Stadt im Wandel

Von Astrid Freyeisen · 03.05.2010
China will sich mit der Expo offen und modern darstellen. Über 200 Nationen, Städte und Organisationen präsentieren sich unter dem Motto: bessere Stadt - besseres Leben. Und der Ort dafür ist gut gewählt: Shanghai selbst ist ein Symbol der Moderne.
Ein paar Blocks nördlich der Nanchang-Straße vernichtet die Abrissbirne wieder einen Teil des alten Shanghai - enge Gässchen, schmale zweistöckige Häuser mit Hof und steinernem Tor. Die Chinesen nennen die Gassen "longtang". Plakatwände kündigen an, was nach ihnen kommt: ein Apartmentkomplex, mehrere Türme, alle mindestens 30 Stockwerke hoch.

Das Versprechen: Moderne, Luxus, Reichtum in einer temporeichen Stadt. Symbol dafür ist das 492 Meter hohe Weltfinanzzentrum, eins der fünf höchsten Gebäude der Welt. Ein gläserner Turm, der aussieht wie ein Flaschenzieher. Der Aufzug zur Besucherplattform rast in nur 66 Sekunden in den 95. Stock hoch.

Ständig wechselt das Licht: grün, gelb, blau, in psychedelisch-poppigen Kreisen. Welch eine Show! Die Zukunft scheint in Shanghai schon begonnen zu haben.

Doch Luftlinie zwei Kilometer entfernt in der Nanchang-Straße könnte das historische Shanghai überleben. Weil dort Menschen leben wie die Familie Xu. Die Xus haben ganz bewusst eins der heruntergekommenen Häuser gekauft und renoviert. Um dort zu wohnen, erzählt die 20-jährige Xu Jingyi:

"Ich wurde in einer longtang-Gasse in der Shanghaier Altstadt geboren. Aber meine Erinnerung setzt erst ein, als wir schon in einem modernen Apartment auf der anderen Seite des Flusses im Stadtteil Pudong gewohnt haben. Ich war klein und weiß nur noch, dass die Wohnung groß war. Unsere finanzielle Situation wurde besser und besser. Wir sind dann öfters umgezogen. Immer in Wohnungen im 20. oder 30. Stock. Unsere Nachbarn haben wir nie kennen gelernt. Wir haben einander gegrüßt, aber mehr nicht.

Als meine Mutter mir dann dieses alte Haus in der Gasse gezeigt hat, habe ich mich sofort darin verliebt. Mit den Nachbarn verstehe ich mich gut. Ich halte gern ein Schwätzchen mit den alten Leuten, die draußen in der Sonne sitzen."

Manchmal radelt ein fliegender Händler durch die Gassen. Sein Lautsprecher am Fahrradlenker wirbt in Endlosschleife: kaufe alte Waschmaschinen, Computer, Kühlschränke. Shanghai wird nicht nur immer grüner, sondern auch bunter. Beete voller Blumen säumen die Gehwege der Einkaufsstraßen. Viele Häuser werden auf die Schnelle noch gestrichen. Die Verwaltung will um jeden Preis bei der Expo einen positiven Eindruck hinterlassen.

Sogar das Filetstück der Stadt hat sie untertunneln und umbauen lassen: die berühmte Uferpromenade Bund. Sie soll zu einer Flaniermeile werden. Spaziergänger sollen im Grünen die alten Kolonialbauten bestaunen und über den Fluss blicken, auf die glitzernde Kulisse der Wolkenkratzer. Ganze Wagenladungen an Bäumen wurden herangekarrt und eingepflanzt, kurz bevor der Bund nach dem Umbau wieder eröffnete.

Noch vor 20 Jahren gab es in Shanghai überhaupt keine U-Bahn. Heute ist es das siebtgrößte Netz der Welt. Und: Kaum ein anderes wächst so schnell. 400 Kilometer sind fertig, 2030 voraussichtlich fast doppelt so viel. Und weil an mehreren Linien gleichzeitig gebaut wird, ist der dumpfe Lärm der riesigen unterirdischen Baustellen seit Jahren ein normales Geräusch in Shanghai:

Die Stadtplaner versuchen, schneller zu sein als das Wachstum Shanghais. Geschätzte 20 Millionen Menschen zählt die Stadt. Drei Millionen nehmen täglich die U-Bahn. Ziel des Plans sind acht Millionen. Die weiß-roten Schilder mit dem M für Metro sollen in allen Vierteln zu finden sein.

