"Sprechen über Vergangenheit ist sehr wichtig"

Andreas Ludwig im Gespräch mit Jürgen König |
Der Leiter des "Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR" in Eisenhüttenstadt, Andreas Ludwig, wehrt sich gegen den Vorwurf, durch Ausstellungen von DDR-Alltag werde die Diktatur verherrlicht.
Jürgen König: Die DDR gibt es nicht mehr, aber in der Erinnerung lebt sie weiter – in der Erinnerung der Ostdeutschen wie der Westdeutschen. Und jeder erinnert sich an eine andere DDR, und an die am meisten, die den eigenen Alltag bestimmt hat. Der öffentliche Umgang mit der Erinnerung an den DDR-Alltag ist heikel, die Wissenschaftler streiten schon über die Berechtigung, an Alltägliches zu erinnern, und erheben zum Beispiel den Vorwurf, dass man die Diktatur verharmlose, verniedliche, wenn man ihr Alltagsleben zum Thema etwa eines Museums mache. Das große Publikum dagegen, zumal das ostdeutsche, sucht nur zu gerne die unpolitische Erinnerung an den DDR-Alltag. Zitat: "In Erinnerung an die Mühen eines aufrechten Lebens in gedrückten Verhältnissen", so formuliert es Martin Sabrow in seinem Buch "Erinnerungsorte der DDR". Jetzt erschien ein Sammelband, der die Bezugspunkte der Erinnerung an die DDR in 50 Aufsätzen untersucht. Einer der Autoren ist Andreas Ludwig. Er leitet das "Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR" in Eisenhüttenstadt und ist jetzt unser Gast. Herr Ludwig, schön, dass Sie da sind!

Andreas Ludwig: Ich freu mich!

König: Eisenhüttenstadt wurde 1950 gegründet. Zuerst wurde das Eisenhüttenkombinat Ost geplant und errichtet, um die DDR mit Roheisen und Stahl zu versorgen, danach wurde dann die Stadt geplant. Ein sozialistisches Leben in Modellform wurde das, das bis – wie Sie schreiben – 1990 konserviert wurde. Wann und von wem und mit welchem Ziel wurde in dieser Stadt ein Dokumentationszentrum zur DDR-Alltagskultur gegründet?

Ludwig: Das Projekt ist jetzt 16 Jahre alt, es ist ein Kind der Ereignisse der friedlichen Revolution oder genau gesagt auch der inneren Auflösung der DDR, die wir alle, die das entsprechende Alter haben, ja erinnert haben. Einer der wesentlichen Punkte für mich als Historiker war, dass man am Straßenrand über Monate hinweg gesehen hat, wie sozusagen die gesamte materielle Lebenswelt einer Gesellschaft entsorgt wurde. Und die Befürchtung war, dass man in wenigen Jahren nicht mehr in der Lage sein würde, einen Augenschein zu nehmen. Man verliert die Quellen der Anschauung und die Quellen der Forschung, wenn man die Dinge einfach auf die Müllkippe bringt. Und da kam die Idee auf, dass man eigentlich diesen Bereich der materiellen Kultur der DDR bewahren müsste, um einfach die Möglichkeiten zu haben, so etwas wie Erinnern auch konkret zu machen.

König: Sie wurden 1954 in Westberlin geboren, kommen aus der Geschichtswerkstättenbewegung, die hat sich um Lokal- und Alltagsgeschichte im Wesentlichen gekümmert. Ich stelle mir vor, das war ein ziemlich spezielles Aufeinandertreffen: ein Westberliner Anfang der 90er-Jahre an der Spitze eines Dokumentationszentrums zur DDR-Alltagskultur?

Ludwig: Das war natürlich eine große Herausforderung …

König: Für alle Seiten.

Ludwig: Für alle Seiten …weil man in einem Land auf einmal war, in einer Kultur war, die sowohl nah als auch fern war. Es gab unglaublich viele Dinge, die man voneinander lernen konnte, es wurde sehr viel geredet, das gegenseitige Kennenlernen spielt eine große Rolle, aber auch die Arbeit, eine solche Sammlung, ein solches Museum aufzubauen, bedeutet ja einen täglichen Lernschritt.

König: Das ist jetzt nicht nur so im Nachhinein so ein freundliches Sprechen über vielleicht auch konfliktreiche Zeiten?

Ludwig: Also ich habe sehr viel Neugier erlebt, sehr viel Offenheit, sehr viel Aufbruchstimmung, und das nicht nur in den ersten Monaten sozusagen, sondern über die ganze Zeit hinweg. Es ist immer ein gegenseitiges Sicherzählen, warum man etwas tut. Und wir wollen von den Leuten wissen, warum sie eigentlich das Museum unterstützen – durch Schenkungen etwa oder indem sie mit ihm zusammenarbeiten für Ausstellungen.

