Stadt Metamorphosen - Kulturlandschaft im urbanen Raum
Die Stadt bahnt sich ihren Weg durch die Natur: Neubausiedlungen, Einkaufscenter, Verkehrsnetze, Parkanlagen. Doch was ist Stadt, was Natur? Eine Metamorphose ist im Gange, die Planer vor neue Aufgaben stellt: Wie kann das Bild der Stadt gewahrt werden? Und was geschieht mit den innerstädtischen Freiräumen, die keiner mehr will?
Eigentlich darf man den Elektrozaun nicht übersteigen. Dabei sieht das, was dahinter ist, zunächst harmlos, verwunschen aus: Die Gräser wiegen sanft im Wind, das Laub raschelt. Zwei Männer durchstreifen das Gebiet. Der Eine trägt einen Tropenhut mit der Aufschrift "Tansania". Es ist heiß, und das Gelände ist groß. 35 Hektar, sagt Uwe Knöfler - das entspricht etwa 50 Fußballfeldern.
Früher machten hier russische Soldaten Schießübungen. Heute grasen Uwe Knöflers Rinder und Pferde gemütlich vor sich hin. Es sind gewaltige, schöne Tiere. Schwarze Heckrinder mit riesigen Hörnern, wie man sie aus den spanischen Stierkampfarenen kennt. Und die sandfarbenen Wildpferde mit ihrer aufrechten Mähne und den zarten Streifen, die an ihre Vorfahren das Zebra erinnern.
Ein bisschen ist es wie in der ostafrikanischen Savanne. Aber Uwe Knöfler und sein Mitarbeiter Günther von Szombathely stehen inmitten des Plattenbaugebiets von Leipzig-Paunsdorf. Um sie herum die Hochhauskulisse. Im Hintergrund rauscht die Autobahn. Ein landschaftliches Idyll? Für Uwe Knöfler auf jeden Fall.
Für viele Andere nicht, sagt der Geograf und Gesellschaftswissenschaftler Ulrich Eisel:
"Wenn wir von Landschaft reden, dann reden wir von einem organisch gewachsenen, harmonischen, wohl überschaubaren Gebilde: Ein Wiesental mit einem Bach, ein Waldrand oder der Rheingau ist eine Landschaft. Und jeder weiß, was daran das Wertvolle ist: nämlich eine ganz spezifische Eigenart, die nirgendwo anders auftritt, und die vor allen Dingen organisch gewachsen ist. Sie hat von innen heraus Kraft entfaltet und ist dann zu einem schönen Gebilde geworden."
Das Elbtal oder die sanften Hügel der Uckermark - abgeschlossene Naturräume, über Jahrhunderte entstanden, die sich in jedem Kopf mit dem Begriff "schön" verbinden. Ein Idyll, das seinen Ursprung in jenem "Arkadien" hat, das der Dichter Vergil vor 2000 Jahren in seinen Hirtengedichten beschrieb.
Eisel: "Das, was wir da als Emotion in unserem Herzen tragen - als landschaftliches Gefühl - das entspricht einem kulturellen Schema, was im Abendland geboren wurde: nämlich das Arkadische Ideal. Insofern hängt da etwas Objektives drin. Das ist die Idee der schönen Landschaft. Die besetzt uns alle."
Arkadien ist weit mehr als nur ein schöner Ort. Es ist Sinnbild für das Paradies: ein Fluchtort, der frei ist von gesellschaftlichen oder politischen Problemen. Ein Ideal, das sich bis heute mit schöner Landschaft verbindet.
Mit dem künstlichen Gebilde einer Stadt lässt sich diese Idee nicht vereinbaren. Der ehemalige Truppenübungsplatz, das Tagebaurestloch oder das stillgelegte Bahnareal: keine idealen Landschaften also, sondern nutzlos gewordene Restflächen der modernen Zivilisation, die allein auf Wachstum, Produktion und Sicherheit ausgerichtet war.
Uwe Knöfler ist Projektleiter des Paunsdorfer Beweidungsprojektes und Geschäftsführer der Primigenius Naturschutz- und Landschaftspflege GmbH. Die Stadt Leipzig kam auf ihn zu, weil sie die Pflege eines Landschaftsschutzgebietes nicht mehr bezahlen konnte. Da schickte Knöfler seine Rinder und Pferde - "Linchen" und wie sie alle heißen. Es sind extrem robuste Tiere, die an 365 Tagen im Jahr hier - zwischen Autobahn, Hochhäusern und Gewerbegebiet - grasen.
Viele seltene Tier- und Pflanzenarten haben sich auf dem ehemaligen Militärgelände angesiedelt. Manche stehen sogar auf der roten Liste der bedrohten Arten.
"Es gibt hier sehr viele bodenbrütende Vögel. Das größte Laichgebiet für Moorfrösche in der Stadt Leipzig."
Auf der anderen Seite gibt es Büsche und Bäume, die in die Höhe schnellen und damit die seltenen Blumen bedrohen. Die Tiere ernähren sich von ihnen.
"Hier an der Pappel sehen wir: Die wurde von den Rindern geschält. Die Rinde wurde aufgefressen. Die ist nährstoffhaltiger als das trockene Gras. Und dadurch stirbt die über einen längeren Zeitraum ab. Und das ist hier erwünscht. Hier soll das so sein, dass die großen Bäume immer wieder Platz machen für die kleinen Bäume, die nachwachsen."
Knöflers tierische Landschaftspflege zwischen den Plattenbauten ist nicht nur kurios - sie ist ökologisch, preiswert und: effektiv. Denn besonders schnellwüchsige Stauden, wie etwa die Goldrute, würden noch schneller wachsen, wenn sie mechanisch gekappt werden. Das aber ist gar nicht erwünscht. Die Rinder dagegen lassen sich Zeit: Weil sie langsamer mähen als die Maschine, wachsen die Pflanzen auch langsamer nach.
Knöflers Kollege Günther von Szombathely versteht sich als Wildhüter von Paunsdorf. Täglich macht er seine Runde durch das städtische Weideland. Wie ein Hirte kümmert er sich ums Vieh. Zu DDR-Zeiten arbeitete er als Ingenieur. Inzwischen hat er sich ganz auf das Wohl der Herde spezialisiert. Die Vorfahren der Heckrinder sind die Auerochsen, erklärt Günther von Szombathely. Genau an dieser Stelle hätten sie früher gelebt - bis sie vom Menschen vertrieben worden seien.
"Und daraus ergibt sich eigentlich unser Bemühen, die Tiere wieder hier rein zubringen. Es ist schön zu sehen, dass man zumindest auf kleinen Räumen der Natur wieder ein Stück zurückgeben kann."
Seit Jahrhunderten dringen Städte in natürliche Lebensräume vor. Spuren von Wallanlagen zeugen bis heute von den urbanen Wachstumsschüben. Doch erst als im 20. Jahrhundert Auto- und Eisenbahnverkehr zur Selbstverständlichkeit wurden, löste sich die Grenze zwischen Stadt und Landschaft auf. Bahngleise und Straßen verbanden die Siedlungen miteinander.
Heute überzieht ein dichtes Verkehrswegenetz wie ein Schnittmuster das Land. Noch immer werden in der Bundesrepublik täglich rund 100 Hektar Land versiegelt. Dieser Größe steht eine nicht minder beeindruckende Zahl gegenüber: 135.000 Hektar Brachfläche in den Städten, die der Strukturwandel - vor allem in Ostdeutschland - bis jetzt hinterlassen hat. Und das Schrumpfen der Städte ist noch lange nicht abgeschlossen.
Neben ehemaligen Truppenübungsplätzen wie in Leipzig-Paunsdorf sind es Wohn- und Gewerbeareale, aber auch Straßen und Bahnanlagen, die nicht mehr gebraucht werden - leer stehen, verfallen oder abgerissen werden. So fressen sich die Städte weiter in die Landschaft hinein, während ihr Körper im Innern porös wird.