Selbst Satellitenstädte wie Anting weit draußen beim Volkswagenwerk und der Formel-Eins-Strecke werden angebunden – damit das Zentrum endlich entlastet und mehr Menschen in die Satellitenstädte ziehen. Bisher gleichen sie Geisterstädten, in die wegen der Entfernung zur Innenstadt kaum wer ziehen will.

Die ersten Maschinen werden am neuen Terminal des Inlandsflughafens Hongqiao aufgerufen. Ein Meilenstein kurz vor der Expo: Bevor Hongqiao zwei im März den Betrieb aufnahm, waren am alten Terminal pro Jahr 25 Millionen Menschen abgefertigt worden. Beide Terminals zusammengenommen, sollen es bald 40 Millionen sein.

Neue Flughäfen werden in China zwar überall gebaut. Nicht jedoch einer wie Hongqiao zwei: Er ist als Knotenpunkt zwischen Luft, Straße und Schiene angelegt – eine Premiere für China. Und Schiene bedeutet U-Bahn, Hochgeschwindigkeitszug nach Peking und Transrapid. Die Bahnhöfe für Hochgeschwindigkeitsbahn und Transrapid sind im Bau, die U-Bahn fährt schon. Die ersten Passagiere waren begeistert:

Mann1: "Dieser neue Terminal passt zu Shanghai als internationaler Metropole. Die Erweiterung war absolut notwendig."

Mann2: "Ein solcher Verkehrsknotenpunkt ist eine sehr wichtige Sache für China. Wir haben so viele Menschen. Es reicht nicht, wenn man sich nur auf Taxis und Busse verlässt. Eine U-Bahn zwischen den beiden Shanghaier Flughäfen ist absolut notwendig, um diesen ganzen Verkehr zu bewältigen."
Vom internationalen Flughafen Pudong zum Inlandsflughafen Hongqiao musste man sich, bevor der Terminal in Betrieb ging, über die stauverseuchten Straßen quälen – selbst wenn alles glatt ging, dauerte die Fahrt anderthalb Stunden. Nun verbindet eine U-Bahnlinie die beiden Flughäfen. Und dann ist da ja noch der Transrapid – wann der aber fahren wird, weiß keiner zu sagen. Weder das Flughafen-Management noch Shanghaier Verkehrsexperten, am wenigsten natürlich die Passagiere. Grund ist angeblich ein undurchsichtiges Tauziehen zwischen Ministerien in Peking.

Seit über fünf Jahren existiert am Flughafen Pudong eine 30 Kilometer lange Demonstrationsstrecke des Transrapid - die einzige kommerziell genutzte in der Welt. Dort erreicht die Magnetschwebebahn Tempo 430. Was aber fast nur Touristen entzückt. Denn die einzige weitere Haltestelle spuckt den Reisenden am Messegelände aus, eine halbe Autostunde vom Stadtkern entfernt. Ein Grund, warum dieses Projekt selbst im tempoberauschten Shanghai umstritten ist.

Das Grundgefühl in dem Gewusel der 20-Millionenstadt ist Hektik und Atemlosigkeit. Wer etwas Schönes im Schaufenster sieht, sollte es lieber schnell kaufen – schon morgen könnte der Laden abgerissen sein. Es ist typisch für Chinesen und vielleicht besonders typisch für Shanghaier, dass sie die Modernisierung begrüßen. Dem Wandel gegenüber sind sie meist nicht abgeneigt – wenn sie denn keine finanziellen Nachteile erleiden. Wenn doch, fällt das Urteil häufig aus wie im Herbst 2008, als die Bewohner eines Gassenviertels wegen des U-Bahnbaus ausziehen mussten:

Mann: "Diese Gasse wurde in den Dreißigerjahren gebaut. Sie ist noch sehr schön. Die Lage ist Gold wert – so zentral. Jetzt siedeln sie uns in Apartmenthäuser um – weit draußen vor der Stadt. Sie geben uns nicht genug Entschädigung. Nicht genug, damit wir etwas in vergleichbarer Lage kaufen könnten. Wir Nachbarn wollen nicht ausziehen. Von diesen neuen Siedlungen aus ist es sehr umständlich, zur Arbeit oder zur Schule zu fahren. Ich kenne meine Nachbarn seit Jahrzehnten.