König: Also es gab keine Gedanken, ah, jetzt kommt ein Wessi und erzählt uns, was wir von unserer Alltagskultur aufbewahren sollen?

Ludwig: Also auf Ihre dritte Nachfrage kann ich sagen, ein einziges Mal ist es mir passiert, und das halte ich für absolut peripher. Das, glaube ich, ist eine doch aus anderen Konflikten hervorscheinende Fragestellung. Ich hab das überhaupt nicht erlebt.

König: Ich frage deswegen so penetrant nach, weil Sie in Ihrem Aufsatz so schön beschreiben, wie tatsächlich diese Stadt ja als erste sozialistische Stadt der DDR geplant wurde und tatsächlich eben sozusagen in einem in sich geschlossenen, voll sich selbst versorgenden System bis 1990 existierte. Da stell ich's mir schon schwer vor, plötzlich sozusagen einen Schritt neben sich zu treten, denn was da ins Museum kommt, ist ja auch immer ein Teil des eigenen Lebens, das da interpretiert und eben möglicherweise auch bewertet wird. Ich stelle mir vor, die Ängste jedenfalls, dass da jemand kommt und bewertet, die sind da. Und insofern finde ich's schön, wenn das so ist, wie Sie's beschreiben, aber ich stell's mir eben auch oder habe es mir vorgestellt als konfliktreichen Prozess.

Ludwig: Also man kann vielleicht sagen, dass Besucher, die in ein Museum zur Alltagskultur kommen, eine gewisse Vorsicht und einen gewissen Vorbehalt auch haben, was sie dort erwarten wird. Denn wir haben ja in Deutschland tatsächlich mehrere Ebenen von Erinnerung und von Gesprächen über die Vergangenheit, das, was man auch ein gespaltenes Gedächtnis nennt, was heutzutage sehr viel in der Diskussion ist, das heißt sozusagen eine offizielle Interpretation, was die DDR gewesen ist, und eine Ebene des privaten Erlebens im Kontext einer individuellen Entwicklung. Und das ist in der Tat etwas, was man vermitteln muss, was schwierig ist, weil das individuelle Leben natürlich detailreicher ist, nuancierter ist, aber eben auch individueller und insofern dieser Ausschnitt der eigenen Kenntnis nicht unbedingt immer dem entsprechen muss, was man da aus der Draufsicht auf diese DDR im Nachhinein dann analytisch auch sagen kann. Es gilt einfach, einen Weg zu finden, die Punkte anzusprechen, die man für wichtig hält, gleichzeitig aber auch eine gewisse Offenheit zu lassen zwischen dem Schritt des Sehens, des Analysierens und dann aber auch des Interpretierens, da Raum zu lassen für Diskussionen. Und das war unser wesentlicher Ansatz, was Ausstellungen angeht, in den vergangenen 15 Jahren, dass wir gesagt haben, die Dinge liegen klar auf der Hand. Man sieht die Objekte, man stellt die Kontexte dar, und dann muss eigentlich der Prozess der Kommunikation zwischen Besuchern einsetzen.

König: Was zeigen Sie konkret an Alltagskultur?

Ludwig: Also wir haben einerseits eine Dauerausstellung, die zehn Themen anspricht, die mit dem Alltag in der DDR zu tun haben, die so ausgewählt sind, dass sie einerseits sehr typisch sind für jegliches normales Leben, aber dann auch sehr systemspezifisch …

König: Geben Sie mal ein Beispiel!

Ludwig: … argumentieren. Ein Beispiel ist die Frage des Geldverdienens und des Geldausgebens. Wir haben eine sehr spezifische Arbeitswelt in der DDR, eine sehr spezifische Welt des Geldverdienens. Wir haben natürlich normale Löhne und Gehälter, wir haben aber so etwas wie Jahresendprämie, also sozusagen ein Bonus für gute Leistungen in der Produktion. Und dann kommen wir sofort auf die Ebene der staatlichen Regulierung von Einkommensverhältnissen, indem gesagt wird, welche Art von Arbeit wird eigentlich gut befunden und schlecht befunden. Und [Anm. d. Red.: Auslassung, da unverständlich] Besonderheiten in der DDR, das öffentliche Lob für gute Arbeit, etwas, was im Westen so nicht bekannt ist. Und dann wird eine ganze Schicht von Symbolen, wie gute Arbeit bewertet wird, aufgeblättert. Das ist für Besucher, die 20 Jahre nach der DDR in dieses Museum kommen, zum Teil eben auch sehr neu, diese ganze Auszeichnungsgeschichte, die öffentliche Belobigung, die Frage der Arbeitsorganisation in Brigaden, die ja dann auch im, wie es so schön hieß, Titelkampf gegeneinander für den Sozialismus zu guten Leistungen angespornt wurden. Das sind fremde Welten heutzutage, die aber Teil einer gesellschaftlichen Konstruktion waren, die wiederum etwas über DDR und die Vorstellungen, wie diese Gesellschaft aufgebaut werden muss, vermittelt. Und dem gegenüber stellen wir dann die Ebene der Konsumtion, also die Regulierung von Preisen, die in den 50er-Jahren durchgesetzt wird, die Bewertung von Alltagsobjekten, von Konsumgütern als Grundbedarf und als Luxus, die entsprechenden Folgen in der Preisbildung, die entsprechenden Knappheitsformen, die verschiedenen Währungen in der DDR, also von der DDR-Mark bis zum Westgeld in bar. Das ist ein Komplex, wo man sagen kann, Geldverdienen, Geldausgeben ist ein solcher Fokus, der direkt aus dem Alltag kommt, der direkt Bezug nimmt auf die Dinge, die man auch im Alltag hatte oder eben auch nicht hatte, aber in der Dimension der Erläuterung, wie die DDR im Innern funktioniert hat.