Aus dem klar definierten Gegensatz von Stadt und Landschaft ist die "Stadtlandschaft" geworden, erklärt der Landschaftsarchitekt Klaus Overmeyer:
"Die Stadtlandschaft ist weitaus heterogener, vielfältiger, stärker durchmischt mit bebauten Strukturen. Eigentlich ist sie ein starkes zukünftiges Feld in der Stadtentwicklung. Wir haben es ja mit einer polarisierenden Raumentwicklung zu tun. Das heißt: Es wird Räume geben, auf denen ein hoher Verwertungsdruck liegt. Und die werden nach Plan bebaut werden.
Und dazwischen gibt es aber immer mehr Räume, die zumindest zeitweise aus diesen städtischen Verwertungszyklen herausfallen - die sich dann mehr oder weniger selbst überlassen bleiben. Wir bezeichnen das als Insel-Urbanismus: Man hat nicht mehr die Stadt aus einem Guss, sondern man hat eigentlich eine Stadt der Enklaven. Wo Nutzungen auslaufen - durch Deindustrialisierungsprozesse oder Abwanderung - und dadurch entsteht eigentlich der besondere Typ der Stadtlandschaft."
Mit dem von Ulrich Eisel definierten Landschaftsbegriff also hat die Stadtlandschaft nichts zu tun. Wenn alles Landschaft ist, sagt er, dann nütze der Begriff nichts mehr:
"Zur Landschaft gehört eine schöne Landschaft. Und wenn es eine hässliche ist, dann ist es keine mehr."
Für die Mehrzahl der Bevölkerung - egal wo sie lebt - dürfte diese Entwicklung Horrorszenarien im Kopf auslösen. Nicht nur, dass dieses Ideal der schönen Landschaft empfindlich gestört wurde, weil der Mensch sie urbanisierte. Jetzt zerstört der Rückzug des Menschen auch noch das Ideal der kompakten steinernen Stadt.
Politiker und Experten fordern deshalb, dass die Schrumpfungsprozesse gesteuert werden. "Schrumpfen zum Kern hin", rät Engelbert Lütke-Daldrup, Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, Bauen und Stadtentwicklung. Das heißt: möglichst am Stadtrand sollen Siedlungen abgerissen, in der City aber die Freiflächen wieder neu bebaut werden.
"Je besser es uns gelingt, einen Flächenkreislauf zu initiieren, um die neuen Bedürfnisse in der Stadt zu decken - Eigenheimbau mitten in der Stadt - umso weniger Flächen werden wir auf der grünen Wiese verbrauchen. Wir sparen neue Straßen, neue Leitungsnetze."
Häufig bleibt das allerdings ein frommer Wunsch. Produktion und Transportwesen funktionieren nach den Gesetzen des Marktes und der kurzen Wege. Ikea steht am Autobahnkreuz, weil das Bauland billiger und die Erreichbarkeit besser ist. Für ihre Brachflächen, das weiß Lütke-Daltrup, müssen sich die Kommunen etwas anderes überlegen:
"An bestimmten Stellen ist Perforation ein schädlicher Prozess, weil er den städtischen Zusammenhalt zerreißt. Dort muss die Stadt intervenieren. In anderen Bereichen kann sie 'zwischennutzen' oder ruderale Konzepte zulassen.
Es ist in der Tat in großen Städten schwierig, sich auf diese neue Situation einzustellen. Und zum Teil wird sich der Stadtcharakter auch ändern. Es wird in bestimmten Städten - zumindest in Teilräumen - zu einer gewissen Auflockerung der Strukturen kommen. Und es ist immer die Frage, wie diese Strukturen zu neuen Qualitäten von Stadtlandschaften entwickelt werden können: mit geringerer Dichte, mehr Freiraum, mehr Freizügigkeit in der Nutzung von Freiflächen.
Ich glaube, wir müssen eine Kultur entwickeln, die eine solche Zwischen- und Freiraumnutzung etwas offener zulässt und sich von den klassischen Parkarealen auch ein Stück weit verabschiedet."
Die neu entstandenen Flächen durch den Stadtumbau - so heißt es in einer Dokumentation des Bundesbauministeriums aus dem Jahr 2004 - dürften keine ungepflegten Wunden im Stadtkörper hinterlassen, sondern eine besondere Freiraumqualität schaffen.
Die Schrift zeigt anhand von Beispielprojekten aus den neuen Bundesländern, was das heißt: So wurde in Leipzig an der Stelle zurück gebauter Gründerzeithäuser ein dichtes Baumraster als "Dunkler Wald" angepflanzt. In Schwedt ersetzt ein Grünzug 4000 abgerissene Wohnungen einer Plattenbausiedlung. Auf der ehemaligen Freifläche einer Kindertagesstätte in Berlin-Marzahn können Bewohner jetzt Obst und Gemüse anbauen. So dringen landschaftliche Elemente in die Stadt - und sie müssen viel leisten: schön sein und kostengünstig, das Wohnumfeld aufwerten, und am Besten gleich den desolaten Zustand mancher Städte heilen.
Weil das mit einem Schrebergarten, einer Parkanlage oder einem Wäldchen nicht immer getan ist, denken Architekten auf ihrer Suche nach "neuen urbanen Qualitäten" zunehmend über exotische Landschaftsbilder nach.
Beim diesjährigen internationalen European-Wettbewerb gewannen gleich zwei Teams mit ihrem Vorschlag, den verkehrsumtosten Riebeckplatz in Halle mit einer besonderen Begrünung zu retten. Spanische Architekten empfahlen sich mit einem "Willkommenswald" aus einem strengen Raster unterschiedlicher Bäume. Ein Schweizer Team schlug gar die dichte Bepflanzung mit Bambus vor.
Schließlich haben Pflanzen einen großen Vorteil: So schnell wie sie kommen, kann man sich ihrer auch wieder entledigen - wenn dann doch der erhoffte Bauauftrag kommt. Mit der langfristigen Planung sei es eben auch in der Stadtentwicklung schwierig geworden, meint Klaus Overmeyer, der so etwas wie ein Experte für Nicht-Planung ist. Wenn man sich in der Brachflächenproblematik deshalb nur mit Landschaftsplanung beschäftige, sei man mit seinem Latein schnell am Ende.
"Die reine Landschaftsplanung konzentriert sich auf Gestaltung. Und in diesem ganzen Feld der Brachen hat man eigentlich festgestellt, dass diese Gestaltung zunehmend ins Hintertreffen gerät. Da geht es eigentlich gar nicht mehr um Gestaltung, es geht darum, bestimmte Quartiere zu stabilisieren, oder Entwicklungsimpulse zu setzen.
Der Staat und die Bezirke haben immer weniger Geld, Freiflächen anzulegen. Und die sind um jeden Aktivisten dankbar, der in einer freien Fläche eine Chance sieht und daraus etwas macht. Denn letztendlich werden dem Staat nicht nur die Betriebskosten abgenommen, es entstehen auch ganz neue Formen von Öffentlichkeit.
Aber der Städter ist eigentlich in seiner eigenen Entwicklung viel weiter. Man braucht kaum noch Gestaltung. Oder Gestaltung muss eher so ausgerichtet sein, dass der Aneignungsprozess erleichtert wird: dass man Zugänge öffnet, ein paar Bäume fällt, Wege frei legt und als Skater-Fläche benutzt."
Oder als Golfplatz. Das Meer aus glänzenden Kugeln auf der bräunlichen Wiese - aus der Ferne sieht es wie ein Kunstprojekt aus. Dabei sind es nur hunderte Golfbälle, die den grauen Himmel an diesem Tag reflektieren - und minütlich kommen neue hinzu. Weiter hinten ragen ein paar rot-rostige Tonnen aus den letzten saftigen Unkräutern heraus - beschriftet mit gut lesbaren Zahlen.
Kurz hinter dem Eingangscontainer führt ein Pfad zu den Abschlagplätzen, wo Männer und Frauen zwischen 20 und 80 ihrem Hobby nachgehen, ernsthaft trainieren, oder einfach nur die Mittagspause verbringen. Von den Hackeschen Höfen in Berlin ist der Golfplatz Berlin-Mitte gerade mal einen Kilometer entfernt. Zum neuen Hauptbahnhof ist es auch nicht weiter. Erstklassige Lage also.
