Spur der Steine

Von Marietta Schwarz · 23.09.2009
In wenigen Tagen wird in Berlin das Neue Museum wiedereröffnet - ein Anziehungspunkt nicht nur für Besucher, die Nofretete dort besichtigen wollen. Mehr als zehn Jahre widmete sich der britische Architekt David Chipperfield der Instandsetzung des Stülerbaus.
Kurz nach dem Fall der Mauer wurde der Tresorraum einer Bank zum Hotspot der Techno-Kultur, nicht nur für Deutschland, sondern weltweit. 40 Jahre lang hatte dieser Raum im Niemandsland zwischen Ost und West gelegen, dann entdeckte ihn ein Berliner aus der Kreativszene, und kam nicht mehr los davon.

Viele taten es diesem Mann in den folgenden Jahren gleich: Sie eroberten sich Gebäude, die im Werden oder Vergehen begriffen waren. Alte Lagerhallen, halb zerstörte Kaufhäuser, Industrieruinen verwandelten sich in Clubs, Bars, Theater. Die Spuren, die die Zeit an den alten Bauwerken hinterlassen hatte, übten eine ungeheure Anziehung auf die Kreativen aus, und längst hat die urbane Mittelschicht diesen Trend absorbiert.

Doch es gibt auch eine gegenläufige Bewegung. Sie hat genug von baulichen Wunden, und bevorzugt die makellose Oberfläche. Sie ist weniger am Erhalt von alten Bauwerken interessiert als an deren Neuschöpfung. Eine beispiellose Rekonstruktionswelle überrollt das Land. Eine Frage der Ästhetik oder vielleicht sogar ein Zeichen gesellschaftlichen Umbruchs? Und: Worin besteht eigentlich die von Denkmalschützern so beschworene Qualität der Wunde, der "Spur der Steine"?

Chipperfield: "”Architektur, Gebäude sollen eine physische Qualität vermitteln. Das erwarten wir doch von guter Architektur. Und leider fühlen wir das häufig in moderner Architektur zu wenig. Man geht rein und hat dieses physische Erlebnis nicht. Die Architektur bleibt synthetisch, berührt dich nicht. Nichts von jenem erhebenden Gefühl, das man manchmal beim Betreten einer Kirche hat oder eines altehrwürdigen Bahnhofs - dass da die Architektur ihre Potenziale ausschöpft.""

Das erhebende Gefühl, das der britische Architekt David Chipperfield beschreibt, das empfand er auch, als er Anfang der Neunzigerjahre zum ersten Mal das Neue Museum auf der Berliner Museumsinsel betrat.

Von dem prachtvollen Stüler-Bau war allerdings nur eine Ruine übrig. Das Dach eingestürzt, einzelne Gebäudetrakte komplett zerstört. In den Steinhaufen hatten Bäume ihre Wurzeln geschlagen, Wildpflanzen wucherten, wo einst prächtige Fußbodenbeläge glänzten. Lücken klafften überall. Dort wo früher das repräsentative Treppenhaus stand, konnte man seinen Blick jetzt ungehindert vom Dach bis zum Keller schweifen lassen. Aber es gab auch Räume, die die letzten 50 Jahre fast unbeschadet überstanden hatten - mit Wandmalereien, Mosaiken, kostbarem Deckenschmuck.

Chipperfield: "Und im Neuen Museum, in der Ruine, da hatte die Architektur, wahrscheinlich unbeabsichtigt, diese physische Power, das zwar ziemlich aufregend. Und da war schon klar, dass wir das nicht verlieren dürften, dass wir vorsichtig sein müssten, damit uns diese "Körperlichkeit" nicht abhanden kommt."

Es war dieses Aufeinanderprallen von Zerstörung und unversehrten Bereichen, sagt David Chipperfield. Etwas hatte überlebt an diesem Ort, an dem doch so viel verschwunden war. Und das machte für ihn die Faszination des Ortes aus. Vielleicht konnte man ja die Ruine in ein funktionierendes Gebäude verwandeln, und etwas von diesem Raumgefühl bewahren? Chipperfield und die zuständigen Denkmalpfleger waren sich einig, dass die vorhandene Originalsubstanz um jeden Preis erhalten werden müsse.

