Staatliche Gewalt in Ägypten

"Viel schlimmer als unter Mubarak"

Ägypten nach dem Militärputsch 2013- der Film "Clash" beschreibt die Unruhen mit einem Kammerspiel der besonderen Art
Szene aus dem Film "Clash", der Ägypten nach dem Militärputsch 2013 zeigt. © AFP / MAHMOUD KHALED
Von Cornelia Wegerhoff · 25.01.2018
Als die Revolution in Ägypten vor sieben Jahren begann, protestierten Hunderttausende nicht zufällig am 25. Januar. Der Feiertag zu Ehren der Polizei mobilisierte deren Opfer. Und heute? Es gebe sogar mehr Folter und Willkür, klagen Menschenrechtler.
Schüsse fallen. Eine Gruppe junger Ägypter geht kurz in Deckung. Im Halbdunklen beginnen einige von ihnen, Steine zu werfen. Sie zielen auf die Polizeistation, vor der sie sich platziert haben. Andere Männer skandieren unterdessen Beschimpfungen gegen den ägyptischen Staat.

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Wie zur Antwort werden von der Wache aus erneut Schüsse abgegeben. Dieses Mal gehen sie direkt in die Menge. "Einer wurde ins Bein getroffen", sagt der Unbekannte, der die Szenen mit seinem Handy filmt. Der Verletzte wird hastig weggetragen. Die wackeligen Aufnahmen erinnern an die vielen Videos von den Straßenschlachten im ägyptischen Revolutionsjahr 2011.

Haben Polizisten Afroto zu Tode gefoltert?

Doch diese Bilder entstanden erst vor drei Wochen: Am 5. Januar, im Kairoer Stadtviertel Moqattam. Die aufgebrachten Männer vor der Polizeiwache sind Freunde und Verwandte von Afroto. So lautet der Spitzname von Mohamed Abdel Hakim. Der 22-Jährige lebt nicht mehr. Er sei in der Polizeiwache von Moqattam zu Tode gefoltert geworden, klagt seine Schwester am nächsten Tag ägyptischen Reportern. Sie kommt gerade aus dem Leichenschauhaus.
"Einer der Mitgefangenen hat uns gesagt, dass sie meinen Bruder an den Haaren gepackt und mit dem Kopf in ein Fass mit Wasser getaucht haben, so lange, bis er keine Luft mehr bekommen hat. Er ist nicht im Krankenhaus gestorben, wie behauptet wurde, sondern in der Polizeiwache. Er trug ganz andere Kleidung, als sie uns gerade seine Leiche gezeigt haben. Die haben ihn umgezogen. Aber seine Haare waren immer noch nass."
Afroto hatte lange lockige Haare, die er als Rastazöpfe trug, wie Fotos von ihm zeigen. Der schlaksige, junge Mann verdiente sein Geld als Anstreicher, wohnte aber noch zu Hause bei den Eltern. Bei einer Straßenrazzia soll Afroto wegen mutmaßlichen Drogenbesitzes festgenommen worden sein. Schon bei der Verhaftung habe ein Polizist begonnen, ihn mit einem Schlappen ins Gesicht zu schlagen, berichtet ein Augenzeuge der unabhängigen ägyptischen Internetzeitung "Mada Masr".
Ein Screenshot der ägypten Internetzeitung "Mada Masr" vom 24.01.2018. Es ist ein Artikel mit dem Bild von Afroto zu sehen.
Ein Screenshot der ägyptischen Online-Zeitung "Mada Masr" vom 24.01.2018.© Mada Masr
Deren Redakteure machen außerdem eine der Personen ausfindig, die zeitgleich in der selben Polizeistation festgehalten wurden wie Afroto. Völlig durchnässt, unterkühlt und offensichtlich schwer verletzt sei dieser bei den anderen Festgenommenen regelrecht "abgeladen" worden, bestätigt der zweite Zeuge. Afroto habe kaum noch atmen können. Die Gefangenen hätten die Polizisten deshalb um Hilfe gerufen. Aber von denen seien nur Äußerungen gekommen wie: "Lasst ihn sterben." Eine der Beamten habe Afroto sogar noch im Vorbeigehen aggressiv in den Körper getreten. Kurz darauf war er tot, sagt der Zeuge. Afrotos Mutter ist fassungslos.
"Wenn ein Polizist jemanden festnimmt, dann bringt er ihn um? Welches Urteil lag vor, dass sie meinen Jungen einfach umbringen konnten? Hätten sie ihm doch erst einen Prozess gemacht!"
Auf der Polizeiwache von Moqattam weist man zunächst alle Schuld von sich. Stattdessen verbreiten sogenannte "anonyme Sicherheitskreise" das Gerücht, der junge Mann sei an einer Überdosis gestorben, wie prompt in vielen ägyptischen Tageszeitungen zu lesen ist. Auf dem vom Gesundheitsministerium ausgestellten Totenschein, den Afrotos Familie später Reportern zeigt, nennt ein forensischer Pathologe aber eine schwere Verletzung der Milz und innere Blutungen als Todesursache. Zwei rangniedrige Polizisten werden in Untersuchungshaft genommen. Die Kairoer Staatsanwaltschaft ermittelt.