Vor 14 Jahren wurde hier das "Stadion der Weltjugend" - die größte Sportarena Ostberlins - abgerissen. Zurück blieb' eine Fläche von 100.000 Quadratmetern und eine ungewisse Zukunft. Dann kam Jochen Kaynig und eröffnete einen Golfabschlagplatz für Jedermann:
"Wir haben keine Platzgebühr, keine Tagesgebühr. Das Einzige, was die Spieler bezahlen, sind die Bälle: 20 Stück für einen Euro. Wir verstehen uns auch nicht als Golfclub, sondern als öffentliche Anlage der Stadt Berlin."
Am liebsten mag der Mitte Vierzigjährige eigentlich Natur belassene Golfplätze wie in Schottland oder Irland. Aber mit einem Blick auf seine räudige Wiese sagt er:
"Den mag ich am aller meisten, diesen Golfplatz - weil er etwas ganz Besonderes ist."
Weil er seinen Idealismus ausleben kann, fügt er hinzu - nämlich den Sport, den er selbst liebt, weiterzugeben. Auf den Deal mit Jochen Kaynig hat sich der Berliner Senat gerne eingelassen. Sonst nämlich hätte er den Wachschutz auf das Gelände schicken müssen: Eine Brachfläche zieht Vandalismus und Vermüllung geradezu an.
Jochen Kaynig hat inzwischen neun Angestellte, darunter drei Lehrlinge. Das Geschäft floriert. Sein Vertrag für die Zwischennutzung jedoch läuft bald aus. Der Bundesnachrichtendienst baut hier seine neue Zentrale. Das war vor zehn Jahren noch nicht abzusehen. Kaynig aber will weitermachen. Ein bisschen weiter draußen, in Berlin-Marzahn, hat er schon einen Ort in Aussicht.
Golfplätze, Beachvolleyball-Anlagen, Strandbäder oder Nachtclubs - in Berlin gehören Zwischennutzungen inzwischen zum Kultur- und Szeneleben dazu. Allein im Bezirk Mitte gibt es über 800 Baulücken: Orte der Selbstverwirklichung für die junge Kreativszene. Denn wo die klassische Vollzeitbeschäftigung mit fristlosem Vertrag fehlt, bieten zeitlich begrenzte Projekte einen Ersatz. Selbst wenn sie nicht von Erfolg gekrönt sind, machen sie sich im Lebenslauf besser als eine Lücke.
Ein Galeriebesuch im Szeneviertel findet seinen krönenden Abschluss heutzutage nicht mehr im schicken Café, sondern in der Baulücke, die mal eben zum Trailerpark mit Wohnwagen aus den 70er Jahren umfunktioniert wurde: Für den gestressten Städter genau das Richtige.
Im Spreeraum wandern die angesagtesten Clubs von einer Brache zur nächsten. Und der Campingplatz auf dem Gelände eines ehemaligen Freibades ist nicht nur preiswert, sondern liegt zentral und ist Treffpunkt von jungen Reisenden, die auf der Suche nach dem Abenteuer in der Stadt sind. Solche Orte gehören zu Berlin wie der Canaletto-Blick zu Dresden.
"Das ist wie ein Imagelabel."
sagt Klaus Overmeyer und verweist auf Werbekampagnen, die ihre Produkte gerne vor solchen improvisierten Orten des Übergangs inszenieren.
"Und durch diese Kommunikation sickern ganz andere Bilder von aufgelassenen Räumen in die Öffentlichkeit. Natürlich immer positiv besetzt. Man kann ja auch ganz desolate Bilder zeigen. Aber die Kommunikation von Brache und kreativen Milieus, das geht eigentlich runter wie Butter!"
Zwischennutzung adelt wertlos geglaubte Orte, zieht junges, kreatives Milieu an und wertet so unversehens das städtische Umfeld auf. Ist das Gelände erst einmal zur "Adresse" geworden, lässt es sich auch wieder vermarkten. Die so häufig totgesagte Urbanität: aus den Brachen kann sie wieder auferstehen.
Und so verbinden Experten und Politiker mit dem Begriff "Metropole" längst nicht mehr allein den belebten Platz oder ein Stück Architektur von Frank O. Gehry, sondern das überraschende Moment und das Ungestaltete in der Stadtlandschaft, das sich der Bürger angeeignet hat. Denn ohne ihn gäbe es keinen Club, kein zur Kletterwand umgestalteter Bunker, keine Skaterbahn, keine Bienenzucht mitten in der Stadt. Und nach dem Abriss bliebe ohne den "Akteur" nur Ödnis.
"Es ist gut, wenn Leute was aktiv machen,"
sagt Elisabeth Meyer-Renschhausen und schaut auf die Blumenbeete, in denen Zucchini-, Kartoffel- und Bohnenpflanzen sprießen.
"Das sind die alten Getreidesorten aus dem Goldenen Dreieck, Vorderer Orient, wo die Getreidesorten ursprünglich mal gezüchtet wurden."
Ein paar Halme wedeln im Wind.
"Das sind hier Getreidesorten, die zwar nicht so einen hohen Ertrag haben, dafür aber nicht anfällig für Trockenheit, Regen oder Schädlinge sind. Die sind viel robuster."
Wie aus dem Nichts nähert sich ein Seniorenpaar, in beiden Händen bis zum Rand gefüllte Wassereimer. Es ist sehr trocken, und man muss sich absprechen, wer wann gießt. Elisabeth Meyer-Renschhausen hat Bücher über Community Gardens in Amerika geschrieben. In Berlin macht sie selbst mit - auf einem ehemaligen Eisenbahngelände.
"Nach der Wende versuchte die Bahn, das Gelände zu vermarkten und zu verkaufen als Baugelände. Aber wir haben genug leer stehende Gebäude."
Elisabeth Meyer-Renschhausen gehört einer Bewegung an, die brachliegendes Land besetzt und dort Obst und Gemüse anbaut. "Guerilla Gardening" nennt man das. Graben ohne Erlaubnis.
Am Berliner Gleisdreieck treffen Kinder und Erwachsene, ein Ökoverein und eine Gruppe bosnischer Frauen zusammen. Nach jahrelangen Kämpfen mit der Senatsverwaltung sind Regenwurmzucht, Getreideaussaat und Kartoffelernte nun zumindest vorübergehend erlaubt. Gerade in Zeiten hoher Erwerbslosigkeit sei das Gärtnern sinnstiftend und könne Aggressionen bündeln, sagt die Frau, die aussieht, als sei sie früher ein Blumenkind gewesen.
In New Yorks Lower East Side gibt es seit mehr als 30 Jahren Guerilla-Gärtner. Vor allem in den heruntergekommenen Bezirken begannen Anwohner, verwahrloste Baulücken aufzuräumen und zu bepflanzen - als Protestaktion und Selbsthilfe zugleich.
Inzwischen ist die Bewegung legalisiert und eine eigens eingerichtete Vermittlungsinstanz hat das wilde Gärtnern gezähmt. Die Stadt weiß, was sie hat an den Gärten und vergibt günstige Pachtverträge. Wer die Ernte nicht zum eigenen Lebensunterhalt braucht, gibt sie an eine Suppenküche ab.
In den schrumpfenden Städten Deutschlands passiert Ähnliches. In Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Migranten entstehen interkulturelle Gärten, die den Austausch der Kulturen fördern sollen. Dabei verstehen die Initiatoren solcher Projekte das Aneignen von städtischem Grabeland durchaus als politische Protestaktion: gegen die globalisierte Agrarwirtschaft und für eine lebenswertere, selbst gestaltete Umwelt.
Jenseits der großen Utopien ist das Gärtnern aber auch zur Mode geworden, die mit einem Augenzwinkern auf das spießige Eigenheim-Image draußen vor der Stadt reagiert. Designer entwerfen Vorgartenzäune, lustige Gartenmöbel und geben geschmackvolle Gartenzeitschriften heraus. Hippe Städter unterwandern Schrebergartenvereine, und wo dies nicht gelingt, behelfen sie sich mit der Bepflanzung einer Baumscheibe quasi als Vorgartenersatz. So blühen die Küchenkräuter in den Szene-Vierteln Berlins plötzlich dort, wo früher die Hunde ihr Geschäft verrichteten: um die Bäume herum.
