Spukhafte Wesen mit Tierköpfen

Von Günter Kaindlstorfer |
Es heißt, dass Max Ernst die Originale seiner Collage "Une semaine de bonté" nicht aus der Hand geben wollte. 1933 hat er sie während eines Italien-Aufenthaltes geschaffen. Inspiriert von Schauerlichkeiten spiegeln sie etwas von der Atmosphäre des aufkommenden Faschismus wider. Die Blätter sind in der Wiener "Albertina" zu sehen.
So produktiv kann Urlaub sein: 1933 nützte der surrealistische Meisterkünstler Max Ernst einen dreiwöchigen Italien-Aufenthalt, um einen seiner berühmten Bildromane anzufertigen: "Une semaine de bonté" - zu Deutsch: "Eine Woche der Güte". Das Werk besteht aus 182 Collagen – und alle sind sie nun in der Wiener Albertina zu sehen, zum ersten Mal seit 72 Jahren. Als Vorlage für diese verstörenden Bilder dienten Max Ernst französische Groschenromane aus dem späten 19. Jahrhundert. Die Illustrationen dazu sensationsheischend zu nennen, wäre plumpes Understatement: Es geht um Mord und Totschlag, um Eifersucht und blutige Liebesrache in diesen Holzstichen, die die niederen Gelüste des Pariser Plebs Auflagen steigernd anstacheln sollten. Max Ernst verfremdete die Vorlagen aus dem Fin de Siècle zu irritierenden Collagen, in denen spukhafte Wesen mit Löwen- und Vogelköpfen durch E.T.A.-Hoffmann-artige Stadtlandschaften geistern und sich allerlei Mysteriöses zuträgt. Sie haben etwas zutiefst Beunruhigendes, diese Bilder.

Der Kunsthistoriker Werner Spies hat die Schau in der Albertina kuratiert: "Wir müssen an den Zeitpunkt denken, an dem er dieses ungeheure Bilderbuch des 20. Jahrhunderts gestaltet hat: 1933. Ich habe mit Max Ernst darüber gesprochen, warum damals? Und er sagte: Damals kam Hitler an die Macht. Man wusste, dass etwas Ungeheures im Gange war, obwohl man noch nicht genau wusste, was. Diese Bilder spiegeln im Grunde genommen die Ängste der Zeit wieder."

Und so geht es unerhört gewalttätig zu in Max Ernsts Collagen: Sadistische Szenen werden in einen traumhaften, surrealen Rahmen gestellt, gewürzt dann und wann mit einem Schuss lasziver Erotik.

Werner Spies: "Max Ernst geht es um die Gewalt in einem umfassenden, nicht nur in einem physischen Sinne. Es sind Bilder, die uns generell Gewalt antun. Sie tun unserer normalen Vorstellung, unseren Überzeugungen, unseren Vorlieben Gewalt an. Alles wird hier so behandelt, dass es nicht mehr mit der Welt übereinstimmt, in der wir uns kausal und logisch eingerichtet haben."

Bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, verstört von den Erlebnissen an der Front, begann Max Ernst mit der Technik der Collage zu experimentieren. In den 20er Jahren wurde sie zu einem seiner bevorzugten Ausdrucksmittel, wie Werner Spies erläutert:

" Max Ernst ist der Collagekünstler par Excellance. Alles ist bei ihm Collage, alles ist Verwendung von Zitaten. Es geht ihm darum, ein plausibles, in sich stimmiges Bild zu machen, in dem man im Grunde den Collagecharakter gar nicht auftauchen sieht. Er negiert alles, was an Schere, Schneiden, Messer erinnert. Er will in Analogie zum perfekten Verbrechen so etwas wie das perfekte Bild machen. Man soll die Indizien nicht sehen. In der gedruckten Ausgabe der Collagen sieht man auch die Schnittstellen nicht. Erst in dieser Ausstellung wird man sehen, mit welcher mikrochirurgischen Meisterschaft Max Ernst diese Bildwelten als plausible Welten zusammenbaute." "

Max Ernsts Collagen haben – wie die Bilder Dalis oder die Filme Bunuels – etwas unauflöslich Rätselhaftes an sich. Wer sich bemüht, Max Ernsts phantastischen Bildroman zu entschlüsseln, wird sich vergebens bemühen.

Werner Spies: "Es soll gar nicht entschlüsselt werden. Max Ernst wollte auch nicht, dass man die Sachen entschlüsselt. Wir haben oft darüber gesprochen. Einer meiner Freunde, ein großer französischer Schriftsteller, Michel Butor, hat mich einmal gebeten, ich solle doch bei Max Ernst nachfragen, ob er zu diesem grandiosen Buch nicht Legenden schreiben könnte, Bildunterschriften. Genau das aber wollte Max Ernst nicht. Er wollte keinen Text zu diesem Buch. Er wollte, dass jeder in diese Bilder hineinprojizieren kann, was er möchte."

Und dazu besteht in der Wiener Albertina bis zum 27. April Gelegenheit.