UN: "In Ägypten ist Folter systematische Praxis"

Was mit Afroto geschah, ist kein Einzelfall in Ägypten. Der für Folter zuständige Ausschuss der Vereinten Nationen erklärte in seinem Jahresbericht 2017, ihm lägen Fakten vor, die "zu dem unausweislichen Schluss führen, dass Folter in Ägypten systematische Praxis ist".
"Amnesty International beobachtet seit der Amtsübernahme durch Präsident al-Sisi eine der der schwersten Krisen für die Menschenrechte in der modernen Geschichte von Ägypten."
Das sagt Markus Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland.
"Polizei, Militär, aber auch die Geheimdienste gehen mit exzessiver und willkürlicher Gewalt vor. Und wir gehen von Zehntausenden von politischen Gefangenen aus. Es wurden allein seit 2013 19 neue Gefängnisse errichtet. Folter wird beispielsweise angewendet nach willkürlichen Festnahmen, um dann erwünschte Geständnisse gewaltsam herbeizuführen. Und wir sehen, dass weiter Menschen in Ägypten verschwinden. Sie werden Opfer von staatlichen Entführungen der Geheimdienste, von denen man nie wieder hört."

Ärztin: "Sehr viel schlimmer als unter Mubarak"

"Das ist Alltag", bestätigt Aida Seif al-Dawla in Kairo. Die 63-Jährige ist Psychiaterin und eine der Gründerinnen des Nadeem-Zentrums gegen Gewalt und Folter.
"Polizei und Militär zahlen es den Ägyptern jetzt heim. Sie sorgen dafür, dass das, was ihnen 2011 passiert ist, nicht wieder passiert."
Aida Seif al-Dawla meint die ägyptische Revolution. Damals wehrten sich die Menschen gegen die staatliche Willkür und stürzten Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak, den seit über 30 Jahren regierenden Präsidenten. Doch danach hätten die demokratischen Kräfte im Land versagt und die Gewalteskalation, die Ägypten derzeit erlebe, sei schlimmer als je zuvor, so die Ärztin bitter:
"Sehr viel schlimmer. Es ist weder zu vergleichen mit der Mubarak-Zeit noch mit der Zeit der Militärherrschaft unmittelbar danach oder der Zeit der Muslimbruderschaft. Die Verhaftungen, die Denunzierungen, die Morde – das ist ein Albtraum. Es gibt keine Rechtsnorm mehr. Die Sicherheitskräfte haben grünes Licht, Gewalt anzuwenden. Und normalerweise genießen sie Straffreiheit, wenn sie foltern."
Aida Seif al-Dawla ist 63 Jahre alt, längere weiße Haare, weiß-schwarze Bluse, sitzt und lächelt. Sie ist Psychiaterin und eine der Gründerinnen des Nadeem-Zentrums gegen Gewalt und Folter in Kairo.
Aida Seif al-Dawla ist Psychiaterin und eine der Gründerinnen des Nadeem-Zentrums gegen Gewalt und Folter in Kairo.© Amnesty International / Dana Smillie