"Wir als Menschen denken ja immer sehr stark in Kultivierung, dass wir die Räume für den Menschen nutzbar machen,"
meint Klaus Overmeyer. Doch wenn das überall so wäre, hätten Kommunen mit schrumpfenden Städten nur halb so viele Probleme. Berlin ist eben nicht überall, betont er. Ohne ein junges, engagiertes und kreatives Milieu bleibt dann eigentlich nur die Verwilderung.
"Es gibt 'ne ganze Reihe von Städten und ländlichen Regionen, die von sehr starken Abwanderungsprozessen geprägt sind und da kann man natürlich feststellen, dass die jungen Leute abwandern, die solche Szenen bilden. Dort werden wir mit sehr vielen Flächen zu tun haben. Die werden nie wieder in 'ne Nutzung fallen. Die sind einfach aufgegeben und auf den Flächen kann man gut so einen Dekultivierungsprozess nachvollziehen. Die bleiben sich selbst überlassen und dort setzt dann natürliche Sukzession ein."
Natürliche Sukzession macht sich seit mehr als einem halben Jahrhundert auf dem Berliner Südgelände breit. Gräser und blühende Wildpflanzen haben die Schienenstränge des alten Rangierbahnhofs überwuchert, ein Urwald aus Robinien und Birken ist in die Höhe gewachsen. Hier brüten seltene Vögel, sagen sich Kuckucksbiene, Fliegenpilz, Zauneidechse und Nachtigall gute Nacht.
Ein Kuriosum hat den ehemaligen Warenumschlagplatz in eine städtische Wildnis verwandelt: Denn obwohl das Gelände mitten im Westen Berlins liegt, gehörte es bis zum Fall der Mauer der DDR - wurde von niemandem betreten.
Die vorbeirauschenden Züge schleppten viele Samen und Kleintiere aus der Region als blinde Passagiere ein. Ökologen sprechen von einem "Siedlungskorridor". So entstanden mit der Zeit wertvolle Magerrasen und Hochstaudenflure, während Moosflechten ihre Spuren auf dem alten Wasserturm und den anderen Gebäuden hinterließen.
Wer heute auf dem schmalen Steg läuft und das Gelände erkundet, wird nur vom Fünf-Minuten-Takt der vorbeifahrenden S-Bahn an das städtische Leben nebenan erinnert. Allerdings weist ein kleiner Kassenautomat am Eingang daraufhin, dass es sich hier nicht um dekultivierte Wildnis, sondern um einen Park handelt.
Körner: "Das Ding heißt Natur-Park. Es ist sowohl Naturschutzgebiet - sich frei entfaltende Natur - als auch ein Park. Weil man ein Naturschutzgebiet so streng gar nicht durchführen könnte."
In der Tat hat sich auf dem Brachgelände eine artenreiche Flora und Fauna entwickelt. Das Südgelände ist ein Vorzeigeprojekt, an das vermutlich viele Politiker denken, wenn sie von "ruderalen Konzepten" oder von der "Rückgabe der Flächen an die Natur" sprechen.
Solche Begriffe werden derzeit gerne benutzt, denn Verwilderung scheint auf den ersten Blick eine attraktive - eine preiswerte Lösung. Überall dort, wo es keinen Bedarf für andere Nutzungen mehr gibt, könnten also artenreiche Naturschutzgebiete in der Stadt entstehen. Der Stefan Körner, Professor für Landschaftsbau und Vegetationstechnik an der Universität Kassel, zuckt bei diesem Gedanken zusammen.
"Die Frage ist immer, wie man die Pflege gewährleisten kann."
Für ein bestimmtes Maß an Verwilderung eigneten sich städtische Freiräume gut, sagt Körner. Und die Spontanvegetation berge oftmals interessantere Prozesse als der klassische Park mit Rasen, Bäumen und Bänken. Aber ohne Pflege würden eben ganz schnell unwirtliche Räume entstehen, in denen man den Kontrollverlust fürchte.
"Das ist ein ganz heikles Thema, weil es ganz stark mit der Anmutung der Vegetation zu tun hat. Es wachsen dort Pflanzen, die als Unkräuter konnotiert sind, und deswegen wird das als Schmuddelecke identifiziert und dann wird da Müll abgelagert."
Von Landschaftsarchitekten und Ökologen ist die Wildnis in der Stadt längst entdeckt worden - nicht nur wegen ihres ökologischen Wertes, sondern wegen ihres ganz speziellen Charakters. Wenn es eine Form von Landschaft in den Städten gebe, sagt der Gesellschaftswissenschaftler Ulrich Eisel, dann sei es die der so genannten "Stadtnatur". Das sei eben die Utopie von verwilderter Natur, die die Zivilisation überwuchert und sich ein Gelände zurückerobert. Aber genau deswegen, meint Ulrich Eisel, stoße sie auch auf viel Ablehnung:
"Wenn 'Stadt' eine Zone des geordneten, geregelten, zivilisatorischen hygienischen, sauberen Lebens ist, dann ist das schmuddelig - dann ist das einfach eine Gefahr für das geordnete Leben. Ob das real so ist, ist ein anderes Thema. Aber ideologisch gesehen gibt es eine Aversion gegenüber dem Wildwuchernden, nicht Gezähmten, wenn es am falschen Ort stattfindet."
Mit anderen Worten:
"Das hat etwas Subversives. Mit der Spontanvegetation ist zum Teil auch eine neue Individualität in die Anlagen gekommen. Man sieht, ob ein Park frisch gepflanzt wurde oder aus einer alten Brache stammt."
Stefan Körner schwärmt vom Geruch der Robinienblüten oder von der Verbreitung der Budleia im Ruhrgebiet. Das Eine ein Neophyt - eine aus Amerika eingewanderte Pflanze - das Andere eine verwilderte Gartenpflanze: der Schmetterlingsstrauch. Ganz zu schweigen von den Birken, den Brombeerbüschen und den Wildkräutern, die sich rasch verbreiten.
Ästhetisch betrachtet hat die Stadtnatur also Einiges zu bieten. Doch bei der Robinie fängt das Problem schon an. Die ist zwar schön, aber von den Naturschützern nicht geliebt, weil sie nicht zur heimischen Pflanzenwelt gehört, schlimmer noch: diese durch ihr schnelles Wachstum sogar bedroht.
"Naturschützer neigen dazu, das, was neu ist, zu bekämpfen. Da gibt es dann Diskussionen, ob der tatarische Lattich auf Rügen sich in den Spülsäumen ansiedelt, ob das jetzt schlimm ist oder nicht. Und das wird meistens danach entschieden, ob sich die Art bescheiden 'einnischt', oder ob sie dominant wird. Und Verdrängen bedeutet immer für die heimische Natur - für die es ohnehin schon eng ist - wird es noch enger. Und es wird suggeriert, es könnten die fremden Arten heimische Arten zum Aussterben bringen. Aber auf der empirischen Ebene konnte das noch nicht nachgewiesen werden.
Tatsächlich ist das eine Diskussion darüber mit den fremden Arten: gehören die zu unserer Identität, welches Recht haben Fremde, unsere Identität zu verändern? Man könnte letztendlich die Leitkulturdebatte auf dieser Ebene des Naturschutzes widerspiegeln. Und es ist objektiv so, dass die Arten, die wir heute als Inbegriff von Heimat empfinden - Kornblume, Wiedehopf, Hase - alle zu einer bestimmten Zeit eingewandert sind."
Glücklich ist Stefan Körner nicht über diese "Überfremdungsangst". Das spontan aufgetauchte Fremde, sagt er, mache doch die städtische Wildnis gerade aus. Deshalb plädiert er dafür, in die städtische Natur einzugreifen - mit Neophyten.
Würde man bei der Ansiedlung bestimmter Arten einfach ein bisschen nachhelfen, so könnte man letztendlich auch die Akzeptanz für die Natur der Brache erhöhen. Was Körner für das Reich der Pflanzen beschreibt, ist in der städtischen Tierwelt längst passiert: Wilde Tiere sind in die Städte zurückgekehrt, die man vormals nur aus dem Zoo oder Wildpark kannte.
