Spurensuche

Vorgestellt von Tilman Krause · 25.06.2006
"Wo gehen wir hin? Immer nach Hause!" So heißt es irgendwo in den Fragmenten des "Novalis". Auch Nicolaus Sombart, der bekannte Soziologe und Berliner Salonnier, kommt bei allem, was er schreibt, stets auf sich selbst zurück. Selbst wenn er sich auf Reisen begibt, erkundet er letztlich seine eigene Seelenlandschaft.
1972 fuhr er nach Rumänien. Er war eingeladen, an einer Konferenz für Zukunftsforschung teilzunehmen. Aber so genau er auch die trübe sozialistische Wirklichkeit wahrnahm, die ihn im Reiche Ceaucescus umgab, im Grunde reiste Sombart in die eigene Vergangenheit. Reiste "ins Land meiner Mutter", wie es im Untertitel heißt. Denn die Mutter war Rumänin. Sie hieß Corinna Leon und stammte aus einer reichen Bukarester Familie. Anfang der zwanziger Jahre heiratete sie den dreißig Jahre älteren berühmten deutschen Nationalökonomen Werner Sombart. Aber sie brachte ein Element in diese Ehe mit und damit in das geistige Erbe ihres 1923 geborenen Sohnes Nicolaus, das dieser als seine hauptsächliche Prägung anzusehen lernen sollte. Gegen das Preußische, Korrekte, Wissenschaftsgläubige, Männliche, das für Nicolaus Sombart der eigene Vater repräsentiert, setzte die Mutter, seiner symbolischen Deutung zufolge, das orientalische, sinnliche, ausschweifende, weibliche Element.

Nicolaus Sombart hat sich immer als ein Mensch zwischen allen Stühlen empfunden. Die stringente Universitätskarriere schlug er aus. Auch er schrieb, forschte, arbeitete sich publizierend, wie der Vater, am deutschen Nationalcharakter ab. Aber er tat es und tut es noch immer mit dem Gestus des genießenden Dilettanten, des Müßiggängers und geistigen Flaneurs. Und er tut es in literarischen Mischformen. Auch dieses Rumänienbuch ist eine solche Mischung. Es verbindet Reisetagebuch, Schilderungen erotischer Abenteuer, wissenschaftliche Erörterungen vor allem zu dem französischen Utopisten Fourier mit kulturphilosophischen Betrachtungen zu Rumänien. Zunächst einmal aber stellt das Buch eine Spurensuche dar. Suche nach den Spuren familiärer Vergangenheit, deren der kleine Nicolaus in den dreißiger Jahren selbst noch teilhaftig geworden war. Fast vierzig Jahre später nimmt sich die Wiederbegegnung mit dem Landsitz der Familie mütterlicherseits in Crevedia wie folgt aus:

"Das große, weiße, sich nach allen Seiten hin auf Loggien öffnende Haus war in der fruchtbaren grünlichen Farbe verputzt worden, derer man sich zur Tarnung militärischer Einrichtungen bedient. Vor allem war es jedoch deswegen nicht mehr wieder zu erkennen, da man die Nebengebäude aufgestockt und somit die eleganten Proportionen zerstört, sowie ringsherum eine Reihe kastenförmiger, rein funktionaler Gebäude errichtet hatte, welche – ebenfalls grün verputzt – die alte Villa wie das bizarre Anhängsel eines modernen Wohnblocks aussehen ließen. …Wenn ich jemals in meinem Leben glücklich gewesen bin, so war es wohl in diesem Haus, wo ich den Luxus ohne Opfer, Freundschaft ohne Leiden, das süße Leben ohne Verpflichtungen in weitaus größerem Maße fand als im Haus meines Vaters, dessen Lebensstil unendlich bescheidener war. "

Trotz allem herrschten in dieser Welt die moralischen Vorstellungen des bürgerlichen Zeitalters. Und eben diesem Kodex, das erfährt der Sohn auf dieser Reise, opferte die Mutter eine große Liebesleidenschaft. Im Kern also lüftet Nicolaus Sombart in diesem Buch das gut gehütete Geheimnis von der großen Liebe seiner Mutter zu einem anderen Mann als dem, den sie dann geheiratet hat. Dieser Mann war auch Rumäne. Und um der Mutter posthum eine späte Genugtuung zu verschaffen, ja sogar um sie zu "rächen", wie es am Schluss des Buches heißt, liefert Sombart hier eine Aufwertung alles Rumänischen, beschreibt Rumänien, mit Thomas Mann zu sprechen, als geistige Lebensform, die zum deutschen Askeseprogramm das Evangelium der ausgelebten erotischen Sehnsüchte stellt. Alles, was Sombart im Rumänien des Jahres 1972 aufnimmt, spricht ihm von dieser erotischen Kultur: die merkwürdige Mittelposition zwischen Habsburgern und Osmanen, die das einstige Fürstentum Walachei innehatte, die rumänische Zigeunermusik, der eine hinreißende Episode gewidmet ist, Ess- und Trinkgewohnheiten, vor allem die traditionelle rumänische Süßspeise "Halva", sogar die rumänische Architektur.

Wir erleben hier die Selbstfindung eines deutschen Mannes im Zeichen jener Kultur, aus der die eigene rumänische Mutter stammt. Auf einmal wird dem Autor klar, wie sehr ihn schon früher, als Kind und unbewusst, diese Kultur geprägt hatte. Er fasst sie in das Dingsymbol des Diwans, des bevorzugten Möbels im Berliner Salon seiner Mutter. Aber erst jetzt, unter der Einwirkung seiner Reise, vermag er die ganze Bedeutung dieses Diwans zu erfassen. Und er schwingt sich zu einer wahren Hymne auf das Möbel auf:

"Oh Diwan! Hochburg der Freuden, der du die Menschen in deine weichen Pfühle aufnimmst, sie aus der orthogonalen Strenge befreist, ihnen erlaubst, sich auszustrecken, sich zu entspannen, sich ausgebreitet oder eingekuschelt, ganz wie es ihnen gefällt, den Freuden des Schlafs und des Halbschlafs sich hinzugeben – zu jeder Tages- oder Nachtzeit, nicht um abzuschalten und Kräfte zu sammeln, sondern um sich wohl zu fühlen, zu genießen, mehr man selbst zu sein. Ist es nicht so, dass das Lesen nur dann zum Vergnügen wird, wenn man ausgestreckt auf bunten Polstern liegt?"

Mit Nicolaus Sombarts "Rumänischer Reise" runden sich die Memoiren des Autors – bestehend aus "Jugend in Berlin", "Pariser Lehrjahre" und dem Buch über seine Heidelberger Studentenzeit zu einer Tetralogie. "Rumänische Reise" bildet den Schlussstein derselben, ein facettenreich funkelndes Juwel autobiographischen Schreibens, das heraufbeschwört, was diesem Leben im tiefsten zugrunde liegt: das mütterliche Erbe. Selten war der faustische "Gang zu den Müttern" mit soviel Erkenntnis und produktiver Selbstentzifferung verbunden.

Nicolaus Sombart: Rumänische Reise - Ins Land meiner Mutter
Transit Verlag, Berlin 2006