Und jetzt wollen sie uns dazu zwingen, zu unterschreiben, dass wir fortziehen. Ich werde nicht unterschreiben. Erst, wenn ich wirklich will."

Einige Wochen wurde nach verhandelt. Dann stimmte offenbar die Summe der Entschädigung, und binnen kürzester Frist waren die alten Gassen menschenleer. Die Familie Xu hat so einen Zwangsumzug nie erlebt. Dennoch, so erzählt Herr Xu, war für sie die erste gemeinsame Hochhauswohnung mit Sohn, Schwiegertochter und Enkelin zunächst sehr ungewohnt.

Mann: "Im neuen Apartment hatten wir Bad und Küche. Anfangs wollte meine Frau gar nicht umziehen. Aber ich habe sie überredet. In ihrem Alter wurden der Kohlenofen und die hölzerne Toilette langsam aber sicher problematisch. In der neuen Wohnung hatten wir eine Waschmaschine. Und wenn wir die Wäsche trockneten, konnten wir sie einfach an einer langen Stange aus dem Fenster hängen. In den engen Gassen der Altstadt waren wir ständig auf der Suche nach einem sonnigen Fleckchen, wo die Sachen trocknen konnten."

Bis zum 15. Lebensjahr lebte Xu Jingyi mit ihren Großeltern und Eltern unter einem Dach. Dann zog sie, wie so viele Jugendliche, ins Wohnheim ihrer Schule. Shanghaier Eltern sind überzeugt, dass die Kinder so fleißiger lernen und bessere Noten nach Hause bringen. Und daran hängt viel, auch finanziell. Erst seit ein paar Jahren ist die Grundschule kostenlos, nicht aber die Mittelschule, die zur alles entscheidenden Hochschulaufnahmeprüfung führt.

Gelingt es, an einer Uni zu studieren, deren Name auf den Bewerbungsunterlagen später den Weg zu Vorstellungsgesprächen ebnet? Ein Drittel des Einkommens geht in Shanghai gewöhnlich für die Schulbildung der Kinder drauf, private Nachhilfestunden oder Klavierunterricht sind weit verbreitet. Als sich herausstellte, dass Xu Jingyi eine gute Schülerin war, meldeten ihre Eltern sie in einer Eliteschule an:

"Der Druck in dieser Eliteschule war viel höher, als ich es gewohnt war. Früher war ich um fünf Uhr nachmittags mit meinen Hausaufgaben fertig. Dann schaute ich ein bisschen fern und ging um neun schlafen. In der Eliteschule dagegen saß ich bis zehn Uhr abends an den Hausaufgaben. Das war schon hart. Als ich noch auf die alte Schule ging, hatte ich viel Spaß mit der traditionellen chinesischen Schriftkunst. Plötzlich war dafür kaum noch Zeit."

Vor zwei Jahren absolvierte Jingyi die Hochschulaufnahmeprüfung. Ihr Ziel war die Fudan-Universität, die berühmteste Uni in Shanghai. Dafür war ihre Punktzahl aber nicht hoch genug. Für die Fremdsprachenhochschule reichte es - wo viele erfolgreiche junge Beamte, Werbeleute und Journalisten ausgebildet werden.

Doch auch dort bekam Jingyi nicht das, was sie wollte: Sie hatte davon geträumt, Deutsch oder Französisch zu studieren. Ihre Punktzahl beförderte sie jedoch in die Fakultät für Journalismus. Für Xu Jingyi besser als nichts, denn die Fremdsprachenhochschule hat ein gutes Renommee. Darauf ruhen ihre Hoffnungen, wenn bald die Suche nach dem ersten Job ansteht: eine Zeit der Angst für die meisten jungen Hochschulabsolventen. So herrschte im März angespannte Stimmung auf der Jobbörse der deutschen Handelskammer Shanghai.