Der Mensch, der ihnen zuerst Lebensraum raubte, hat ihnen in der Stadt unfreiwillig ein bequemes Leben geschaffen. Füchse, Wildschweine, Steinmarder oder Waschbären sind auf der Straße keine Seltenheit mehr. Städte, schreibt der Biologe Cord Riechelmann, würden zum Fluchtpunkt der Artenvielfalt. Dort finden Pflanzen noch nährstoffarme Böden und Tiere einen reich gedeckten Tisch. Und - möchte man hinzufügen - eine neugierige Nachbarschaft mit den menschlichen Bewohnern.
Früher machten hier russische Soldaten Schießübungen. Heute grasen Uwe Knöflers Rinder und Pferde gemütlich vor sich hin. Es sind gewaltige, schöne Tiere. Schwarze Heckrinder mit riesigen Hörnern, wie man sie aus den spanischen Stierkampfarenen kennt. Und die sandfarbenen Wildpferde mit ihrer aufrechten Mähne und den zarten Streifen, die an ihre Vorfahren das Zebra erinnern.
Ein bisschen ist es wie in der ostafrikanischen Savanne. Aber Uwe Knöfler und sein Mitarbeiter Günther von Szombathely stehen inmitten des Plattenbaugebiets von Leipzig-Paunsdorf. Um sie herum die Hochhauskulisse. Im Hintergrund rauscht die Autobahn. Ein landschaftliches Idyll? Für Uwe Knöfler auf jeden Fall.
Für viele Andere nicht, sagt der Geograf und Gesellschaftswissenschaftler Ulrich Eisel:
"Wenn wir von Landschaft reden, dann reden wir von einem organisch gewachsenen, harmonischen, wohl überschaubaren Gebilde: Ein Wiesental mit einem Bach, ein Waldrand oder der Rheingau ist eine Landschaft. Und jeder weiß, was daran das Wertvolle ist: nämlich eine ganz spezifische Eigenart, die nirgendwo anders auftritt, und die vor allen Dingen organisch gewachsen ist. Sie hat von innen heraus Kraft entfaltet und ist dann zu einem schönen Gebilde geworden."
Das Elbtal oder die sanften Hügel der Uckermark - abgeschlossene Naturräume, über Jahrhunderte entstanden, die sich in jedem Kopf mit dem Begriff "schön" verbinden. Ein Idyll, das seinen Ursprung in jenem "Arkadien" hat, das der Dichter Vergil vor 2000 Jahren in seinen Hirtengedichten beschrieb.
Eisel: "Das, was wir da als Emotion in unserem Herzen tragen - als landschaftliches Gefühl - das entspricht einem kulturellen Schema, was im Abendland geboren wurde: nämlich das Arkadische Ideal. Insofern hängt da etwas Objektives drin. Das ist die Idee der schönen Landschaft. Die besetzt uns alle."
Arkadien ist weit mehr als nur ein schöner Ort. Es ist Sinnbild für das Paradies: ein Fluchtort, der frei ist von gesellschaftlichen oder politischen Problemen. Ein Ideal, das sich bis heute mit schöner Landschaft verbindet.
Mit dem künstlichen Gebilde einer Stadt lässt sich diese Idee nicht vereinbaren. Der ehemalige Truppenübungsplatz, das Tagebaurestloch oder das stillgelegte Bahnareal: keine idealen Landschaften also, sondern nutzlos gewordene Restflächen der modernen Zivilisation, die allein auf Wachstum, Produktion und Sicherheit ausgerichtet war.
Uwe Knöfler ist Projektleiter des Paunsdorfer Beweidungsprojektes und Geschäftsführer der Primigenius Naturschutz- und Landschaftspflege GmbH. Die Stadt Leipzig kam auf ihn zu, weil sie die Pflege eines Landschaftsschutzgebietes nicht mehr bezahlen konnte. Da schickte Knöfler seine Rinder und Pferde - "Linchen" und wie sie alle heißen. Es sind extrem robuste Tiere, die an 365 Tagen im Jahr hier - zwischen Autobahn, Hochhäusern und Gewerbegebiet - grasen.
Viele seltene Tier- und Pflanzenarten haben sich auf dem ehemaligen Militärgelände angesiedelt. Manche stehen sogar auf der roten Liste der bedrohten Arten.
"Es gibt hier sehr viele bodenbrütende Vögel. Das größte Laichgebiet für Moorfrösche in der Stadt Leipzig."
Auf der anderen Seite gibt es Büsche und Bäume, die in die Höhe schnellen und damit die seltenen Blumen bedrohen. Die Tiere ernähren sich von ihnen.
"Hier an der Pappel sehen wir: Die wurde von den Rindern geschält. Die Rinde wurde aufgefressen. Die ist nährstoffhaltiger als das trockene Gras. Und dadurch stirbt die über einen längeren Zeitraum ab. Und das ist hier erwünscht. Hier soll das so sein, dass die großen Bäume immer wieder Platz machen für die kleinen Bäume, die nachwachsen."
Knöflers tierische Landschaftspflege zwischen den Plattenbauten ist nicht nur kurios - sie ist ökologisch, preiswert und: effektiv. Denn besonders schnellwüchsige Stauden, wie etwa die Goldrute, würden noch schneller wachsen, wenn sie mechanisch gekappt werden. Das aber ist gar nicht erwünscht. Die Rinder dagegen lassen sich Zeit: Weil sie langsamer mähen als die Maschine, wachsen die Pflanzen auch langsamer nach.
Knöflers Kollege Günther von Szombathely versteht sich als Wildhüter von Paunsdorf. Täglich macht er seine Runde durch das städtische Weideland. Wie ein Hirte kümmert er sich ums Vieh. Zu DDR-Zeiten arbeitete er als Ingenieur. Inzwischen hat er sich ganz auf das Wohl der Herde spezialisiert. Die Vorfahren der Heckrinder sind die Auerochsen, erklärt Günther von Szombathely. Genau an dieser Stelle hätten sie früher gelebt - bis sie vom Menschen vertrieben worden seien.
"Und daraus ergibt sich eigentlich unser Bemühen, die Tiere wieder hier rein zubringen. Es ist schön zu sehen, dass man zumindest auf kleinen Räumen der Natur wieder ein Stück zurückgeben kann."
Seit Jahrhunderten dringen Städte in natürliche Lebensräume vor. Spuren von Wallanlagen zeugen bis heute von den urbanen Wachstumsschüben. Doch erst als im 20. Jahrhundert Auto- und Eisenbahnverkehr zur Selbstverständlichkeit wurden, löste sich die Grenze zwischen Stadt und Landschaft auf. Bahngleise und Straßen verbanden die Siedlungen miteinander.
Heute überzieht ein dichtes Verkehrswegenetz wie ein Schnittmuster das Land. Noch immer werden in der Bundesrepublik täglich rund 100 Hektar Land versiegelt. Dieser Größe steht eine nicht minder beeindruckende Zahl gegenüber: 135.000 Hektar Brachfläche in den Städten, die der Strukturwandel - vor allem in Ostdeutschland - bis jetzt hinterlassen hat. Und das Schrumpfen der Städte ist noch lange nicht abgeschlossen.
Neben ehemaligen Truppenübungsplätzen wie in Leipzig-Paunsdorf sind es Wohn- und Gewerbeareale, aber auch Straßen und Bahnanlagen, die nicht mehr gebraucht werden - leer stehen, verfallen oder abgerissen werden. So fressen sich die Städte weiter in die Landschaft hinein, während ihr Körper im Innern porös wird.
Aus dem klar definierten Gegensatz von Stadt und Landschaft ist die "Stadtlandschaft" geworden, erklärt der Landschaftsarchitekt Klaus Overmeyer:
"Die Stadtlandschaft ist weitaus heterogener, vielfältiger, stärker durchmischt mit bebauten Strukturen. Eigentlich ist sie ein starkes zukünftiges Feld in der Stadtentwicklung. Wir haben es ja mit einer polarisierenden Raumentwicklung zu tun. Das heißt: Es wird Räume geben, auf denen ein hoher Verwertungsdruck liegt. Und die werden nach Plan bebaut werden.
