Sprachliche Suchbewegungen

Rezensiert von Carola Wiemers · 02.06.2005
Der Band "Gänsesommer" präsentiert 70 Gedichte von Elke Erb, die in der Zeit zwischen 1995 und 2003 entstanden sind. Das Buch im handlichen Kleinformat zeugt von den sprachlichen Suchbewegungen der Dichterin Elke Erb und lässt poetische Begegnungen mit Dichterkollegen zu.
"Es ist, als ob man ihre Gedichte, während man sie vorwärts liest, rückwärts verstehen müsste, so wie Erfahrungen", konstatiert die Dichterkollegin Brigitte Oleschinski 1995 in ihrer Laudatio zur Verleihung des Ida-Dehmel-Literaturpreises an Elke Erb.

Da es sich um eine Laudatio handelt, stellt sich die Frage, was an solch einer poetologischen Strategie zu loben ist. Wer auf Erfahrungen mit Erb-Texten zurückgreifen kann, weiß es längst und wird diese Frage überflüssig finden. Denn auch ihr jüngster Gedichtband mit dem gemütlich klingenden Titel Gänsesommer verlangt einen mitdenkenden, reflektierenden und neugierigen Leser.

All das bedeutet aber auch, sich Zeit zu nehmen, um die eleganten Suchbewegungen in den Gedichten entdecken und jene einzigartige Symbiose von Poesie und Kommentar verstehen zu können, die seit Mitte der neunziger Jahre das Werk der 1938 geborenen Autorin prägt.

Gänsesommer besteht aus zwei Teilen, die in sich chronologisch geordnet und mit Datierungen versehen sind. Die siebzig Gedichte sind zwischen 1995 und 2003 entstanden und entstammen den Tagebüchern, die Elke Erb in dieser Zeit geschrieben hat. Sie selbst spricht von Notizen, die in einem vorliterarischen Stadium als "gedankliche Klärungen" gedacht waren und im Sommer 2001 für ein Manuskript überarbeitet und erweitert wurden.

Schlägt man das Buch auf, stößt man im ersten Gedicht bereits auf ein typisches Vexierbild:

"Halt
Wenn ich noch ein Wort sage
mit meiner heilen, armierten
Stimme, leugne ich

die Vergeblichkeit, den Verfall
der flüchtigen kriminellen Begeisterungen
der meinen Spielraum siegreich einst
überwuchert habenden Armatur."

"Halt" - als Verbot oder Sicherheit, oder eben Sicherheit als das Verbotene?

Um es vorweg zu nehmen: in welcher Ambivalenz auch gedacht, einen Halt/ein Halten wird es für den willigen Leser auch mit diesem Gedichtband nicht geben, denn nach dem zitierten Eingangsgedicht geht es erst richtig los. Da wird über "Grundbegriffe" gegrübelt, das "Partizip Perfekt" in ein neues aufklärerisches Licht der Erkenntnis gerückt, über das "Wer oder was?" einer Wahrnehmung beim Lesen nachgedacht oder ein Satz Ludwig Wittgensteins als unübertrefflich zitiert, in dem es um nichts Geringeres als die "logische Identität von Zeichen und Bezeichneten" geht.

Elke Erbs Gedichten liegt ein Prinzip des Dialogischen zugrunde, das zum Gespräch auffordert. In einigen Texten wird ein Dialog mit Dichterfreunden fortgesetzt, der schon seit Jahren geführt wird (Barbara Köhler, Gregor Laschen, Herta Müller). Ein Beispiel dafür ist das Gedicht "Parabel". Gelesen als Antwort auf Ulrike Draesners Gedanken, Elke Erbs Gedichte wären "analytische Parabeln auf das Rätsel unseres Alltags im Denken und Fühlen", fordert es erneut zum Widerspruch heraus.

In der suchenden Neugier dieser Denk- und Sprachbewegungen ist immer wieder vom "Schreiben, Verfassen – ja ach!" von der Verlegenheit bei der Wortarbeit die Rede, die nicht nur den Text-Körper, sondern auch den Körper des Sprechenden erfasst (Gedicht "Anpassung").

Zu einer Begegnung besonderer Art kommt es schließlich im Titelgedicht Gänsesommer, das in fragilen Todesbildern an die amerikanische Dichterin Emily Dickinson (1830-1886) erinnert, die innerhalb der Spätromantik nicht nur eine herausragende Bedeutung besitzt, sondern auch als Vorläuferin der Moderne gilt. Im Gedicht tritt sie uns als weiß gekleidete Gestalt in einer "Spiegelleere" entgegen.

Elke Erbs Gänsesommer beinhaltet im handlichen Kleinformat der Urs Engeler Edition wieder einmal eine gehörige Portion sprachlicher Virtuosität, aus der seit nunmehr drei Jahrzehnten kraftvolle und beunruhigende Texte entstehen, die nicht nur gelesen werden wollen.

Elke Erb: Gänsesommer
Gedichte.
Urs Engeler Edition. 2005.
118 Seiten. 17 Euro.