alleine betreut, ist aber auch gut vernetzt mit Kolleginnen und Kollegen. Und so schickte das Aachener Stadtarchiv für eine Woche ein Hilfsteam. Das Kölner Stadtarchiv und die Kölner Feuerwehr kamen mit ihrem eigens für solche Katastrophenfälle entwickelten Kulturgutschutz-Container. Nadine Thiel, Restauratorin und Leiterin der Bestandssicherung des Kölner Stadtarchivs, erklärt:
"Der Abrollcontainer ist knapp sieben Meter lang, 2,50 Meter breit und auch hoch. Und darin befindlich – auch witterungsunabhängig – die Arbeitsplätze für die Dokumentation, die Reinigung und die Verpackung, also quasi die Erste Hilfe für Kulturgut."

Schockgefrieren, um Zersetzungsprozesse zu stoppen

Bundeswehr und Technisches Hilfswerk packten mit an. Mit Hilfe einer Menschenkette wurden die durchnässten und schmutzigen Dokumente aus dem Stolberger Stadtarchiv zum Container befördert. Stück für Stück wurden sie von zwei Restauratorinnen aus Köln gesäubert, in Folie verpackt und schockgefroren.
"Organische Materialien wie Papier, Leder, Pergament würden natürlich durch Schimmel zersetzt. Die Umgebungsbedingungen und vor allem auch der Schmutz sorgen dafür, dass Mikroorganismen ganz schnell natürlich einen Nährboden haben. Und das kann man durch das Einfrieren stoppen", erklärt Thiel. Die Archivarien aus Stolberg kommen nun in spezielle Vakuumkammern, wo sie gefriergetrocknet werden.
"Wir werden das für sie hier in Köln trocknen können. Aber nicht nur wir, sondern die Kollegen aus dem Bundesarchiv in Koblenz haben da schon ihre Hilfe angeboten. Man verschafft sich damit Zeit. Insbesondere wenn man unfassbar viele Mengen hat, so wie jetzt in Stolberg oder auch in anderen Archiven oder betroffenen Bibliotheken."

Ein Stadtarchiv gehört nicht in den Keller

In Köln habe man selbst aus bitteren Erfahrungen lernen müssen, so Nadine Thiel. 2009 war dort das Stadtarchiv eingestürzt. An der Restaurierung des betroffenen Kulturgutes wird bis heute gearbeitet. "Hätte ich diesen Container nicht, kriege ich das Archivgut von den Rettungskräften und weiß gar nicht wohin", sagt sie. "Ich lege die auf die Straße und verteile die da. Mit dem Container habe ich eine Möglichkeit, mich sofort darum zu kümmern und sie auch zu verbringen und auch zu lagern."
Der Stadtrat von Stolberg hatte erst vor wenigen Wochen einen Neubau des Archivs, ein sogenanntes "Historicum", beschlossen. Die Umsetzung der Baupläne sei nun dringender denn je, mahnt Stadtarchivar Christian Altena: "Aus archivfachlicher Sicht kann ich natürlich nur befürworten, dass wir an diesem Konzept festhalten, dass wir also in Zukunft wie geplant sicher vor Hochwasser sind und ein adäquates Konzept haben für das Archiv, wie es bisher nicht der Fall ist."

Auch ohne drohende Naturgewalten gehöre ein Stadtarchiv nicht in einen Keller: "Im Grunde ist dieses Archiv ein Gedächtnis der Stadt und daher von immenser Bedeutung."
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