Und dazwischen gibt es aber immer mehr Räume, die zumindest zeitweise aus diesen städtischen Verwertungszyklen herausfallen - die sich dann mehr oder weniger selbst überlassen bleiben. Wir bezeichnen das als Insel-Urbanismus: Man hat nicht mehr die Stadt aus einem Guss, sondern man hat eigentlich eine Stadt der Enklaven. Wo Nutzungen auslaufen - durch Deindustrialisierungsprozesse oder Abwanderung - und dadurch entsteht eigentlich der besondere Typ der Stadtlandschaft."
Mit dem von Ulrich Eisel definierten Landschaftsbegriff also hat die Stadtlandschaft nichts zu tun. Wenn alles Landschaft ist, sagt er, dann nütze der Begriff nichts mehr:
"Zur Landschaft gehört eine schöne Landschaft. Und wenn es eine hässliche ist, dann ist es keine mehr."
Für die Mehrzahl der Bevölkerung - egal wo sie lebt - dürfte diese Entwicklung Horrorszenarien im Kopf auslösen. Nicht nur, dass dieses Ideal der schönen Landschaft empfindlich gestört wurde, weil der Mensch sie urbanisierte. Jetzt zerstört der Rückzug des Menschen auch noch das Ideal der kompakten steinernen Stadt.
Politiker und Experten fordern deshalb, dass die Schrumpfungsprozesse gesteuert werden. "Schrumpfen zum Kern hin", rät Engelbert Lütke-Daldrup, Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, Bauen und Stadtentwicklung. Das heißt: möglichst am Stadtrand sollen Siedlungen abgerissen, in der City aber die Freiflächen wieder neu bebaut werden.
"Je besser es uns gelingt, einen Flächenkreislauf zu initiieren, um die neuen Bedürfnisse in der Stadt zu decken - Eigenheimbau mitten in der Stadt - umso weniger Flächen werden wir auf der grünen Wiese verbrauchen. Wir sparen neue Straßen, neue Leitungsnetze."
Häufig bleibt das allerdings ein frommer Wunsch. Produktion und Transportwesen funktionieren nach den Gesetzen des Marktes und der kurzen Wege. Ikea steht am Autobahnkreuz, weil das Bauland billiger und die Erreichbarkeit besser ist. Für ihre Brachflächen, das weiß Lütke-Daltrup, müssen sich die Kommunen etwas anderes überlegen:
"An bestimmten Stellen ist Perforation ein schädlicher Prozess, weil er den städtischen Zusammenhalt zerreißt. Dort muss die Stadt intervenieren. In anderen Bereichen kann sie 'zwischennutzen' oder ruderale Konzepte zulassen.
Es ist in der Tat in großen Städten schwierig, sich auf diese neue Situation einzustellen. Und zum Teil wird sich der Stadtcharakter auch ändern. Es wird in bestimmten Städten - zumindest in Teilräumen - zu einer gewissen Auflockerung der Strukturen kommen. Und es ist immer die Frage, wie diese Strukturen zu neuen Qualitäten von Stadtlandschaften entwickelt werden können: mit geringerer Dichte, mehr Freiraum, mehr Freizügigkeit in der Nutzung von Freiflächen.
Ich glaube, wir müssen eine Kultur entwickeln, die eine solche Zwischen- und Freiraumnutzung etwas offener zulässt und sich von den klassischen Parkarealen auch ein Stück weit verabschiedet."
Die neu entstandenen Flächen durch den Stadtumbau - so heißt es in einer Dokumentation des Bundesbauministeriums aus dem Jahr 2004 - dürften keine ungepflegten Wunden im Stadtkörper hinterlassen, sondern eine besondere Freiraumqualität schaffen.
Die Schrift zeigt anhand von Beispielprojekten aus den neuen Bundesländern, was das heißt: So wurde in Leipzig an der Stelle zurück gebauter Gründerzeithäuser ein dichtes Baumraster als "Dunkler Wald" angepflanzt. In Schwedt ersetzt ein Grünzug 4000 abgerissene Wohnungen einer Plattenbausiedlung. Auf der ehemaligen Freifläche einer Kindertagesstätte in Berlin-Marzahn können Bewohner jetzt Obst und Gemüse anbauen. So dringen landschaftliche Elemente in die Stadt - und sie müssen viel leisten: schön sein und kostengünstig, das Wohnumfeld aufwerten, und am Besten gleich den desolaten Zustand mancher Städte heilen.
Weil das mit einem Schrebergarten, einer Parkanlage oder einem Wäldchen nicht immer getan ist, denken Architekten auf ihrer Suche nach "neuen urbanen Qualitäten" zunehmend über exotische Landschaftsbilder nach.
Beim diesjährigen internationalen European-Wettbewerb gewannen gleich zwei Teams mit ihrem Vorschlag, den verkehrsumtosten Riebeckplatz in Halle mit einer besonderen Begrünung zu retten. Spanische Architekten empfahlen sich mit einem "Willkommenswald" aus einem strengen Raster unterschiedlicher Bäume. Ein Schweizer Team schlug gar die dichte Bepflanzung mit Bambus vor.
Schließlich haben Pflanzen einen großen Vorteil: So schnell wie sie kommen, kann man sich ihrer auch wieder entledigen - wenn dann doch der erhoffte Bauauftrag kommt. Mit der langfristigen Planung sei es eben auch in der Stadtentwicklung schwierig geworden, meint Klaus Overmeyer, der so etwas wie ein Experte für Nicht-Planung ist. Wenn man sich in der Brachflächenproblematik deshalb nur mit Landschaftsplanung beschäftige, sei man mit seinem Latein schnell am Ende.
"Die reine Landschaftsplanung konzentriert sich auf Gestaltung. Und in diesem ganzen Feld der Brachen hat man eigentlich festgestellt, dass diese Gestaltung zunehmend ins Hintertreffen gerät. Da geht es eigentlich gar nicht mehr um Gestaltung, es geht darum, bestimmte Quartiere zu stabilisieren, oder Entwicklungsimpulse zu setzen.
Der Staat und die Bezirke haben immer weniger Geld, Freiflächen anzulegen. Und die sind um jeden Aktivisten dankbar, der in einer freien Fläche eine Chance sieht und daraus etwas macht. Denn letztendlich werden dem Staat nicht nur die Betriebskosten abgenommen, es entstehen auch ganz neue Formen von Öffentlichkeit.
Aber der Städter ist eigentlich in seiner eigenen Entwicklung viel weiter. Man braucht kaum noch Gestaltung. Oder Gestaltung muss eher so ausgerichtet sein, dass der Aneignungsprozess erleichtert wird: dass man Zugänge öffnet, ein paar Bäume fällt, Wege frei legt und als Skater-Fläche benutzt."
Oder als Golfplatz. Das Meer aus glänzenden Kugeln auf der bräunlichen Wiese - aus der Ferne sieht es wie ein Kunstprojekt aus. Dabei sind es nur hunderte Golfbälle, die den grauen Himmel an diesem Tag reflektieren - und minütlich kommen neue hinzu. Weiter hinten ragen ein paar rot-rostige Tonnen aus den letzten saftigen Unkräutern heraus - beschriftet mit gut lesbaren Zahlen.
Kurz hinter dem Eingangscontainer führt ein Pfad zu den Abschlagplätzen, wo Männer und Frauen zwischen 20 und 80 ihrem Hobby nachgehen, ernsthaft trainieren, oder einfach nur die Mittagspause verbringen. Von den Hackeschen Höfen in Berlin ist der Golfplatz Berlin-Mitte gerade mal einen Kilometer entfernt. Zum neuen Hauptbahnhof ist es auch nicht weiter. Erstklassige Lage also.
Vor 14 Jahren wurde hier das "Stadion der Weltjugend" - die größte Sportarena Ostberlins - abgerissen. Zurück blieb' eine Fläche von 100.000 Quadratmetern und eine ungewisse Zukunft. Dann kam Jochen Kaynig und eröffnete einen Golfabschlagplatz für Jedermann:
"Wir haben keine Platzgebühr, keine Tagesgebühr. Das Einzige, was die Spieler bezahlen, sind die Bälle: 20 Stück für einen Euro. Wir verstehen uns auch nicht als Golfclub, sondern als öffentliche Anlage der Stadt Berlin."