Das Neue Museum sollte wieder ein Museum werden, aber eines, an dem ablesbar wäre, was ihm seit seiner Entstehung widerfahren war. Das Konzept provozierte viele Kritiker. Sie unterstellten den Projekt-Beteiligten einen romantischen Zugang zur Ruine. Doch nichts lag David Chipperfield ferner als ein Kniefall vor der Zerstörung:

Chipperfield: "Ich finde nicht, dass das Neue Museum die Zerstörung feiert, sondern es bewahrt das Material, das da schon war, weit über 100 Jahre lang. Und gerade in diesem Umfeld der Museumsinsel, wo doch die meisten Gebäude neu aufgebaut worden waren, hatten wir umso mehr das Gefühl, dass dieses Originalmaterial uns die Verbindung zur Geschichte herstellen würde und nicht einfach ein Bild. Ich glaube nicht daran, dass eine Reproduktion des Alten uns Geschichte zurückgibt, ich glaube, dass allein ein Gebäude mit seinem Original-Material Geschichte in sich trägt."

Chipperfield: "Steine transportieren Zeit ... Und unser Bestreben, diese Steine zu "honorieren", diese physische Qualität eben nicht zu unterschätzen, wurde zum zentralen Ansatz unserer Arbeit."

Reparatur oder Rekonstruktion? Kulturkampf in Deutschland

Dieser Ansatz der sogenannten "ergänzenden Wiederherstellung" spaltete Fachwelt und Feuilleton ähnlich wie ein paar Jahre später der Abriss des Palastes der Republik oder der Beschluss zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Die einen nahmen ihn begeistert auf - etwa diejenigen, die auch die Ruine des Palastes der Republik als einen genialen Spielort für künstlerische Installationen und Performances betrachteten. Und die anderen, die Schlossbefürworter, wetterten dagegen.

Vereine wie die "Gesellschaft Historisches Berlin" waren entrüstet, dass der Besucher des Neuen Museums zukünftig Risse, Einschusslöcher und unverputzte Wände anschauen sollte - nur weil der Krieg das Gebäude vor 60 Jahren in diesen Zustand versetzt hat. Das hätte man doch wohl für fast 300 Millionen Euro auch "schöner" hingekriegt.

Die bessere Alternative wäre ihrer Meinung nach ein Totalabriss mit anschließender Rekonstruktion gewesen, wie sie bereits vor dem Fall der Mauer geplant war. Noch im vergangenen Frühjahr beklagte die Zeitung "Die Welt":

"Die überwältigenden Raumschöpfungen des Architekten Friedrich August Stüler aus der Mitte des 19. Jahrhunderts werden kontrastiert durch eine Restaurierungs-Philosophie der Brüche, der Flecken- und Ruinenhaftigkeit, die mit einer Didaktik des erhobenen Zeigefingers darauf verweisen möchte, dass das Haus nur ein zusammengeklebter Trümmerrest des Originals von 1855 ist... Fast mehr noch als der Architekt muss die dogmatische Denkmalpflege das Urteil des Publikums darüber fürchten.

Sie wollte ... ein Exempel für "korrekten" Denkmalschutz statuieren - und steht nun vor einem Desaster. Der eitle Anspruch, die "Erfahrung von Geschichte" zu vermitteln, hat sich erledigt." (Dankwart Guratzsch in der "Welt" vom 27. Februar 2009)

Die Denkmalpflege hält dagegen: Das Neue Museum ist nicht das einzige Vorzeigeprojekt einer behutsamen Reparatur. Auch am Bauhaus Dessau oder am Festspielhaus in Dresden - Hellerau sieht man die Spuren jüngster Geschichte – Wandmalereien aus DDR-Zeiten, nachträgliche Möbeleinbauten, die mit der Ursprungsidee gar nicht so viel zu tun haben, dafür aber damit, wie sich eine Gesellschaft Architektur aneignet. Nur eine Herangehensweise, die die Spuren der Zeit bewahrt, sagt Thomas Will, Professor für Denkmalpflege an der Technischen Universität Dresden, ermögliche es, so ein Gebäude überhaupt richtig einzuordnen.

