Sprachrohr der DDR-Opposition

Von Ronny Arnold · 03.01.2006
Samisdat bedeutet auf Russisch soviel wie "selbst verlegt". Der Begriff steht für Hunderte Hefte der DDR-Opposition, die in den 80er Jahren illegal gedruckt wurden. Da sich das minderwertige Papier in den Archiven langsam auflöst, hat man nun mit ihrer Digitalisierung begonnen. Bald sollen sie im Internet als Datenbank zur Verfügung stehen.
" Also unsere Gruppe bestand nur aus drei Leuten. Die meisten Redakteure wussten nicht, wo diese Zeitung gedruckt wird, wie die gedruckt wird. Unser Druckgerät wechselte Woche für Woche seinen Standort. Einfach aus der Angst heraus, dass, wenn sie das Druckgerät erwischen, dann kann nicht mehr gearbeitet werden. Und das ist am Ende auch aufgegangen. "

Thomas Pilz, der Pfarrerssohn aus Großhennersdorf bei Dresden, wollte eigentlich nie konspirativ arbeiten. Statt in halbdunklen Kellern Oppositionshefte zu drucken, hätte er damals lieber Theologie studiert. Doch da er die Volksarmee und damit den Dienst an der Waffe ablehnte, verweigerte der Staat ihm daraufhin das Studium. So kam es, dass er tagsüber als Pfleger in einem Behindertenheim arbeitete. Nachts hingegen traf sich der damals 24-Jährige mit anderen Oppositionellen und druckte heimlich die "Lausitz-Botin".

" Ein Heft, was Anfang 1989 das erste Mal erschien. Und die "Lausitz-Botin" hatte 20 Seiten – mit legen, heften haben wir das innerhalb einer Nacht geschafft, mit einer Auflage von 200 Stück zu drucken. Zum Beispiel haben wir uns stark mit der Luftverschmutzungssituation in der Oberlausitz auseinander gesetzt. Aber auch mit Themen wie den Verhaftungen damals in Leipzig oder der Situation in der Sowjetunion zu Zeiten Gorbatschows. "

Thomas Pilz und seine Mitstreiter produzierten insgesamt vier Ausgaben der "Lausitz-Botin". Die meisten Samisdat-Hefte wurden über kirchliche Wege verteilt, manche von den Lesern sogar weiter vervielfältigt. Die einzelnen Hefte wanderten so durch unzählige Hände. Ständiger Begleiter bei dieser illegalen Arbeit war jedoch die Angst, entdeckt und verhaftet zu werden.

Zu jeder Zeit konnte die Staatssicherheit aufkreuzen – ihre inoffiziellen Mitarbeiter waren fast überall. Auch in den Redaktionen der Opposition – erzählt Uwe Schwabe, der 1988 selbst ein Heft in Umlauf brachte und heute im Leipziger Archiv Bürgerbewegung unter anderem alte Samisdat-Hefte sammelt:

" Der Staat hat immer auf zwei Schienen gearbeitet. Er wollte ja alles wissen: Wie entstehen solche Hefte, wer schreibt die Artikel, wie ist das organisiert. Und gleichzeitig hat man versucht, das Herausgeben dieser Hefte zu verhindern, indem man IMs in die Redaktionen hineingeschleust hat und auch versucht hat, bestimmte Artikel zu verhindern. Es gab verschiedene Möglichkeiten von Seiten des Staates – das größte Mittel waren immer Ordnungsstrafen gegen die Redakteure auszustellen oder die Dinger zu beschlagnahmen bei Hausdurchsuchungen. Und die Begründung war dann immer: Verstoß gegen das Vervielfältigungs- und Veröffentlichungsgesetz der DDR. "

Doch auch diese restriktiven Maßnahmen der Stasi konnten das Drucken der Hefte nicht gänzlich verhindern. Neben der "Lausitz-Botin" gab es mindestens 180 weitere illegale Heftreihen, die in den 1980er Jahren an der DDR-Zensur vorbeiproduziert wurden. Die Schriften hießen etwa "Pechblende" oder "Streiflicht" – hatten teils aber auch recht sperrige Titel wie etwa "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" oder "Unabhängige Periodika für die DDR". Samisdat-Autoren wie Bärbel Bohley oder Rainer Eppelmann saßen später, im Herbst '89, mit am runden Tisch. Heute dokumentieren die alten Hefte genau die Themen der damaligen Opposition, meint Thomas Pilz:

" Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre war sehr stark das Thema Frieden, das Thema Wehrerziehung beschäftigt sehr stark im Samisdat. Man kann klar sehen, dass ab Mitte der 80er Jahre das Thema Umwelt und vielleicht ein, zwei Jahre später das Thema Menschenrechte zunehmend an Gewicht innerhalb der Gruppen gewann. "

Die Samisdat-Hefte waren ein wichtiges Sprachrohr der DDR-Opposition und somit ein bedeutender Baustein im Widerstand gegen das System. Doch bis vor wenigen Monaten drohte ihnen der Verfall – die Zeitdokumente zerbröselten langsam in den Archiven. Sie zu sanieren oder dauerhaft haltbar zu machen ist nicht bezahlbar – deshalb wurde entschieden, sie im Berliner Satz-Rechen-Zentrum, kurz SRZ, zu digitalisieren.

" Die Dokumente sind schon relativ verblasst, zum Teil nicht mehr gut lesbar. Deshalb haben wir hier auch diesen Scanner eingesetzt, der zwar sehr langsam ist, aber dafür gute Qualität macht und auch diese Dokumente noch lesbar im Digitalisat erzeugt."

Ganz vorsichtig legt Peter Stahl, Projektleiter im SRZ, die einzelnen Heftseiten in den Scanner:

" Es gibt hier Vakuumsensoren, die das Blatt anziehen und ganz gleichmäßig durch den Scanner bewegen, so dass auch die Belastung von Licht nur ganz kurz ist, so dass auch keine Lichtschädigung eintreten kann auf den Originalen. "

In den letzten Monaten wurden so 566 Hefte, insgesamt 14.000 einzelne Seiten, abgefilmt und digitalisiert. Zusätzlich ist jedes einzelne Blatt noch einmal Zeile für Zeile am Computer abgetippt worden. Dieses digitalisierte Material wurde in Zusammenarbeit mit der TU Dresden zu einer Internetdatenbank verarbeitet – hier können Interessierte nun gezielt nach Heftreihen, Stichworten und Autoren suchen.
" Ich kann mir das Heft aufrufen – zum Beispiel auch über Stichworte wie Umwelt, Frieden, Menschenrechte – kann dann das Heft, eben wie in einer Bibliothek, durchblättern und kann im Internet, am heimischen Rechner, den gesamten politischen Samisdat der DDR lesen. "

Alle Beteiligten erhoffen sich von der Veröffentlichung im Internet ein neues Interesse an den fast vergessenen Schriften. Und Uwe Schwabe vom Leipziger Archiv Bürgerbewegung hat nun endlich die Gewissheit, dass die alten Hefte auch in einigen Jahrzehnten noch gelesen werden können. In seinen Augen erhalten sie damit endlich ihren verdienten Platz in der Oppositionsgeschichte der DDR:

" Es ist nationales Kulturgut. Ich stufe das einfach so ein und sage, das muss erhalten werden. Keiner würde auch in Frage stellen, ob man die Unterlagen aus der Zeit der NS-Diktatur und des Widerstandes dagegen heute bewahren würde. Es muss gesichert werden, und das ist die einzige Möglichkeit, das auch langfristig zu sichern. Die Zielgruppe sind vor allem Wissenschaftler, Studenten, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Ich denke auch, das Thema Opposition, Widerstand in einer Diktatur ist ein Thema, was viele Leute interessiert. Und dort kann man das wirklich wunderbar nachlesen. "

Die Arbeit von Thomas Pilz in Großhennersdorf ist damit allerdings noch lange nicht getan. Allein durch die jetzige Initiative sind in den letzten 18 Monaten sieben bisher unbekannte Samisdat-Hefte aufgetaucht. Und es gibt noch weitere verschollene Exemplare, nach denen der Ostsachse sucht:

" Bei ungefähr elf Samisdaten wissen wir, dass sie in Listen, in irgendwelchen Publikationen, aber bisher in keinem Archiv aufgetaucht sind. Da hoffe ich, dass wir bis zum Ende des Jahres noch Ergebnisse erzielen. Aber es ist auch gut möglich, dass weiterhin über diese Internetmöglichkeit Leute angesprochen werden, die sagen, ich hab hier noch ein Heft. Vor allem auf lokaler Ebene wird das der Fall sein. Und das wird natürlich dann auch möglich sein, diese Internetanwendung um diese Daten zu erweitern. "

Service:

Demnächst sollen die Samisdat-Hefte im Internet unter www.ddr-samisdat.de nachzulesen sein. Der Link ist derzeit noch nicht aktiv.