Am liebsten mag der Mitte Vierzigjährige eigentlich Natur belassene Golfplätze wie in Schottland oder Irland. Aber mit einem Blick auf seine räudige Wiese sagt er:
"Den mag ich am aller meisten, diesen Golfplatz - weil er etwas ganz Besonderes ist."
Weil er seinen Idealismus ausleben kann, fügt er hinzu - nämlich den Sport, den er selbst liebt, weiterzugeben. Auf den Deal mit Jochen Kaynig hat sich der Berliner Senat gerne eingelassen. Sonst nämlich hätte er den Wachschutz auf das Gelände schicken müssen: Eine Brachfläche zieht Vandalismus und Vermüllung geradezu an.
Jochen Kaynig hat inzwischen neun Angestellte, darunter drei Lehrlinge. Das Geschäft floriert. Sein Vertrag für die Zwischennutzung jedoch läuft bald aus. Der Bundesnachrichtendienst baut hier seine neue Zentrale. Das war vor zehn Jahren noch nicht abzusehen. Kaynig aber will weitermachen. Ein bisschen weiter draußen, in Berlin-Marzahn, hat er schon einen Ort in Aussicht.
Golfplätze, Beachvolleyball-Anlagen, Strandbäder oder Nachtclubs - in Berlin gehören Zwischennutzungen inzwischen zum Kultur- und Szeneleben dazu. Allein im Bezirk Mitte gibt es über 800 Baulücken: Orte der Selbstverwirklichung für die junge Kreativszene. Denn wo die klassische Vollzeitbeschäftigung mit fristlosem Vertrag fehlt, bieten zeitlich begrenzte Projekte einen Ersatz. Selbst wenn sie nicht von Erfolg gekrönt sind, machen sie sich im Lebenslauf besser als eine Lücke.
Ein Galeriebesuch im Szeneviertel findet seinen krönenden Abschluss heutzutage nicht mehr im schicken Café, sondern in der Baulücke, die mal eben zum Trailerpark mit Wohnwagen aus den 70er Jahren umfunktioniert wurde: Für den gestressten Städter genau das Richtige.
Im Spreeraum wandern die angesagtesten Clubs von einer Brache zur nächsten. Und der Campingplatz auf dem Gelände eines ehemaligen Freibades ist nicht nur preiswert, sondern liegt zentral und ist Treffpunkt von jungen Reisenden, die auf der Suche nach dem Abenteuer in der Stadt sind. Solche Orte gehören zu Berlin wie der Canaletto-Blick zu Dresden.
"Das ist wie ein Imagelabel."
sagt Klaus Overmeyer und verweist auf Werbekampagnen, die ihre Produkte gerne vor solchen improvisierten Orten des Übergangs inszenieren.
"Und durch diese Kommunikation sickern ganz andere Bilder von aufgelassenen Räumen in die Öffentlichkeit. Natürlich immer positiv besetzt. Man kann ja auch ganz desolate Bilder zeigen. Aber die Kommunikation von Brache und kreativen Milieus, das geht eigentlich runter wie Butter!"
Zwischennutzung adelt wertlos geglaubte Orte, zieht junges, kreatives Milieu an und wertet so unversehens das städtische Umfeld auf. Ist das Gelände erst einmal zur "Adresse" geworden, lässt es sich auch wieder vermarkten. Die so häufig totgesagte Urbanität: aus den Brachen kann sie wieder auferstehen.
Und so verbinden Experten und Politiker mit dem Begriff "Metropole" längst nicht mehr allein den belebten Platz oder ein Stück Architektur von Frank O. Gehry, sondern das überraschende Moment und das Ungestaltete in der Stadtlandschaft, das sich der Bürger angeeignet hat. Denn ohne ihn gäbe es keinen Club, kein zur Kletterwand umgestalteter Bunker, keine Skaterbahn, keine Bienenzucht mitten in der Stadt. Und nach dem Abriss bliebe ohne den "Akteur" nur Ödnis.
"Es ist gut, wenn Leute was aktiv machen,"
sagt Elisabeth Meyer-Renschhausen und schaut auf die Blumenbeete, in denen Zucchini-, Kartoffel- und Bohnenpflanzen sprießen.
"Das sind die alten Getreidesorten aus dem Goldenen Dreieck, Vorderer Orient, wo die Getreidesorten ursprünglich mal gezüchtet wurden."
Ein paar Halme wedeln im Wind.
"Das sind hier Getreidesorten, die zwar nicht so einen hohen Ertrag haben, dafür aber nicht anfällig für Trockenheit, Regen oder Schädlinge sind. Die sind viel robuster."
Wie aus dem Nichts nähert sich ein Seniorenpaar, in beiden Händen bis zum Rand gefüllte Wassereimer. Es ist sehr trocken, und man muss sich absprechen, wer wann gießt. Elisabeth Meyer-Renschhausen hat Bücher über Community Gardens in Amerika geschrieben. In Berlin macht sie selbst mit - auf einem ehemaligen Eisenbahngelände.
"Nach der Wende versuchte die Bahn, das Gelände zu vermarkten und zu verkaufen als Baugelände. Aber wir haben genug leer stehende Gebäude."
Elisabeth Meyer-Renschhausen gehört einer Bewegung an, die brachliegendes Land besetzt und dort Obst und Gemüse anbaut. "Guerilla Gardening" nennt man das. Graben ohne Erlaubnis.
Am Berliner Gleisdreieck treffen Kinder und Erwachsene, ein Ökoverein und eine Gruppe bosnischer Frauen zusammen. Nach jahrelangen Kämpfen mit der Senatsverwaltung sind Regenwurmzucht, Getreideaussaat und Kartoffelernte nun zumindest vorübergehend erlaubt. Gerade in Zeiten hoher Erwerbslosigkeit sei das Gärtnern sinnstiftend und könne Aggressionen bündeln, sagt die Frau, die aussieht, als sei sie früher ein Blumenkind gewesen.
In New Yorks Lower East Side gibt es seit mehr als 30 Jahren Guerilla-Gärtner. Vor allem in den heruntergekommenen Bezirken begannen Anwohner, verwahrloste Baulücken aufzuräumen und zu bepflanzen - als Protestaktion und Selbsthilfe zugleich.
Inzwischen ist die Bewegung legalisiert und eine eigens eingerichtete Vermittlungsinstanz hat das wilde Gärtnern gezähmt. Die Stadt weiß, was sie hat an den Gärten und vergibt günstige Pachtverträge. Wer die Ernte nicht zum eigenen Lebensunterhalt braucht, gibt sie an eine Suppenküche ab.
In den schrumpfenden Städten Deutschlands passiert Ähnliches. In Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Migranten entstehen interkulturelle Gärten, die den Austausch der Kulturen fördern sollen. Dabei verstehen die Initiatoren solcher Projekte das Aneignen von städtischem Grabeland durchaus als politische Protestaktion: gegen die globalisierte Agrarwirtschaft und für eine lebenswertere, selbst gestaltete Umwelt.
Jenseits der großen Utopien ist das Gärtnern aber auch zur Mode geworden, die mit einem Augenzwinkern auf das spießige Eigenheim-Image draußen vor der Stadt reagiert. Designer entwerfen Vorgartenzäune, lustige Gartenmöbel und geben geschmackvolle Gartenzeitschriften heraus. Hippe Städter unterwandern Schrebergartenvereine, und wo dies nicht gelingt, behelfen sie sich mit der Bepflanzung einer Baumscheibe quasi als Vorgartenersatz. So blühen die Küchenkräuter in den Szene-Vierteln Berlins plötzlich dort, wo früher die Hunde ihr Geschäft verrichteten: um die Bäume herum.
"Wir als Menschen denken ja immer sehr stark in Kultivierung, dass wir die Räume für den Menschen nutzbar machen,"
meint Klaus Overmeyer. Doch wenn das überall so wäre, hätten Kommunen mit schrumpfenden Städten nur halb so viele Probleme. Berlin ist eben nicht überall, betont er. Ohne ein junges, engagiertes und kreatives Milieu bleibt dann eigentlich nur die Verwilderung.
