Sprechen sie deutsch?

Von Eberhard Straub |
„Wer die deutsche Sprache versteht und studiert befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selber bereichert“, schrieb 1827 Johann Wolfgang von Goethe dem schottischen Historiker Thomas Carlyle. Wer deutsch nicht beherrschte, dem fehlte bald der unmittelbare Zugang zu Ideen und bloßen Kenntnissen, die gar nicht von Deutschen selber herrühren mussten.
Denn die Deutschen, die wie die Russen immer mehrere Sprachen beherrschten, übersetzten alles Wichtige aus anderen, auch ganz abgelegenen Sprachen und machten es damit der übrigen Welt bekannt. Als geistige Feinmechaniker hatten Deutsche ab dem späten 18. Jahrhundert außerdem in allen Wissenschaften die Begriffe geschaffen oder verfeinert, mit deren Hilfe erst ein bis zur Pedanterie ernsthaftes wissenschaftliches Gespräch möglich wurde, das sich von einer verplauderten Tabakrunde mit Portwein in Oxford oder einer geistreich – pointenlüsternen Konversation in Paris unterschied. Deutsch verdrängte nicht die übrigen Sprachen, es trat zu den klassischen Wissenschaftssprachen – lateinisch, französisch oder italienisch – hinzu. Unter dem Einfluss der Deutschen wurde die wissenschaftliche Welt endgültig mehrsprachig. Eine Sehnsucht nach einer einzigen Umgangssprache gab es damals nicht. Zur Vorstellung der europäischen Kultur als eines großen Zusammenhanges gehörte die Freude an der Vielfalt der Sprachen als Variationen einer übergeordneten Einheit.

Alexander von Humboldt, ein großer Naturwissenschaftler, an den sich die Deutschen in letzter Zeit lebhaft erinnerten, war ein klassischer Autor auf französisch, spanisch, englisch und deutsch. Für den geselligen Verkehr beherrschte er außerdem noch russisch und italienisch. Latein und Griechisch waren auch für einen Naturkundler noch obligatorisch. Heute wird unermüdlich die Globalisierung und der Dialog der Kulturen beschworen. Aber die Voraussetzung jeden ernsthaften Gesprächs, nämlich die Sprache des anderen zu kennen, schwindet wie der Schnee unter der Sonne. Die zunehmende Sprachlosigkeit verstärkt Tendenzen, Englisch überhaupt und auch in den Wissenschaften zu privilegieren. Englisch ist die Sprache der Marktwirtschaft, die, soll sie funktionieren, eine Harmonisierung der Märkte untereinander, also eine weltweite Angleichung des Geschmackes und der Konsumgewohnheiten voraussetzt. Unter den Bedingungen eines ökonomischen Praktizismus liegt es nahe, die Kommunikation zu vereinfachen, Einsprachigkeit statt Vielsprachigkeit zu prämieren. Dem einen Markt und der einen Menschheit soll möglichst eine Sprache entsprechen, die das Pluriversum der Kulturen zum eintönigen Universum gleichgesinnter Verbraucher umformt. Diese eine Sprache hat freilich nichts mehr mit dem Englisch Shakespeares, Jane Austens oder Charles Darwin zu tun. „Globish“ nennen Franzosen dies „approximate english“, eine Schwundstufe des „basic american“, mit dem sich die nah am Markt forschenden Naturwissenschaftler behelfen bei ihrem Austausch von Daten und Informationen. Dafür braucht man keine argumentative Eleganz, ein paar Zeichen und Signale genügen, verstärkt um Powerlaute, wie Wow, Yeah und O.K. Wissenschaftler, und das meint heute vor allem Naturwissenschaftler, können es sich leisten, fast Analphabeten zu sein.

Gegen Englisch als Verkehrs- und Wissenschaftssprache wäre vielleicht nichts einzuwenden, wenn es wenigstens grammatisch korrekt und nicht allzu unbesorgt um den Wortschatz gebraucht würde. Über den Lateinunterricht hatte man früher Deutsch gelernt. Seit Schüler kaum noch Latein lernen, sind die Deutschkenntnisse unter Deutschen erheblich zurückgegangen, ohne dass sich deshalb die Englischkenntnisse verbessert hätten. Wie soll einer, der Schwierigkeiten damit hat, sich auf Deutsch auszudrücken, zur Gewandtheit in englischer Prosa gelangen? Doch warum soll sich Europa nach einer sprachlosen Nation richten, wie den USA, die ihre Sprache als allgemein verbindlich durchsetzen wollen, nur weil Amerikaner keine große Lust haben, sich fremden Sprachen anzueignen?
Warum sollte ausgerechnet im weiträumigsten Reiche, im Reich des Geistes, der weht, wohin er will, sprachliche Verarmung von Vorteil sein?

Die wachsende Unkenntnis der ehemaligen Umgangssprachen der Europäer – französisch und italienisch – macht Europa zu einem geistig ungesicherten Begriff. Gerade in Europa wäre es praktikabel, statt einer einförmigen One- World-Ideologie zu folgen, sich auf den eigenen Reichtum zu besinnen und nach einer Mehrsprachigkeit zu streben, wie sie in den Niederlanden, in Luxemburg oder der Schweiz ohnehin üblich ist. Der globale Markt setzt auf Vergessen und Abflachung der Unterschiede. Der unerschöpfliche Geist nimmt jedoch in vielerlei Zungen Gestalt an und bleibt doch immer der mit sich einige Geist. Eine einheitliche Sprache fördert nicht die Verständigung, sondern erstickt das unberechenbare Leben, und entzieht den Wissenschaften und der Kunst ihren Daseinsgrund. Sprachen gewähren Macht, die Verkümmerung der Sprache zur Information oder Kommunikation kann Ohnmacht in der Welt und Verarmung bewirken. In solcher Ambivalenz äußert sich „Die Macht der Sprache“ in einer globalisierten Welt, wozu das Goethe-Institut und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft in Berlin eine Tagung veranstalten.

Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin.
Buchveröffentlichungen u. a. „Die Wittelsbacher“, „Drei letzte Kaiser“, „Albert Ballin“ und „Eine kleine Geschichte Preußens“ sowie zuletzt „Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit“.