Sprechende Weltentdeckung

Ein Geheimtipp ist Gerhard Meier, der am 20. Juni seinen 90. Geburtstag feiert, auch außerhalb seiner Schweizer Heimat nicht mehr. Wer Augen hat zu lesen, der konnte seit langem sehen, dass dieser Autor kaum seinesgleichen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart hat.
1977 begann er, sich einen fiktiven Kosmos zu schaffen, als er seinen Geburts- und Wohnort Niederbipp in "Amrain" umbenannte und sich ein kleines Reich schuf, das die große Welt in den Südjura holt. Kaspar Baur und Rudolf Bindschädler heißen seine Hauptfiguren, die so zum Leben erweckt werden, dass man sie nicht für erfundene Gestalten halten möchte. Zwischen 1979 und 1990 ließ Meier sie in vier Romanen auftreten, in "Toteninsel", "Borodino", "Ballade vom Schneien" und "Land der Winde", in Büchern, in denen an Äußerlichem herzlich wenig geschieht und die dennoch einen weiten Bogen spannen.

Baur und Bindschädler, zwei Herren fortgeschrittenen Alters, spazieren gemeinsam durch Olten, erzählen und erinnern dies und jenes, lassen sich von Assoziationen und Eingebungen leiten. In der "Ballade vom Schneien" wacht Bindschädler zuletzt an der Seite des sterbenden Baur, und das schien das Ende der Romanfolge zu bedeuten.

Doch "Land der Winde" griff das beharrlich-intensive Gespräch der beiden Männer wieder auf. An einem Novembertag des Jahres 1988 findet sich Bindschädler, der schweigsame Zuhörer, erstmals in Amrain, im "Zentrum der Welt", ein, um das Grab seines einstigen Weggefährten aufzusuchen, und noch einmal werden die Erzählfäden der Vergangenheit aufgegriffen und miteinander verwoben, noch einmal werden die großen Leitbilder aus der Kunst bemüht: Claude Simon, Caspar David Friedrich, Schostakowitsch, Proust oder Nietzsche.

Kunst ist kein Gegenüber des Lebens, sondern ohne die Erfahrungen der Kunst ist das Leben nicht denkbar, ja, mitunter ist es so, dass erst die Kunst die Augen öffnet - so wie es Meier beschrieb:

"Erst seit ich 'Blow up' gesehen haben, Antonionis Film, weiß ich, dass der Wind durch die Gräser streicht, durch die Bäume. Und erst seit ich 'Blow up' gesehen habe, weiß ich richtig, dass die Bäume grün sind und auch die Gräser."

Sich sprechend über das Leben klarzuwerden, das macht Meiers Unverwechselbarkeit aus, und er selbst hat das in zehn, jetzt wieder aufgelegten Gesprächen mit dem Literaturwissenschaftler Werner Morlang am eigenen Beispiel durchexerziert. Am Ende klafft in Gerhard Meiers poetisch durchdrungender Gedankenwelt kein Abgrund mehr zwischen dem Erinnerten und dem Gegenwärtigen, zwischen den Toten und den Lebenden und zwischen dem Ausgedachten und dem Realen:

"Und wenn ich durch Amrain gehe, habe ich manchmal ein Gefühl, als schritte ich durch meine Schreibe. Höre den Baur reden, den Bindschädler. Und der Jura hat eine blaue Schärpe um."

Rezensiert von Rainer Moritz

Gerhard Meier: Baur und Bindschädler. Amrainer Tetralogie
Vier Bände in Kassette.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2007
543 Seiten, 29,90 Euro

Gerhard Meier/Werner Morlang: Das dunkle Fest des Lebens. Amrainer Gespräche
Erweiterte Neuauflage.
Zytglogge Verlag Oberhofen 2007
543 S., 32 €