"Es gibt 'ne ganze Reihe von Städten und ländlichen Regionen, die von sehr starken Abwanderungsprozessen geprägt sind und da kann man natürlich feststellen, dass die jungen Leute abwandern, die solche Szenen bilden. Dort werden wir mit sehr vielen Flächen zu tun haben. Die werden nie wieder in 'ne Nutzung fallen. Die sind einfach aufgegeben und auf den Flächen kann man gut so einen Dekultivierungsprozess nachvollziehen. Die bleiben sich selbst überlassen und dort setzt dann natürliche Sukzession ein."
Natürliche Sukzession macht sich seit mehr als einem halben Jahrhundert auf dem Berliner Südgelände breit. Gräser und blühende Wildpflanzen haben die Schienenstränge des alten Rangierbahnhofs überwuchert, ein Urwald aus Robinien und Birken ist in die Höhe gewachsen. Hier brüten seltene Vögel, sagen sich Kuckucksbiene, Fliegenpilz, Zauneidechse und Nachtigall gute Nacht.
Ein Kuriosum hat den ehemaligen Warenumschlagplatz in eine städtische Wildnis verwandelt: Denn obwohl das Gelände mitten im Westen Berlins liegt, gehörte es bis zum Fall der Mauer der DDR - wurde von niemandem betreten.
Die vorbeirauschenden Züge schleppten viele Samen und Kleintiere aus der Region als blinde Passagiere ein. Ökologen sprechen von einem "Siedlungskorridor". So entstanden mit der Zeit wertvolle Magerrasen und Hochstaudenflure, während Moosflechten ihre Spuren auf dem alten Wasserturm und den anderen Gebäuden hinterließen.
Wer heute auf dem schmalen Steg läuft und das Gelände erkundet, wird nur vom Fünf-Minuten-Takt der vorbeifahrenden S-Bahn an das städtische Leben nebenan erinnert. Allerdings weist ein kleiner Kassenautomat am Eingang daraufhin, dass es sich hier nicht um dekultivierte Wildnis, sondern um einen Park handelt.
Körner: "Das Ding heißt Natur-Park. Es ist sowohl Naturschutzgebiet - sich frei entfaltende Natur - als auch ein Park. Weil man ein Naturschutzgebiet so streng gar nicht durchführen könnte."
In der Tat hat sich auf dem Brachgelände eine artenreiche Flora und Fauna entwickelt. Das Südgelände ist ein Vorzeigeprojekt, an das vermutlich viele Politiker denken, wenn sie von "ruderalen Konzepten" oder von der "Rückgabe der Flächen an die Natur" sprechen.
Solche Begriffe werden derzeit gerne benutzt, denn Verwilderung scheint auf den ersten Blick eine attraktive - eine preiswerte Lösung. Überall dort, wo es keinen Bedarf für andere Nutzungen mehr gibt, könnten also artenreiche Naturschutzgebiete in der Stadt entstehen. Der Stefan Körner, Professor für Landschaftsbau und Vegetationstechnik an der Universität Kassel, zuckt bei diesem Gedanken zusammen.
"Die Frage ist immer, wie man die Pflege gewährleisten kann."
Für ein bestimmtes Maß an Verwilderung eigneten sich städtische Freiräume gut, sagt Körner. Und die Spontanvegetation berge oftmals interessantere Prozesse als der klassische Park mit Rasen, Bäumen und Bänken. Aber ohne Pflege würden eben ganz schnell unwirtliche Räume entstehen, in denen man den Kontrollverlust fürchte.
"Das ist ein ganz heikles Thema, weil es ganz stark mit der Anmutung der Vegetation zu tun hat. Es wachsen dort Pflanzen, die als Unkräuter konnotiert sind, und deswegen wird das als Schmuddelecke identifiziert und dann wird da Müll abgelagert."
Von Landschaftsarchitekten und Ökologen ist die Wildnis in der Stadt längst entdeckt worden - nicht nur wegen ihres ökologischen Wertes, sondern wegen ihres ganz speziellen Charakters. Wenn es eine Form von Landschaft in den Städten gebe, sagt der Gesellschaftswissenschaftler Ulrich Eisel, dann sei es die der so genannten "Stadtnatur". Das sei eben die Utopie von verwilderter Natur, die die Zivilisation überwuchert und sich ein Gelände zurückerobert. Aber genau deswegen, meint Ulrich Eisel, stoße sie auch auf viel Ablehnung:
"Wenn 'Stadt' eine Zone des geordneten, geregelten, zivilisatorischen hygienischen, sauberen Lebens ist, dann ist das schmuddelig - dann ist das einfach eine Gefahr für das geordnete Leben. Ob das real so ist, ist ein anderes Thema. Aber ideologisch gesehen gibt es eine Aversion gegenüber dem Wildwuchernden, nicht Gezähmten, wenn es am falschen Ort stattfindet."
Mit anderen Worten:
"Das hat etwas Subversives. Mit der Spontanvegetation ist zum Teil auch eine neue Individualität in die Anlagen gekommen. Man sieht, ob ein Park frisch gepflanzt wurde oder aus einer alten Brache stammt."
Stefan Körner schwärmt vom Geruch der Robinienblüten oder von der Verbreitung der Budleia im Ruhrgebiet. Das Eine ein Neophyt - eine aus Amerika eingewanderte Pflanze - das Andere eine verwilderte Gartenpflanze: der Schmetterlingsstrauch. Ganz zu schweigen von den Birken, den Brombeerbüschen und den Wildkräutern, die sich rasch verbreiten.
Ästhetisch betrachtet hat die Stadtnatur also Einiges zu bieten. Doch bei der Robinie fängt das Problem schon an. Die ist zwar schön, aber von den Naturschützern nicht geliebt, weil sie nicht zur heimischen Pflanzenwelt gehört, schlimmer noch: diese durch ihr schnelles Wachstum sogar bedroht.
"Naturschützer neigen dazu, das, was neu ist, zu bekämpfen. Da gibt es dann Diskussionen, ob der tatarische Lattich auf Rügen sich in den Spülsäumen ansiedelt, ob das jetzt schlimm ist oder nicht. Und das wird meistens danach entschieden, ob sich die Art bescheiden 'einnischt', oder ob sie dominant wird. Und Verdrängen bedeutet immer für die heimische Natur - für die es ohnehin schon eng ist - wird es noch enger. Und es wird suggeriert, es könnten die fremden Arten heimische Arten zum Aussterben bringen. Aber auf der empirischen Ebene konnte das noch nicht nachgewiesen werden.
Tatsächlich ist das eine Diskussion darüber mit den fremden Arten: gehören die zu unserer Identität, welches Recht haben Fremde, unsere Identität zu verändern? Man könnte letztendlich die Leitkulturdebatte auf dieser Ebene des Naturschutzes widerspiegeln. Und es ist objektiv so, dass die Arten, die wir heute als Inbegriff von Heimat empfinden - Kornblume, Wiedehopf, Hase - alle zu einer bestimmten Zeit eingewandert sind."
Glücklich ist Stefan Körner nicht über diese "Überfremdungsangst". Das spontan aufgetauchte Fremde, sagt er, mache doch die städtische Wildnis gerade aus. Deshalb plädiert er dafür, in die städtische Natur einzugreifen - mit Neophyten.
Würde man bei der Ansiedlung bestimmter Arten einfach ein bisschen nachhelfen, so könnte man letztendlich auch die Akzeptanz für die Natur der Brache erhöhen. Was Körner für das Reich der Pflanzen beschreibt, ist in der städtischen Tierwelt längst passiert: Wilde Tiere sind in die Städte zurückgekehrt, die man vormals nur aus dem Zoo oder Wildpark kannte.
Der Mensch, der ihnen zuerst Lebensraum raubte, hat ihnen in der Stadt unfreiwillig ein bequemes Leben geschaffen. Füchse, Wildschweine, Steinmarder oder Waschbären sind auf der Straße keine Seltenheit mehr. Städte, schreibt der Biologe Cord Riechelmann, würden zum Fluchtpunkt der Artenvielfalt. Dort finden Pflanzen noch nährstoffarme Böden und Tiere einen reich gedeckten Tisch. Und - möchte man hinzufügen - eine neugierige Nachbarschaft mit den menschlichen Bewohnern.