Will: "Das Neue Museum war ja schon ursprünglich ein modellhafter Bau, ein Paradebeispiel einer Übertragung eines Geschichtsoptimismus, museologisch ein supermodernes Gebäude. Jetzt stellt sich die Frage: Wenn das nun kaputt ist, kann man das dann einfach wieder so aufbauen und in seinen unschuldigen Fortschrittsglauben der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts zurückkehren oder muss man nicht ganz andere Register ziehen?"

Muss man natürlich, findet auch Adrian von Buttlar, Professor für Kunstgeschichte an der Technischen Universität Berlin, der sich nicht nur mit dem Berliner Humboldtforum, sondern generell mit architektonischen Neuschöpfungen alter Bauten schwer tut. Eine Rekonstruktion, sagt er, sei nur ein verkürztes Bild von dem, was ein Denkmal einmal gewesen ist.

Buttlar: "Wir sind sehr bildorientiert. Politik wird durch Bilder gemacht, Kultur auch, und das trifft eben auch auf Denkmale zu. Aber Denkmale sind eigentlich etwas ganz anderes. Denn sie enthalten durch die originale Substanz in sich die Möglichkeit, sie immer wieder neu zu befragen. Während das, was wir nachahmen, eben nur ein momentanes Interesse widerspiegelt."

Die Anwesenheit des Abwesenden: Der Wert der Ruine

Hegemann: "Es ist eine Raumerfahrung, die dich nicht mehr loslässt. Es weckt unglaubliche Fantasie in dir, und ist eigentlich das Unfertige. Die Ruine. Der Charakter der Ruine, die eigentlich schon seit 15 Jahren ruht. Ein Raum von 20.000 Quadratmeter Größe, mit einer Deckenhöhe von 30 Metern."

Ein Heizkraftwerk in Berlin-Mitte. Dimitri Hegemann sitzt auf einer Bierbank am Ende dieser 100 Meter langen Halle, lässt den Blick schweifen: Der Raum ist dunkel, die Sonne dringt nur durch ein paar kleine Öffnungen im Dach und kreiert ein Raster von Lichtspots auf dem staubigen Betonboden. Es ist ein nutzlos gewordener Ort, ein Funktionsraum, den man von allen schweren Gerätschaften befreit hat. Stattdessen klaffen jetzt große Einschnitte in den Decken, die die Sicht auf andere Geschosse freigeben. Auf verrostete Eisengeländer, schwarze Wände.

Hegemann: "Mich hat das sofort fasziniert, weil mich das im Grunde an eine kathedralenartige Ruine aus einer anderen Zeit erinnert. Als ob die Wände mir zurufen, zu mir sprechen würden. Ein Ort, der vieles erlaubt und vieles zulässt, weil er einfach noch nicht fertig geplant ist. Ein Rohdiamant! Man darf ihn aber nicht schleifen. Man muss behutsam vorgehen."

In der Mitte des Raumes hat ein junger Musiker sein Equipment aufgebaut: Laptops, Mischpulte, Lautsprecher. Er greift nach seinem Elektro-Cello, streicht darüber, und diese Kathedrale füllt sich mit Klang.

Hegemann: "Der Auftrag liegt schon im Bereich der Kunst, im Licht, mediale Kunst."

