Sprachwitz und Klangspielerei

Die Märchen von Peter Rühmkorf gehören zu den ambitioniertesten Fortschreibungen dieser Gattung im 20. Jahrhundert. Als sie erschienen, rieb sich mancher Rezensent die Augen. Märchen? War das nicht Eskapismus? Dabei war der Zeitgeist der späten siebziger Jahre dem Erzählen (neuer) Märchen durchaus günstig.
Psychoanalyse und Pädagogik hatten das "emanzipatorische Potential" der Märchen wiederentdeckt, nachdem sie lange in Verdacht gestanden hatten, Kinderseelen zu manipulieren. Tolkien war zum Kultbuch geworden, Märchensammlungen hatten Konjunktur. Und dann hatte Günter Grass es allen vorgemacht. Sein 1977 erschienener "Butt" ist zumindest das umfangreichste (Anti-) Märchen deutscher Sprache.

So wandte sich auch Rühmkorf nach enttäuschenden Erfahrungen mit dem politischen Theater dem Märchenerzählen zu. Die Impulse zu den einzelnen Texten waren dabei ganz unterschiedlich. Mal ist es das offenkundige Spiel mit einer berühmten Vorlage, wie dem vielparodierten "Rotkäppchen", dem Rühmkorf noch einmal eine sehr reizvolle Variante mit überraschender Schlusspointe abgewinnt. Dann sind es einzelne, uralte Motive der Märchentradition wie die kapitalismuskritisch inszenierte Gier nach Geld und Gold ("Zu Golde"), dann wieder Anregungen durch aktuelle Themen.

Dazu gehört die epochentypische Angst vor einem neuen Polizeistaat (sehr komisch im allegorischen Märchen "Vom Stiefel") oder das um 1980 virulente Thema der Nachrüstung in "Der Agent und die Elfe", wo es um eine Raketenstation auf verzaubertem Grund geht. Besonders reizvoll und witzig ist Rühmkorfs Spiel mit einmontierten Wirklichkeitspartikeln der Gegenwart – wenn etwa in "Die Feuerfee" von Details der modernen Feuerwehrarbeit (Asbesthandschuhe) und der Versicherungswirtschaft die Rede ist.

Aber wichtiger als der Inhalt ist die Form – das Einschwingen in einen elaborierten Märchensound voller Sprachwitz und Klangspielerei. Rühmkorfs Texte mischen virtuoses Schriftdeutsch mit fingierter Mündlichkeit. So definieren sich diese Märchen in einem artistischen Sinn als spezifisch moderne Kunstmärchen, bei denen von Naivität zumindest auf Seiten des Erzählers nicht die Rede sein kann.

In der Fixierung auf die sprachliche Form, in der liebevollen Stil-Übung, die wieder und wieder an den einzelnen Formulierungen schleift, erkennt man den Lyriker Rühmkorf. Das unterscheidet die Geschichten auch von den traditionellen Märchen, bei denen der Schwerpunkt auf der Handlung liegt: Es gibt etwas Unterhaltsames, Spannendes, für Jedermann und insbesondere die Kinder Lehrreiches zu erzählen.

Mit dieser Eigenheit hängt auch die einzige Schwäche von Rühmkorfs Märchen zusammen. Nicht immer ist der Verlauf der Ereignisse ganz überzeugend, Geschichten werden ein wenig verstolpert, bisweilen kann der entworfene Handlungsbogen die Strecke von zwanzig Seiten nicht tragen. Immer hinreißend ist jedoch der Beginn:

""Habt Ihr so etwas schon einmal gehört? In Calcarterra herrschte ein Stiefel, dessen Anblick jeden, der ihm auf der Straße begegnete, einen Gulden Bußgeld kostete, und wer nicht auf der Stelle berappen konnte, der erhielt einen Tritt in den Arsch so mordsgewaltig wie einen Schlag von der Boultonschen Münzenpresse. Wer aber gerade nichts Bares bei sich hatte und dem üblen Tretmanzu zu entkommen trachtete, hinter dem lief er her auf seinen Siebenmeilensohlen und trampelte auf ihm herum bis für keinen Stoßseufzer mehr Luft in ihm war.”"

Am besten, man liest dergleichen laut – wie es ja auch Rühmkorf, der glänzende Performer seiner Werke, sehr gerne tat. Er ging mit den Märchen auf Tournee und hatte viele begeisterte, lachende Zuhörer.

Der von Heinrich Detering und Sandra Kerschbaumer herausgegebene und glänzend kommentierte Band enthält neben den 13 Märchen der Sammlung "Der Hüter des Misthaufens" das von E.T.A. Hoffmanns "Kater Murr" inspirierte Katzenmärchen in dreizehn Kapiteln "Auf Wiedersehen in Kenilworth". Die im Anhang dokumentierte Entstehungsgeschichte zeigt noch einmal, wie sehr Rühmkorf an der sprachlichen Form gefeilt hat, wie hartnäckig er die Texte überarbeitete. Auch hier erkennt man, dass der Stil und die originellen sprachlichen Findungen dem Autor wichtiger sind Figurenkonzeption und Handlungsverlauf.

Das Buch enthält am Ende achtzig Seiten mit "Aha-Momenten" und "Sternschnuppeneinfällen". Es sind Vorarbeiten für Märchen, die sich trotz hartnäckigem Bemühen dann doch nicht mehr haben schreiben lassen. Diese Sammlung hat etwas von einem Lichtenbergschen Sudelbuch. Der Leser kann die anregenden Fragmente (oft nur ein Satz) nach Belieben fortspinnen.

Rühmkorf schreibt "aufgeklärte Märchen". Die Moral der Antipädagogik und der antiautoritären Märchenkritik, die damals viele Parodien durchtränkte, ist in Ansätzen zu spüren, wird aber nicht aufdringlich. Es geht nicht darum, das Märchen plump zu entzaubern. Im Gegenteil, mit den Mitteln aufgeklärten Schreibens soll das romantische Märchen gerettet werden. Und schon immer galt, was Rühmkorf im Entwurf seiner Märchen-Theorie schreibt: Märchenzeiten sind keine "märchenhaften Zeiten".


Rezensiert von Wolfgang Schneider

Peter Rühmkorf: Die Märchen
Werke, Band 4, Herausgegeben von Heinrich Detering und Sandra Kerschbaumer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007, 447 Seiten, 28 Euro