Spuren in die Vergangenheit

Rezensiert von Georg Gruber · 08.12.2005
Die Amoriter und Edomiter, die Hagariter und Kadmoniter – zwei Dinge haben diese Völker gemeinsam: Sie tauchen in der Bibel auf, und sie sind untergegangen. Wer mehr über diese und andere untergegangene Völker wissen möchte, erfährt es in dem Lexikon von Harald Haarmann. Es ist ein Buch voller Spuren in die Vergangenheit.
Was meinen Sie, welche Volksgruppe war im Jahre Null, zu Beginn unserer Zeitrechnung in Europa am weitesten verbreitet? Die Römer waren es nicht, sondern die Kelten. Von der Alpenregion und dem nördlichem Alpenvorland aus besiedelten sie Gebiete auf der Iberischen Halbinsel, in Mittel- und Südosteuropa, ja sie kamen sogar bis Kleinasien. Die keltischen Völker gliedern sich in zwei Gruppen, schreibt Harald Haarmann. Es gab Inselkelten und Festlandkelten:

Lexikon, Seite 162: "Während die erste Gruppe noch heute ihre Nachkommen in den Iren, den Gälen in Schottland, den Sprechern des Kymrischen in Wales, den Bretonen in Nordfrankreich hat, sind alle keltischen Ethnien und ihre Sprachen auf dem Kontinent untergegangen."

Alles was verschollen, vergraben, versunken ist, hat für den zivilisationsmüden Menschen der hektischen Jetztzeit offensichtlich einen besonderen Reiz: Schätze, Städte, Schiffe - und auch Völker. Kelten, Kassiten, Karthager, Awaren, Azteken, Babylonier, Germanen, Geten, Goten oder Guantschen.

Lexikon, Seite 121: "Guantschen nannten sich die Bewohner der Kanarischen Inseln (…) vor der Nordwestküste Afrikas. (…) Die Unwegsamkeit der Bergtäler hat die Entstehung eines besonderen Kommunikationssystems bedingt, mit dessen Hilfe sich die Guantschen über die Täler hinweg von einem Berghang zum anderen verständigten, eine Pfeifsprache."

Harald Haarmann ist kein Mystiker, der sich in langen Schilderungen okkulter Bräuche und geheimer Riten ergehen würde. Er ist Sprachwissenschaftler, ein anerkannter Experte. Ein seriöser Mann also, und so liest sich auch sein Lexikon - manchmal etwas trocken. Und, das haben Nachschlagewerke meist so an sich, man würde oft gerne noch tiefer in die Materie einsteigen. Aber wenn man mehr als 200 untergegangene Völker auf knapp 300 Seiten unterbringen will, dann bleibt für jedes einzelne Volk nicht sonderlich viel Platz.

Lexikon, Seite 7: "Was sind 'untergegangene Völker'? Dass Völker wie die Etrusker oder Angeln 'untergegangen' sind, würde wohl kaum jemand bezweifeln. Schaut man aber genauer hin, ist die Abgrenzung 'untergegangener' Völker von 'lebenden' gar nicht so einfach. Deutliche Spuren der Sprachen und Kulturen der Angeln und Etrusker haben sich bis heute erhalten."

Die Übergänge zwischen lebenden und untergegangenen Völkern seien fließend, erklärt Harald Haarmann in einer kompakten und lesenswerten Einführung.
Für das Lexikon fand er eine pragmatische Definition:

Lexikon, Seite 7: "Völker sind untergegangen, wenn ihre Nachkommen keine politische, kulturelle und sprachliche Einheit in Abgrenzung von anderen Völkern mehr bilden."

Dabei müssten nicht alle Kriterien gleichzeitig zutreffen, aber meist gingen mit dem Verlust der politischen Selbstständigkeit auch die Angleichung an die Kultur und die Sprache der Mehrheitsgesellschaft einher. Die vorherrschende Gesellschaft als Schmelztiegel verschiedenster Kulturen, in dem ganze Völker untergehen, ein Vorgang, der sich im Verlauf der Geschichte immer wieder feststellen lässt.

Lexikon, Seite 7: "Ihr kulturelles Erbe aber ist lebendig geblieben und hat das Kulturschaffen vieler Völker nach ihnen geprägt."

Das Volk der Sumerer etwa verlor sich irgendwann im Alten Vorderen Orient. Andere Völker, die als untergegangen gelten, existieren hingegen noch immer. Die Maya zum Beispiel: Sie widerstanden den spanischen Eroberern und leben auch heute noch verstreut in den mittelamerikanischen Staaten. Interessant ist der Mechanismus, der zum Vergessen ganzer Völker führt:

Lexikon, Seite 8: "…tatsächlich sind sie … nur in Vergessenheit geraten, weil die Geschichtsschreibung eines herrschenden Volkes sie nicht mehr erwähnt hat. Dieses Schicksal erlitten zum Beispiel die Etrusker, Karthager und Illyrer. Aber noch lange, nachdem diese Völker von römischen Autoren nicht mehr erwähnt wurden, lebte ihre Kultur weiter."

Spuren untergegangener Völker finden sich noch heute – auch bei uns:

Lexikon, S. 14: "Im Wortschatz unserer modernen Kultursprachen finden sich teilweise uralte Versatzstücke untergegangener Sprachen, die sich den lautlichen Gegebenheiten vollständig angepasst haben und für den Laien gar nicht mehr als Fremdelemente erkennbar sind."

Zum Beispiel die Wörter Aroma und Keramik, die beide aus einer vorgriechischen Quelle stammen.

Harald Haarmann zeigt in seinem Lexikon auch, welche Wirkung Literatur haben kann: Der letzte Mohikaner war gar nicht der letzte Mohikaner. 1826 erschien der gleichnamige Roman von James Fennimore Cooper, seitdem gilt der Indianerstamm der Mohawks als ausgestorben - obwohl noch heute rund 30.000 Mohikaner in Nordamerika leben.

Harald Haarmann: Lexikon der untergegangenen Völker. Von Akkader bis Zimbern
Becksche Reihe, Verlag C.H. Beck 2005,
294 Seiten, 14,90 Euro