Mann1: "Seit dem vergangenen Jahr ist die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt erdrückend. Du hast keine Wahl. Sie bieten dir umgerechnet 200 Euro im Monat, aber wenn du das ablehnst, reißen sich viele andere darum. Ich kann es mir nicht leisten, eine Gelegenheit auszulassen."

Frau: "Viele Leute drängen nach Shanghai. Wenn man jung ist wie wir, sollte man abenteuerlustig sein. Jeder hat seinen Traum. Man sollte ihn auch umsetzen. Wir sind jung, also wollen wir das anpacken."

Sie sind 20, 22, und sie kommen aus allen Teilen Chinas nach Shanghai: Es ist das Tempo, die Hoffnung auf Wohlstand, die sie anziehen. Ihre Familien leben oft als Bauern noch wie im Mittelalter. In Shanghai dagegen haben sich die Werte längst verschoben. Die Gesellschaft altert schneller als anderswo in China. Shanghai hat die Ein-Kind-Politik sehr früh umgesetzt, 15 Prozent sind heute über 65 Jahre alt.

Vor einem Jahr startete die Stadtverwaltung eine Kampagne - fürs Zweitkind, wenn beide Eltern Einzelkinder sind. Doch für viele junge Shanghaier ist das keine Option. Zu teuer, sagen sie, zu umständlich in dieser harten Arbeitswelt.

Mann: "Ich fühle mich wirklich hilflos, wenn ich an die hohen Immobilienpreise denke. Man kann rein gar nichts dagegen unternehmen. Nur sich anstrengen und noch mehr Geld verdienen. Wenn ich es mir nicht leisten kann, in Shanghai eine Wohnung zu kaufen, muss ich woanders eine kaufen. Was kann ich sonst machen? Das ist die Realität. Mein Plan: ein paar Jahre in Shanghai zu arbeiten, dann wegzuziehen, um zu heiraten."

Frau: "Bei all diesem Druck, der auf einem lastet, bin ich froh, dass ich wenigstens kein Mann bin. Das hilft ein bisschen."

Die 22-jährige Gao Han spielt auf das höchste Gut, das Statussymbol der Shanghaier an: die eigene Wohnung. Zu mieten ist verpönt. Von jungen Männern wird deshalb erwartet, dass sie eine Eigentumswohnung in die Ehe mitbringen.

Wer sich die nicht leisten kann, hat schlechte Chancen, eine junge Frau aus Shanghaier Familie zu heiraten. Der Druck entsteht schon, bevor überhaupt über Ehe gesprochen wird. Shanghaierinnen stehen im Ruf, die Geldbörse von Verehrern schon in frühen Rendezvous bis aufs Äußerste zu strapazieren. In Umfragen geben sie regelmäßig an, dass viel Geld ihnen am wichtigsten sei. Der Traum von Xu Jingyi klingt da alles andere als typisch.

"Ich träume davon, einen Kindergarten und ein Altersheim aufzumachen. Wenn ich später eine Arbeit habe, werde ich viel Geld sparen und Erfahrungen sammeln. Ich kann mir vorstellen, in einer Behörde zu arbeiten oder aber mit anderen, die ähnliche Ideen haben wie ich.

Ich will meinen Traum verwirklichen, auch wenn es nur ein kleiner ist. Ich könnte einen Kindergarten in einem Haus eröffnen, das vielleicht so groß ist wie unser Haus in der alten Gasse. Das wäre genug für fünf, sechs Kinder."

Mit 20 hat Xu Jingyi schon einiges gesehen von der Welt: Australien, England, Italien, Frankreich, Brunei und Thailand - unter anderem. Als ihre Großeltern jung waren, wären solche Reisen undenkbar gewesen. Sie haben ihr ganzes Leben in Shanghai verbracht - der Stadt des Wandels, des Turbo-Kapitalismus unter kommunistischer Führung, die Stadt der Expo 2010.