Dimitri Hegemann sitzt da und sinniert. Was wäre hier alles möglich? Einen kleinen Bereich dieses Kraftwerks aus den 60er Jahren bespielt er schon. Vor zwei Jahren eröffnete er hier seinen legendären Tresorclub wieder. Die Technogemeinde tanzt sich dort am Wochenende ins Delirium. Für die 20 000 Quadratmeter, die noch auf ihre Bestimmung warten, hat Hegemann, der sich selbst als Raumforscher bezeichnet, andere Ideen:

"Ein Raum, der rau geblieben ist, der nichts abverlangt. Du gehst durch eine Tür und erreichst eine andere Welt. Das ist ein kleines Paradies. Ich war da zwar noch nie, aber man könnte das vielleicht vergleichen, dass man irgendwo im Himalaya sitzt und einen schönen Blick genießt. Das ist der urbane Remix vom Dach der Welt."

Zu Beginn der Neunzigerjahre erlebte die Ruine eine Renaissance. Vor allem im wilden Berlin nach dem Fall der Mauer stürzten sich junge Menschen auf nutzlos gewordene Gebäude, um mit ihnen zu experimentieren. Aber auch in vielen anderen Städten hatte die Deindustrialisierung leere Kraftwerke, Zechen und Fabriken hinterlassen. Aus ihren Schornsteinen qualmte nicht mehr schwarzer Rauch. Und so, stillgelegt, entfalteten sie plötzlich ihren architektonischen Charme. Die monströsen Räume warteten auf eine neue Bestimmung. Und die Künstler und Kreativen platzten vor Ideen.

Bis heute strömen Clubgänger aus ganz Europa nach Berlin, um bis in den frühen Morgen zu tanzen.

An anderen Orten wurde nicht getanzt. Die Kunst hielt Einzug. Mit Installationen, die für diese Räume erschaffen wurden. Mit Tanzveranstaltungen und interaktiven Theateraufführungen. Die Industrieruinen mit ihren Wundmalen, sagt Adrian von Buttlar, lassen niemanden kalt:

"Die Ruine ist besser geeignet, uns herauszufordern und zu stimulieren, durch eine eigene Imagination."

Die Ruine ist historisch betrachtet schon ein altes Thema. Mit dem Niedergang des antiken Rom wurde sie zum Ausgangspunkt, auf die glorreiche Zeit zurückzublicken.
Buttlar: "Roma quanta fuit ipse ruina docit" – also: wie groß Rom einst war, das lehrt selbst noch die Ruine."

Als Vanitas-Symbol für das Werden und Vergehen taucht sie wieder in der Barockzeit auf, erlebt ihre Blüte dann noch einmal in der Romantik. Nicht nur auf Gemälden, auch in den Parklandschaften des 19. Jahrhunderts findet man künstliche Ruinen, teilweise absurde und kitschige Gebilde, die die romantische Gefühlswelt melancholisch übersteigerten. Erlebnis-Architektur vom Feinsten.

Buttlar: "In Hinsicht auf die Denkmalpflege ist das ganz aktuell, nämlich angesichts der Frage: Soll auch ein Denkmal irgendwann mit seiner physischen Substanz am Ende sein, gibt es einen Denkmaltod, soll man das Denkmal auch mal in Ehren sterben lassen, oder kann man es immer wieder künstlich am Leben halten, wieder beleben oder sogar von den Toten auferwecken?"

Schlotter: "Wir sind am Breitscheidplatz, in der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die hier seit 1943 als Ruine steht. Und dieses Bauwerk ist in den letzten Kriegsjahren 1943 durch einen Bombentreffer zerstört worden. Nach dem Krieg enttrümmert, das Schiff wurde vollends abgerissen, und die Ruine des Kirchturms hat man stehen lassen. Zunächst als Zeichen, als Mahnmal gegen die Schrecken des Krieges, heute ist glaube ich ein Bedeutungswandel passiert. Heute hat man das eher als Wahrzeichen von Westberlin hauptsächlich vor Augen."

