Staatsbesuch von Präsident Macron

Eine Chance, den politischen Kindergarten zu beenden

04:30 Minuten
Bei einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt in Berlin blicken Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Macron in verschiedene Richtungen. 15.03.2024; Berlin, Deutschland.
Häufig verschiedener Ansicht: Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz © IMAGO / Political-Moments
Ein Kommentar von Andreas Wirsching · 24.05.2024
Audio herunterladen
Berlin und Paris liegen schon länger politisch nicht auf einer Wellenlänge. Der offizielle Staatsbesuch von Frankreichs Präsident Macron in Deutschland bietet eine Chance, das Verhältnis wieder zu verbessern, meint der Historiker Andreas Wirsching.
„Wir lassen nicht die anderen über unsere Meinungsverschiedenheiten entscheiden“, so lautete einst François Mitterrands selbstbewusste Devise. Aber statt vertraulicher Kommunikation ähnelt das Verhältnis zwischen Olaf Scholz und Emmanuel Macron manchmal fast einer Realsatire: In Hamburg verbreitet der Bundeskanzler mit prekärer Fischbrötchendiplomatie gute Laune und bringt damit den Staatspräsidenten samt Gattin in Verlegenheit. Beim Besuch in Paris schwänzt Scholz dann Macrons wichtige Pressekonferenz.

Konflikte auf offener Bühne

Nirgends treten die Dissonanzen bedrückender zu Tage als in Bezug auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine: Wenn Macron über strategische Ambiguität spricht, schließt Scholz öffentlich und kategorisch jede Lieferung des Taurus an die Ukraine aus.
Frankreich fordert eine europäische Rüstungsindustrie mit deutsch-französischem Kern; Deutschland kauft Kampfjets in den USA und Luftabwehrsysteme in Israel. Zugleich betont Scholz, Deutschland sei nach den USA der zweitgrößte Lieferant von Waffen an die Ukraine; Macron hält dagegen und findet, die französischen Waffen seien im Vergleich zu den deutschen „besonders leistungsfähig“.
Geht’s eigentlich noch? Politischer Kindergarten statt konstruktiver Zusammenarbeit! Und Putin lässt danken.

Dissonanzen, aber auch Hoffnung

Deutschland verfolgt seine Interessen mit mangelnder kommunikativer Achtsamkeit. In Frankreich dagegen wachsen Enttäuschung und Irritation. Eigene Ideen stoßen auf deutsches Desinteresse; kritisiert wird eine zunehmend erkennbare deutsche Selbstbezüglichkeit. Beiderseits des Rheins herrscht wechselseitiges Misstrauen gegenüber den Motiven des anderen. Jeder bemerkt es und viele sagen es, aber ein Fortschritt ist nicht zu verzeichnen. Ist es nicht zum Heulen?
Aber es gibt auch Hoffnung. Die deutsch-französischen Beziehungen sind unabhängig vom Einfluss einzelner Personen geworden. Gibt es Streit zwischen den Partnern, dann verziehen sie sich nicht in die Schmollecke, sondern sagen erst recht: „Wir müssen reden!“ Gerade in Krisenzeiten kommunizieren die zuständigen Personen in den Apparaten der beiden Außenministerien regelmäßig und ohne Bedingungen und stärken damit den bilateralen Austausch.

Lehren aus der Geschichte

Nun können französische und deutsche Interessen niemals identisch sein. Aber das brauchen sie auch nicht. Vielmehr lief der deutsch-französische Motor immer dann besonders rund, wenn beide Seiten den Eindruck hatten, ihrem ganz eigenen Interesse sei im Modus der Integration und Zusammenarbeit am besten gedient.
Unterschiedliche Positionen wirken dann komplementär zusammen, wie etwa 1989, als die Bundesrepublik auf die mögliche deutsche Einheit, Frankreich dagegen auf das Ziel der europäischen Währungsunion blickte. Im besten Fall greifen die nationalen Interessen gleichsam zahnradartig ineinander und entfalten eine neue, konstruktive Dynamik.
Weltpolitisch zum Beispiel kann Frankreich als Atommacht und Mitglied des UNO-Sicherheitsrates viel freier agieren; Deutschland verfügt dagegen über eine ungleich größere Wirtschafts- und Finanzkraft.

Kein Gleichschritt, aber gemeinsame Wege

Frankreichs Interesse richtet sich darauf, die deutsche ökonomische Überlegenheit europäisch einzuhegen. Die Deutschen bräuchten hierauf nicht kleinmütig zu reagieren, denn von den Zukunftschancen eines einheitlichen europäischen Kapitalmarktes etwa würden sie ähnlich profitieren wie von der Einführung des Euro.
Statt nationale Egoismen angstvoll zu pflegen, sollten beide Partner das Prinzip der zahnradartigen Komplementarität ihrer Interessen verstehen und sich immer wieder neu fragen: Welche Vorteile verspricht der Blick zum Nachbarn? Wie erzeugen wir reziproke Dynamik? Vor allem den Deutschen sei dringend empfohlen, sich diese Fragen häufiger als zuletzt in Paris beantworten zu lassen. 

Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der LMU München sowie u. a. Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er ist Verfasser zahlreicher Werke zur deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Der Historiker Andreas Wirsching steht vor einer Bücherwand.
© picture alliance / dpa / Matthias Balk