Staatstheater Stuttgart

Ein Kaleidoskop der Alltagsscharmützel

Auf der israelische Flagge spiegelt sich der Schatten einer Person
Auf der israelische Flagge spiegelt sich der Schatten einer Person © picture-alliance/ dpa/ Xavier de Torres/Maxppp
Von Elske Brault · 06.03.2015
Der israelische Dramatiker Hanoch Levin erzählt in "Mord" die Geschichte eines Vaters, dessen Sohn ermordet und der dann selbst zum Rächer wird. Der Grad der Aggression im Stück um den israelisch-palästinensischen Konflikt erklärt, warum es 20 Jahre bis zur Deutschlandpremiere des Stücks gedauert hat.
"Wenn wir groß sind, wirst du mich heiraten?" fragt der Junge. Das Mädchen weiß nicht recht, wie sie sein Begehren zurückweisen soll, erst meint sie, sie werde ihn nicht lieben, dann verweist sie auf die Armut des Jungen, es sei zudem langweilig mit ihm, und als ihr nichts mehr einfällt, sagt sie: "und dein Pimmel ist klein."
Dieser kurze Dialog ist typisch für Hanoch Levins gesamtes Stück: Der Versuch, sich gegen den anderen abzugrenzen, führt zu immer heftigeren verbalen Schlägen, und die landen schließlich unter der Gürtellinie. Die Obszönitäten, die sexuelle Gewalt im privaten entsprechen den militanten Aktionen im öffentlichen Bereich. Es lässt sich auch nicht mehr recht sagen, wer angefangen hat: "Ich bin schon seit den zwanziger Jahren hier" sagt der Vater, dessen Sohn von drei Soldaten umgebracht wurde und der deshalb zum Rächer, zum Mörder wird. Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts trifft jüdisches Begehren auf palästinensisches, streiten Menschen, die bis dahin äußerlich nicht zu unterscheiden waren und zusammen lebten, um ein Stück Land. Theoretisch könnten sie es auch gemeinsam bewirtschaften, wenn es ihnen gelänge, die Kultur des jeweils anderen zu respektieren. Aber statt eines erwachsenen "Ich liebe dich nicht, aber ich lasse dich in Frieden leben" erklingen jene infantilen, aggressiven Denunziationen, die Hanoch Levin absurd überspitzt hat.
Es ist nicht einfach, diesen Text auf die Bühne zu bringen, denn bis in die Rollenbezeichnungen hinein hat hier jeder Wortfetzen Bedeutung: Da gibt es den "Blassen Soldaten", den "Erröteten " und den "Braungebrannten", drei Hautfarben für drei Aggregatzustände der Seele: Angesichts der Ermordung des Jungen zu Beginn des Dramas wird der erste blass vor Schreck, der zweite schämt sich, der dritte hingegen hat bereits so oft getötet, dass er abgehärtet ist und keine Regung mehr zeigt.
Nebeneinander von Spaßgesellschaft und Militärdienst
Der polnische Regisseur Wojtek Klemm lässt solche Regieanweisungen nicht aussprechen, sondern setzt eine absurde Bildersprache dagegen und obendrauf: Das Sterben des Jungen visualisiert eine Tänzerin im Hasenkostüm (Brit Rodemund), gefühlte zehn Minuten zuckt sie nervös, schlägt mit den Waden Haken, zittert am ganzen Leibe bis zu atemloser Erschöpfung, kurzum, sie führt das gesamte Bewegungsrepertoire eines Hasen auf der Flucht vor oder aber das der neurotischen Patienten einer psychiatrischen Anstalt.
Im Handumdrehen verwandeln sich die drei Soldaten, die Mörder des Jungen, in grell gekleidete Huren und wieder zurück vom Transvestiten in den Soldaten. Den Frieden – und später erneut den Krieg – verkündet statt des "Boten" im Originaltext eine Sängerin (Nathalie Tiede) im bodenlangen Glitzerkleid, als handele es sich um die Eröffnungsshow der Oscar-Nacht in Hollywood. Das verwirrende Nebeneinander einer hoch entwickelten Demokratie und der diktatorischen Unterdrückung in den besetzten Palästinensergebieten, von Spaßgesellschaft und Militärdienst, setzt Regisseur Klemm so mit leichter Hand ins Bild.
Das ist fantastisch, beeindruckend, und doch wird auch deutlich, warum Hanoch Levins Stück erst beinahe 20 Jahre nach seiner Entstehung auf eine deutsche Bühne kommt. Die Welle der Aggression, die da in den Zuschauerraum schwappt, ist nahezu unerträglich. Und die poetischen Übertreibungen des Textes finden ihre Entsprechungen eher im französischen Surrealismus à la Ionescos "Die kahle Sängerin", der deutschen Erzähl- und Sprechtheatertradition laufen sie zuwider. Wer etwas radikal Ungewohntes im Theater sehen will, dem sei "Mord" am Schauspiel Stuttgart empfohlen. Es braucht allerdings auch seitens des Zuschauers ein wenig Energie und Standfestigkeit – so wie die sieben Darsteller sie bravourös beweisen. Fast 30 Figuren stellen sie vor Magdalena Guts mit biblischen Hügeln bemalte Bühnenwand – und entfalten so ein Kaleidoskop der vielen kleinen Alltagsscharmützel, aus denen sich der große Krieg speist. Nicht enden wollend, bedrückend – und doch immer aufs Neue ertragen und weitergegeben in die nächste Generation.