Gerhard Schlotter ist Architekt und hat bei seiner Arbeit immer wieder mit der Pflege alter Bauwerke zu tun. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin ist eines davon. Regelmäßig begutachtet er den Zustand der offenen Turmspitze. Die Gemeinde sammelt zur Zeit Geld für eine Sanierung. Die Turmruine muss demnächst repariert werden, weil Wasser an Stellen eindringt, wo es nicht hin soll. Weil sich Mosaiksteinchen von den Wänden lösen. Die Ruine, Symbol des Werdens und Vergehens, nimmt Schaden!

Schlotter: "Ja, das mag absurd klingen, wenn man die Ruine von der Wortbedeutung ernst nimmt und auch den lateinischen Ursprung, das rühre, das Zerfallen, dann mag es auch absurd erscheinen, dass man eine Ruine erhält. Aber man muss das in dem Fall vor dem Hintergrund der Zeit sehen."

Nach dem Krieg entbrannte ein handfester Architekturstreit darum, wie man mit den Zerstörungen umgehen sollte. Deutsche Städte lagen in Trümmern. Die Chance für den ersehnten architektonischen Neuanfang war da. Man hätte die radikalen Stadtvisionen der Zwanzigerjahre einfach umsetzen können, die Stadt neu bauen. Aber man tat es nicht. Man diskutierte darüber, ob es moralisch überhaupt vertretbar war, etwas wieder aufzubauen, was letztendlich selbstverschuldet und nicht aus Zufall zerstört worden war. Und wenn man es nicht tat, was war dann die Alternative?

Im Streit um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurden Argumente für Abriss und Rekonstruktion leidenschaftlich ausgetauscht, der Architekt Egon Eiermann plädierte sogar für einen modernen Neubau. Doch die Bürger liefen Sturm dagegen. Am Ende wurde ein Kompromiss geschlossen: Man ließ die Turmruine als Mahnmal an den Krieg stehen und durch moderne Neubauten von Egon Eiermann ergänzen.

Schlotter: "Das ist in der Tat dieses Mahnmal, das uns an den Krieg erinnern soll und ist ganz weit weg von der romantischen Sehnsucht, die über die Renaissance, das 19. Jahrhundert und auch die klassische Denkmalpflege, die das auch ästhetisiert hat, nichts zu tun hat."

Hier oben, auf 30 Metern Höhe, sieht man gut, was es bedeutet, eine Ruine für die Ewigkeit zu rüsten: Gewaltige Stahlbänder halten das beschädigte Bauwerk wie ein Gürtel zusammen, mit riesigen Muttern befestigt. Den Nordgiebel des Turms hindern mehrere Stahlträger am Einsturz. Das Mauerwerk ist an manchen Stellen brüchig.

Schlotter: "Auch eine Ruine muss gepflegt werden, der Charakter wie auch der physische Zustand ist eben der des Zerfalls. Und dieser Zerfall muss gestoppt werden, solange man die Ruine im Stadtbild als solche erhalten will und sie nicht zur Gefahr werden soll für die, die sich darum bewegen."

Vom Historismus zur Reparatur der Dachrinne: Die Geburt der Denkmalpflege.

Die Grundlagen für den Streit um den Wiederaufbau in Deutschland hatte die klassische Denkmalpflege schon 50 Jahre früher gelegt. Es muss so etwas wie eine Sehnsucht nach dem Authentischen gewesen sein, die um die Jahrhundertwende zu dem Umdenken in den Köpfen führte: Zu dem Wunsch, ein Bauwerk "lesen" zu können. Von nun an wurde das Denkmal als Geschichtsdokument begriffen. So, wie es ist, und nicht willkürlich überformt. Jeder architektonische Eingriff sollte deutlich vom Alten abgesetzt werden.

Buttlar: "Dieses Vorgehen ist eigentlich der klassische wissenschaftliche Strang der Denkmalpflege. Der beginnt eigentlich im 19. Jahrhundert, als man sich gegen den überbordenden, phantasiebestimmten Historismus der Architekten wandte, und gegen den Umbau von vorhandenen Denkmälern in Phantasiegebilde. Jemand wie John Ruskin, der englische Kulturphilosoph und Kunsthistoriker, hat eben die Philosophie eines sorgfältigen, liebevollen Umgangs mit der Substanz gepredigt, die Reparatur der Dachrinne, die unendliche Schäden aufhalten kann, die sonst nachfolgen würden. Und der minimalen Eingriffe. Und daraus ist dann über die große Denkmaldiskussion des 19. Jahrhunderts mit Georg Dehio die Vorstellung gewesen, dass Denkmalpflege konservieren solle und nicht restaurieren und schon gar nicht rekonstruieren."