Einzige Anlaufstelle für Opfer staatlicher Gewalt

Das Nadeem-Zentrum befindet sich in der Kairoer Innenstadt. Im sogenannten "Archiv der Unterdrückung" dokumentiert es dort Medienberichte über staatliche Folter und Todesfälle in Ägypten wie die von Afroto. Um Opfer oder Hinterbliebene juristisch zu unterstützen, kooperiert das Zentrum mit anderen Organisationen.
Hauptaugenmerk der Nadeem-Zentrums ist jedoch seit 25 Jahren die medizinische und psychologische Behandlung von Betroffenen. Ein Team aus erfahrenen Ärzten und Psychiatern hilft sowohl Frauen, die vergewaltigt wurden oder häusliche Gewalt erfahren haben, als auch den Opfern staatlicher Gewalt. Letztere haben nirgendwo sonst im Land eine Anlaufstelle. Die Staatsmacht hat in Ägypten einen langen Arm. Selbst die Krankenhäuser verweigerten offizielle Arztberichte, sobald klar werde, dass ein Patient von der Polizei verletzt wurde, sagt die Ärztin Aida Seif al-Dawla. Aber das sei schon seit Jahrzehnten so. Die Ägypterin ist mit dem Kampf gegen die Unterdrückung aufgewachsen.
"Ich hatte Leute in meiner Familie, Onkel, die schon während der Zeit von Präsident Nasser aus politischen Gründen verhaftet worden sind. Auch sie wurden gefoltert. Aber wenn sie freigelassen wurden, dann war da immer das Bild des Helden, der aus dem Gefängnis kam."
Ein falsches Bild, wie al-Dawla später zusammen mit befreundeten Psychiatern erkannte. Ihr Schlüsselerlebnis war der ägyptische Metallarbeiterstreik 1989, bei dem die Sicherheitskräfte einen Mann erschossen, hunderte Demonstranten festnahmen und später auch den Ärzten nahestehende Menschenrechtsaktivisten. Auch sie wurden gefoltert. Und schon damals habe man keine Klinik gefunden, die die Rippenbrüche und ein taub geschlagenes Ohr bestätigen wollte, so Aida Seif al-Dawla.
"Weil sie unsere Freunde waren, führten wir tiefgehende Gespräche. Und wir erkannten, dass da ein Gefühl der Erniedrigung ist, aber auch Wut und ein Wunsch der Rache. Und so kam uns die Idee, eine Klinik einzurichten."
Unter der Bezeichnung "Nadeem". Das ist im Arabischen nicht nur ein männlicher Vorname, sondern der Begriff für einen engen Vertrauten.

Staat lässt Nadeem-Zentrum schließen

Bei den Sicherheitsbehörden des Al-Sisi-Regimes weckte das Engagement der Ärzte unterdessen zunehmend Misstrauen. Ähnlich wie zuvor schon andere bekannte Menschenrechtsaktivisten und Journalisten wurden Aida Seif al-Dawla und die Geschäftsführerin Magda Adly mit einem Ausreiseverbot abgestraft. Und im gleichen Jahr standen erstmals Beamte vor der Tür, die die Klinik des Nadeem-Zentrums schließen wollten. Wegen angeblich fehlender Lizenzen, hieß es im zuständigen ägyptische Gesundheitsministerium. Die Schließungsanordnung selbst soll jedoch direkt von der ägyptische Regierung ausgegangen sein.
"Der Vorwurf in der Anordnung des Kabinetts war: Dass wir Terroristen unterstützen und dass wir der Polizei unterstellen, Leute zu foltern."
Am 9. Februar 2017 wurde das Nadeem-Zentrum dann geschlossen.
"Da war der ganze Bürgersteig voller Polizei und sie zerrten unseren Hauswächter mit sich. Ich sagte: 'Lasst den Mann los. Ich bin hier die Verantwortliche.' Ich hatte da noch nicht kapiert, dass die Beamten schon längst unsere Räumlichkeiten dicht gemacht hatten, amtlich versiegelt: Die Klinik, das Frauenberatungszentrum und den Hauptsitz unserer Organisation."
Der Rechtsanwalt des Nadeem-Zentrums legte Widerspruch ein. Ein Gerichtsverfahren wurde angestrengt. Am 21. Februar soll das Urteil gesprochen werden. Nur das Frauenberatungszentrums und die Büros konnten nach monatelangen Verhandlungen wieder geöffnet werden. Doch an der Eingangstür zur Klinik kleben weiterhin die Reste des amtlichen Siegels. Die Schlösser sind über Kreuz mit Paketband überklebt. Im Büro nebenan stellt sich Mona Hamed vor. Mit einem ironischen Lachen.
"Ich bin jetzt die Direktorin einer geschlossenen Klinik."
Auch sie ist Psychiaterin und die Leiterin des Teams, das sich um Gewaltopfer kümmert. Immer noch.
"Wir haben in den sozialen Medien bekannt gemacht, dass wir den Service weiter anbieten. Irgendwo. Eben nicht hier im Zentrum. Wir haben unsere Handy-Nummern dazu geschrieben. Man kann uns kontaktieren."
Niemand werde im Stich gelassen, sagt Mona Hamed leise, aber entschlossen. Immer noch gebe es Tag für Tag Anrufe von Opfern staatlicher Gewalt.
"Manche Leute kommen aber erst nach Monaten oder sogar erst nach einem Jahr. Sie leiden unter Angstzuständen, Panikattacken, Schlaflosigkeit und sozialer Isolation. Sie sperren sich in ein eigenes Gefängnis ein. Manche sprechen nicht mal mehr mit ihrer Familie, sind hilflos. Das ist eine Mischung aus posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen."

