Spuren eines Bohemiens

Es ist natürlich so eine Sache mit den „Regeln der Kunst“. Gibt es sie überhaupt und haben sie Geltung? Oder lebt nicht vielmehr die Kunst von den individuellen Verstößen gegen manche zuvor behauptete Regeln? Mit der Lebenskunst verhält sich das kaum anders. Der ausgewogene Akademismus allzu harmonischer Lebensbahnen ist nur bedingt eine Vorlage für ein inspiriertes Erzählen.
Claudia, die Ich-Erzählerin dieses Romans, stößt auf eine Frauenskulptur ihres vor Jahren bei einem Unfall gestorbenen Vaters, die eine etwas verstörende Wirkung auf sie hat. Und sie beginnt, das Leben dieses ihr fremd gewordenen Mannes zu erforschen.

Sehr folgerichtig nähert sie sich dabei vorwiegend jenen Frauen, die als Geliebte oder zeitweilige Lebensgefährtinnen phasenweise in engem Kontakt mit diesem Vater standen, der natürlich auch wegen einer Frau die Familie dereinst verlassen hatte und über die Jahre hin zu einem beinahe Unbekannten wurde.

Ihr Interesse ist dabei zweiseitig: Zum einen sucht sie die Spur der Person, des Menschen, zum anderen aber auch die des Künstlers, der über eine sehr bescheidene Anerkennung nie hinausgekommen ist, und dabei womöglich nur die „Regeln der Kunst“ des Marktes nicht richtig zu deuten wusste.

Das Ergebnis dieser immer fieberhafter werdenden Suche kann man kaum anders als ernüchternd nennen. Wenig mehr als ein Emporkömmling mit gewissen Talenten beim Verführen von Frauen, war dieser Mann eher im Entwerfen und Beschreiben seiner künftigen Skulpturen stark als im Ausführen derselben. Seinen Unterhalt verdiente er mit Zeichenkursen an der Akademie, minderwertigen Auftragsarbeiten und ein paar zwielichtigen Geschäften, von einem eigentlichen Werk findet sich keine Spur. Ein Bohemien, wie er im Buche steht und wie er allenfalls nur durchschnittliches Interesse weckt.

Und doch liest man diese Geschichte wie einen hochspannenden Kriminalfall. Denn nicht das Ergebnis dieser Suche ist das Dramatische dieses Textes, es ist die Suche selbst. Betina González beschreibt sie in ihrer eleganten, gedankenvollen Prosa als einen vielschichtigen Prozess, in dem sich die stückweise vorangetriebenen Recherchen und eigenen Erinnerungen ihrer Ich-Erzählerin, aber auch die so unterschiedlichen Spiegelungen ihres Vaters in der Sicht der Befragten miteinander verknüpfen.

Mit großer Sensibilität für ihre Figuren, aber doch ohne jeden Betroffenheitsimpuls, gelegentlich mit sanfter (Selbst)ironie formt sie ihren Text wie eine allmählich aus dem Stein getriebene Skulptur, die die glatte Vollendung „nach allen Regeln der Kunst“ überaus kunstfertig zu vermeiden weiß.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Betina González: Nach allen Regeln der Kunst
Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek
Hoffmann und Campe, Hamburg 2010
190 Seiten, 18 Euro