Es ging nicht mehr um die Idee "aus Alt mach Neu", sondern um das Aufzeigen aller historischen Schichten. Es war der Abschied von der perfekten Oberfläche. Farbspuren, Mauerreste, Schriftzüge, unter Umständen sogar Um- und Einbauten wurden als Teil der Geschichte eines Bauwerks erhalten, konserviert. Ein sehr analytischer, dogmatischer und auch moderner Ansatz, der so konsequent kaum eingehalten werden konnte.

Festgehalten wurde er erst viele Jahre später in der so genannten Charta von Venedig, die die internationale Denkmalpflege 1964 verabschiedete. Diese Charta ist bis heute so etwas wie eine Richtschnur, was Begriffsdefinition und Umgang mit Altbausubstanz betrifft. Darin heißt es unter anderem:

"Die Beiträge aller Epochen zu einem Denkmal müssen respektiert werden: Stileinheit ist kein Restaurierungsziel."

Inzwischen hat sich, was die Denkmalpflege akademisch als "sichtbare Reparatur" betreibt, auf einer anderen Ebene in den Alltag eingeschlichen: Das Alte, die Spur, der Riss, aber auch die Vielschichtigkeit der Geschichte wird als architektonisches und ästhetisches Erlebnis zelebriert. Die Londoner Tate Gallery präsentiert moderne Kunst in einem umgebauten Kraftwerk. Die alte Baumwollspinnerei in Leipzig ist längst zum Treffpunkt der internationalen Kunstszene geworden.

Der Kunstsammler Christian Boros lagert Gemälde und Skulpturen in einem Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg und errichtet sich obenauf ein stylisches Penthouse. Rapper drehen Musikvideos in verlassenen Fabriken. Models posieren für große Mode-Labels vor ruinösen Gebäuden. Restaurantbesitzer schlagen den Putz von den Wänden, gegessen wird unter rostigen Stahlträgern und Kappendecken. Und auch in den Wohnräumen ist die Patina längst angekommen. Wer es sich leisten kann, lebt im italienischen Palazzo mit abgeblätterten Putzschichten oder im Fabrik-Loft, das noch die Luft der früheren Produktionsstätte atmet.

Will: "Das sind Menschen, die quasi sagen: Meine Modernität steht sowieso außer Frage. Ich kann es mir leisten, mein Ambiente eklektisch, also pluralistisch anzulegen, da kann auch Architektur alt sein. Sozusagen: Modern bin ich selber!"

Für Thomas Will ist das Nebeneinander von Neu und Alt auch ein Zeichen fortgeschrittener Moderne, die ihre kompromisslose Sturm-und-Drang-Phase längst überwunden hat. Fortgeschritten auch in dem Sinne, möchte man hinzufügen, dass diesen Stand der Dinge eben noch nicht alle erreicht haben.

Das Ruinöse hat es zu Beginn des 21. Jahrhunderts über die Entdeckung durch die Künstler und die Absorption durch die Popkultur zur Lifestyle-Ästhetik geschafft: Die Patina ist zum gesellschaftlichen Code, zum Status-Symbol geworden. Thomas Will wagt den Begriff der "großbürgerlichen Inszenierung":

Will: "Ab heute kann man sich auf dem Bunker ein Penthouse bauen und hat sozusagen die geschichtlichen Reste als Insignien einer kultivierten Lebensform, so wie man sich früher ein historisches Gebäude mit Giebelchen und Säulen gebaut hat."

Ruinenfetischismus gegen Rekonstruktion: Ein Kampf zwischen Bildungs-Elite und Massengeschmack?