"Folter auf fast jeder Polizeiwache im 'Kühlschrank'"

Die Experten des Nadeem-Zentrums setzen bei der Behandlung auf eine individuelle Psychotherapie. Ihre "Klienten", wie sie sagen, kommen aus allen Regionen Ägyptens, aus allen Schichten der Gesellschaft. Die Willkür von Polizisten, Soldaten und anderen Sicherheitskräften könne jeden Bürger treffen, weiß Mona Hamed.
"Wenn jemand angehalten wird von diesen Leuten und die ihn nach dem Ausweis fragen oder ihn durchsuchen, dann muss er höflich bleiben. Das heißt: er muss still bleiben, keine Widerworte geben und nicht in die Augen des Polizisten oder Soldaten schauen. Er hat kein Recht zu diskutieren. Und wenn der Polizist keine Uniform trägt und man deshalb fragt: 'Ja, wer bist du denn?' – dann ist das meistens schon das Ende der Geschichte."
Dann käme es zur Festnahme wie im Fall von Afroto. Die Drohung, vergewaltigt oder umgebracht zu werden, sei dabei "normal".
"In jeder Polizeistation gibt es einen Raum, der 'talaga' genannt wird, 'Kühlschrank'. Es ist bekannt, dass das der Ort ist, wo gefoltert wird. Sie haben dort die komplette Ausstattung: Stöcke, Elektroschock-Geräte. Sie fesseln die Hände auf dem Rücken und hängen die Leute an den Handschellen auf. Das ist sehr schmerzhaft. Bei einer anderen Methode muss der Gefangene die Arme um die Knie schlingen. So wird er dann gefesselt und an einer Stange aufgehangen. Sie nennen die Stange 'Shaweya', 'Grill'."

Unterstützt Ägyptens Regierung Folter?

"Das sind Gegenstände, die nicht vom Taschengeld der Polizeibeamten gekauft werden."
So Aida Seif al-Dawla, Mitgründerin des Nadeem-Zentrums gegen Gewalt und Folter.
"Das kommt aus dem Haushalt des Innenministeriums. Also, wenn ein Staat Geld dafür ausgibt, Folter-Equipment in Polizeistationen zu haben, dann ist das eine Entscheidung. Die Entscheidung für Gewalt. Sie ist Teil einer systematischen Staatspolitik, die Entscheidung, so zu regieren."
Der ägyptische Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi, der sich in wenigen Wochen – Ende März – zur Wiederwahl stellt, streitet das ab.
Ägyptens Präsident Abdel Fatah Al-Sisi hier bei einem Besuch in den USA am 2. April 2017
Ägyptens Präsident Abdel Fatah Al-Sisi.© AFP / Brendan Smialowski
Zwar betont er immer wieder, dass sein Land in aller Härte gegen Staatsfeinde wie etwa islamistische Terroristen vorgehen müsse. Aus Anlass eines Staatsbesuches in Frankreich im vergangenen Oktober erklärte al-Sisi jedoch, als er während einer Pressekonferenz auf Foltervorwürfe angesprochen wurde:
"Das ägyptische Volk lehnt alle Gewaltpraktiken, Diktatur und das Nichtrespektieren von Menschenrechten ab. Aber wissen Sie, ich bin verantwortlich für 100 Millionen ägyptische Bürger und das in dieser unruhigen Situation. Und terroristische Ideologien werden nicht akzeptieren, dass wir mit anderen in Frieden leben wollen. Dennoch es ist sehr wichtig, dass Sie wissen, dass wir keinen Gebrauch von Folter machen."

Das ägyptische Nadeem-Zentrum gegen Gewalt und Folter erhält 2018 den Menschenrechtspreis von Amnesty International Deutschland.

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