König: Wie viel Ostalgisches müssen Sie auch bieten, um Publikum zu locken? Oder wie vieles ist vielleicht gar nicht zu umgehen an Ostalgie, und das meint schon auch im Hintergrund Verklärung?

Ludwig: Also wenn Sie Ostalgie mit Verklärung gleichsetzen vom Begriff, dann würde ich sagen, wir haben einen einzigen Punkt genommen, weil wir ihn für kommunikationsträchtig halten. Wir haben nämlich einen idealisierten Dorfkonsum immer noch in der Ausstellung eingebaut, sehr viel diskutiert dieser Raum – er zeigt sozusagen die idealtypische Warenwelt des Alltäglichen –, weil wir festgestellt haben, dass die Besucher gerade an diesen alltäglichen Dingen sehr schnell ins Gespräch kommen. Da könnte man sich vorstellen, dass die Leute sich nicht einig sind, und ich glaube, dass das Sprechen über Vergangenheit sehr wichtig ist, überhaupt das Sprechen über Veränderungen im eigenen Leben und die Konfrontation des eigenen Lebens mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Landes, in dem man lebt, ein ganz wichtiger Teil von – ja, das klingt jetzt ein bisschen hochtrabend – Bewusstseinsbildung ist.

König: Und diesem Vorwurf, der latent im Raum immer schwebt, durch solche Ausstellungen von DDR-Alltag werde die Diktatur verniedlicht, dem entgehen Sie, wenn Sie sagen, wir haben ein dialektisches Konzept, mit dem gerade das Denken, das Sprechen darüber angeregt wird?

Ludwig: Ostalgie, der Begriff kommt ja von nostalgischer Rückerinnerung an die DDR. Natürlich bleibt das überhaupt nicht aus, dass das so ist. Jeder Mensch, der ein gewisses Lebensalter erreicht hat, reflektiert Vergangenheit, sortiert positive und negative Erfahrungen. Ich glaube allerdings nicht, dass man das jetzt so als Diktaturverherrlichung interpretieren kann, sondern tatsächlich Veränderungen beinhaltet im Denken. Insofern ist der Begriff etwas unglücklich gewählt, er hält sich ja hartnäckig und meint, glaube ich, immer nur in der Form, wie er so oft benutzt wird, einen Teil von Realität. Wir sprechen ja sehr viel von Erinnerung in dieser Zeit, Gedächtnis ist ein ganz wichtiger Begriff, der mir sehr viel wichtiger ist, wenn man über Prozesse redet, die mit Vergangenheit zu tun haben.

König: Es wurde jetzt eröffnet in Ihrem Hause die Ausstellung "1989 – Ein Jahr des Umbruchs und der Hoffnung". Was zeigen Sie da?

Ludwig: Diese Ausstellung ist natürlich geschuldet dem 20. Jahrestag der friedlichen Revolution und der nachfolgenden inneren Auflösung der DDR. Wir zeigen zehn autobiografische Erzählungen aus Ost und aus West, aus Berlin und aus Brandenburg, Männer und Frauen, die jeweils ganz andere Schwerpunkte setzen in dem, was sie verbinden mit diesem Jahr 1989/90. Und wir glauben, dass die Besucher da sich zum Teil wiederfinden können, aber zum Teil völlig fremde Rückerinnerungen lesen können, hören können, sehen können, und das auch zu einem bisschen Irritation führt sozusagen des eigenen festgefügten, auch zum Teil durch die Medien sehr stark fokussierten Bildes auf ganz bestimmte Ereignisse.

König: Und diese Ausstellung wird zu sehen sein bis zum 7. März 2010, wandert danach in das Stadtgeschichtliche Museum Spandau. Herr Ludwig, ich danke Ihnen! Andreas Ludwig war das, er leitet das "Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR" in Eisenhüttenstadt. Sein Aufsatz erschien im Sammelband "Erinnerungsorte der DDR", erschienen im Verlag C. H. Beck.

Ludwig: Ganz herzlichen Dank!