Staatsmacht und göttlicher Wille

Staat und Kirche sind heute in den meisten westlichen Staaten klar getrennt. Doch bis dahin war es ein langer Weg. Der US-amerikanische Politologe Mark Lilla hat ihn nachgezeichnet.
Die politische Ordnung der meisten westlichen Staaten hat mit Gott nur noch am Rande etwas zu tun: Bei Amtseiden wird er vielleicht noch angerufen, aber sonst herrscht ein breiter Konsens darüber, dass die konkreten Inhalte der Politik mit Theologie nichts zu tun haben.

Damit sind wir, wie der Ideengeschichtler Mark Lilla in seinem neuen Buch zeigen will, nicht nur im globalen Vergleich, sondern auch historisch eher die Ausnahme. Bis in die frühe Neuzeit wurde auch in Europa das Staatswesen durch die "politische Theologie" geregelt, das heißt, politische Macht wurde von höherer Macht und göttlichem Willen abgeleitet oder zumindest damit legitimiert. Spätestens nach der Reformation führte dies freilich zu enorm gewalttätigen Konflikten innerhalb des Christentums, und die grausamen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts bereiteten Lilla zufolge den Boden für das, was er die "Große Trennung" nennt – eine langsam wachsende Überzeugung, dass zum Wohle der Menschheit die Politische Theorie von der Theologie abgesondert werden müsse.

Früher und zentraler Verfechter dieser Trennung ist Lilla zufolge der englische Philosoph Thomas Hobbes, der die Religion entmachtet, indem er den Begründungsspieß radikal umdreht: Religionen entstehen nicht, weil Gott sich den Menschen offenbart, sondern Menschen erschaffen sich Religionen, weil sie von niedrigen Emotionen wie Furcht angetrieben werden.

Von dieser radikalen und für die späteren liberalen Demokratien sehr einflussreichen Kritik an der Religion wandten sich die Aufklärer des 18. Jahrhunderts allerdings wieder ab. Der französische Philosoph Rousseau etwa begriff den menschlichen Drang zum Glauben nicht als das Resultat von Furcht, sondern als innere Kraft und ursprüngliche moralische Fähigkeit des Menschen, die auf eine größere und tiefere Wahrheit verweist, auch wenn wir diese nur vage zu fassen vermögen.

Dass eine solche Auffassung für die westlichen Denktraditionen bis ins 20. Jahrhundert genauso einflussreich blieb wie Hobbes' "Große Trennung", zeigt Lilla im weiteren Verlauf seines Buches ausführlich: So führte das Rousseau‘sche Denken in der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts und den protestantischen und jüdischen Reformtheologien des 19. und 20. Jahrhunderts zu neuen Formen "politischer Theologie".

Mit seiner breiten Ideengeschichte des religiös-politischen Denkens im Westen will Lilla nicht etwa für dessen Rehabilitierung werben, wohl aber für eine bessere Einordnung des Eigenen und des Fremden. Denn im Resultat liefert Lilla mit seinem Buch den Nachweis für die von ihm auch in vielen Aufsätzen vertretene Idee, dass genau diejenige Form der theologischen Rhetorik, die den Westen heute bei islamischen und islamistischen Politikern so maßlos befremdet, auch bei uns bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine lange und intensive Tradition hat.

Die Darstellung dieser Tradition gelingt in diesem Band klar und anregend. Zu kurz gerät allerdings die politische Einordnung in die Gegenwart, mithin die Begründung, warum uns diese Denkgeschichte jetzt überhaupt zu interessieren hat: nämlich mit Blick auf unsere gegenwärtige politische Auseinandersetzung mit dem politischen Islam. Diese findet man in kurzen Aufsätzen von Lilla weit besser und pointierter formuliert als in diesem Buch.

Besprochen von Catherine Newmark

Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religionen
Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl
Kösel, 2013
304 Seiten, 21,99 Euro