Die Idee von Ruinen, wie sie David Chipperfield beschreibt, befindet sich 20 Jahre nach dem Fall der Mauer auf dem absteigenden Ast. Am Frankfurter Römer, in Dresden, Berlin, in Braunschweig, Potsdam und vielen anderen Städten wächst die Sehnsucht nach einem Stadtbild im Vorkriegszustand. Bausubstanz, besonders aus der Nachkriegszeit, wird hemmungslos dem Verfall preisgegeben, selbst wenn sie unter Denkmalschutz steht. Und bereits untergegangene historische Zeugnisse werden makellos neu geschöpft. Das Feuilleton wendet sich angewidert ab, während der gemeine Bürger oder Tourist es sich inmitten der Rekonstruktionen behaglich einrichtet.

Selbst einige Architekten, die der Denkmalpflege nahe stehen, streben nicht mehr um jeden Preis die Spurensicherung an, sondern eine neue Ganzheit. Eine Gegenentwicklung, glaubt Thomas Will, die mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung begann und mit einer gewissen Ermüdung zu tun hat.

Will: "In den meisten Fällen ist es tatsächlich dieser Neotraditionalismus im Sinne von Suche nach Halt in einer zerborstenen künstlerischen Welt. Auch wenn viele, die sich den Rekonstruktionen zuwenden, von Geschichte reden."

Und Adrian von Buttlar fügt hinzu:

"Ich würde eher sagen, das ist die institutionalisierte Lüge, die perfekt abbildet, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft bewegt: Sie bewegt sich dahin, sich mit einem Oberflächenschein zu begnügen und dahinter Business as usual zu betreiben, während eine differenzierte Herangehensweise auch ein differenziertes Geschichtsbild reflektiert."

Las Vegas oder Dubai machen es vor und kopieren ungehemmt ihre Lieblingsstücke europäischer Baugeschichte. Eiffeltürme, Dogenpaläste oder Hofbräuhäuser gehören im Wilden Westen ebenso zum Bild der modernen Stadt wie im Morgenland. Zehntausende Kilometer von ihrem Ursprungsort entfernt werden sie zur touristischen Attraktion. Hierzulande hält man sich zwar an den Originalschauplatz.

Aber hinter den neu aufgebauten barocken Schlossfassaden oder Markthäusern in Berlin, Braunschweig, Potsdam, Frankfurt oder Mainz lauern Einkaufszentren, Penthousewohnungen oder Büros. Illusions-Architektur, auf die die große Ent-Täuschung folgt, sobald man die Tür aufmacht. Doch vom Innenleben wird wenig geredet. Denn dem Architekturtheoretiker und Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau, Philipp Oswalt zufolge geht es um die Wirksamkeit der Hülle:

Philipp Oswalt: "Für mich sind das mediale Architekturen. Das ist auch eine Geburt der Architektur aus dem medialen Bild. Das Schloss wird rekonstruiert aufgrund von Fotografien, die digitalisiert werden, und daraus 3-D-Modelle gebaut werden. Es geht nur um die äußere Hülle, und das Entscheidende wird sein die mediale Rezeption über Fotografien, Fernsehen usw. Es ist meines Erachtens eigentlich eine Hyper-moderne Architektur, die aus dem Medienbild erschaffen wird für ein mediales Bild!"

Wie wird das mediale und tatsächliche Bild unserer Städte in 50 Jahren aussehen? Werden wir uns der ungeliebten Architektur-Zeugnisse jüngerer Zeit entledigen und sie durch künstliche Stadtteile aus grauer Vorzeit ersetzen? Oder werden wir kühlen Kopf bewahren, ein bisschen abwarten, und verinnerlichen, woran der Kunsthistoriker Adrian von Buttlar erinnert:

"Die Stadt ist ein offenes Buch der Geschichte. Und je reflektierter mit den historischen Zeugnissen in der Stadt umgegangen wird, desto besser ist das."