Sprache und Begehren

Rezensiert von Wolfgang Schneider |
In "Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer" versammeln sich sämtliche Erzählungen von Bodo Kirchhoff aus den Jahren 1978 bis 2004 in einem ungewöhnlichen Band. Hier kann man mit Genuss das solide Handwerk eines liebevollen Spracharbeiters kennen lernen, der wie kein anderer nach der Verbindung von Sprache und Begehren sucht.
Wer schreibt, der bleibt? Der Ewigkeitswert von Literatur wird oft vorschnell behauptet. Während die Pop-Hits der siebziger und achtziger Jahre sich ausdauernder Beliebtheit erfreuen, sind die meisten Bestseller und gefeierten Bücher jener Zeit längst vergessen. So darf man es hervorheben, dass sich die meisten von Bodo Kirchhoffs Erzählungen aus den Jahren 1978-2002 gut gehalten haben. Jetzt sind sie in einem dicken Band erschienen: 31 Geschichten, darunter sechs Erstveröffentlichungen.

Kirchhoff hatte einen Ruf als "bad boy" der deutschen Literatur der achtziger Jahre. "Die Einsamkeit der Haut" hieß seine erste Erzählsammlung 1981, es folgten "Dame und Schwein" und "Ferne Frauen": Bände, deren Handlungsorte oft Bordelle, Peep-Shows und Stundenhotels sind. Käufliche Lust ohne viele Worte, das war um 1980, als die Neue Innerlichkeit in der Literatur Blüten trieb und allerorten "Authentizität" eingefordert und mittels ausdauernder Beziehungsdiskussionen erstritten wurde, ein anrüchiges Thema. Man wollte "natürlich" sein - ein Titel von Kirchhoff lautet dagegen "Die Unnatürlichkeit der Lust". Damit ist die Perspektive des Befremdens, aus der in diesen Erzählungen auf das Liebesleben geblickt wird, programmatisch benannt.
Wichtiger als das Milieu sind die Hauptfiguren, meist wortkarge Einzelgänger, deren Lebensmotto lautet: "Man muss ja vorsichtig sein mit fremden Menschen, eine Geste zuviel, und man hat sie am Hals." Fremde Körper sind nur Projektionsflächen für die erotische Phantasie dieser Männer; sie haben es weniger auf Befriedigung als auf Stimulation ihrer Einbildungskraft abgesehen. Ganz wie der Autor selbst.

Kirchhoff ist ein Meister erotischen Erzählens, was heutzutage nicht oft vorkommt. Wir leben umstellt von erotischen Bildern in den visuellen Medien – wie soll die literarische Sprache da mithalten? Bei Kirchhoff gibt es indessen eine sehr intensive Verbindung von Begehren und Sprache. Die Sprache zeigt nichts - aber sie verspricht sehr viel. Und mit dieser Spannung arbeitet der Erzähler.

In vielen der Geschichten erzählt Kirchhoff auf zwei Ebenen. Thematische und motivische Antithesen werden entwickelt. Daraus entstehen oft leise Absurditäten (Ironie ist nicht ganz unwichtig). Da geht jemand zum Beispiel im Stundenhotel seiner Lust nach - und im Fenster gegenüber steigert sich gerade der Streit eines Paares zum Selbstmordversuch: Ein Mann springt aus dem Fenster.

Strukturell ähnlich die Konstellation der Titelgeschichte, der längsten des Bandes: ein Paar in einem Haus hoch über dem Gardasee. Wohlhabende Idylle, so scheint es. Während sie mitten in der Nacht auf dem Balkon in ein intensives Gespräch vertieft sind und ihre gemeinsame Geschichte aufgerollt wird, machen sich unten im Haus zwei Einbrecher ans Werk. Als die Eheleute, aufgeschreckt von einem Geräusch, die beiden stellen, entwickelt sich eine hochdramatische Situation – da klingelt das Telefon.

Das klingt fast wie ein erzählerisches Modell für die Freudsche Formel vom "Ich", das nicht Herr im eigenen Haus sei. So ist es tatsächlich in vielen dieser Erzählungen: Das Ich bekommt unerwarteten oder unerbetenen Besuch von nicht ganz sozialen Trieben und Bestrebungen. Selbsttäuschungen und Momente der Erkenntnis werden mit nahezu klassischer Erzählkunst in Szene gesetzt.

Interessant ist die Entwicklung von Kirchhoffs Schreiben, die sich anhand dieses Bandes nachvollziehen lässt: Wortkarge, einsame Männer dominieren die frühen Erzählungen; in den jüngsten Werken wird mitten aus Familiensituationen heraus erzählt, es gibt Ehefrauen und Kinder. Während die frühen Erzählungen isolierte Momente oder kurze Zeitabschnitte schildern und wenig vom Vorleben der Figuren verraten, umspannen die späteren Erzählungen oft Jahrzehnte.

Kaum erstaunlich - denn nicht nur der Autor ist älter geworden, auch seine Figuren. Sie tragen immer mehr Vergangenheit mit sich herum. In den späteren Erzählungen wird nun auch sehr viel mehr geredet, aber meistens aneinander vorbei, so dass Kirchhoffs Grundmotiv der scheiternden Kommunikation nur mit anderen Mitteln weitergeführt wird.

Ein gewisser Narzissmus ist bei den Protagonisten Kirchhoffs nicht zu übersehen. Wie jeder von ihnen seine Körperoberfläche pflegt, so der Autor seinen Satzbau. Der Tonfall wurde um 1980 als kalt und emotionslos kritisiert. Heute – wo kurzatmige Lakonie zur Mode geworden ist – fällt eher die Präzision angenehm ins Auge, mit der die Außenwelt, aber auch Abgründe des Innenlebens beschrieben werden. Bei diesem Autor ist von Anfang an eine Neigung zum gepflegten, ambitionierten Stil zu erkennen, selbst wenn den frühen Kirchhoff die ungepflegten Sujets reizen – eine interessante Kontrastwirkung.

Zunehmend entwickelt Kirchhoff dann jenes elegante "Parlando", das sogar zum Titel seines 2001 veröffentlichten Romans wurde - lange Sätze mit plauderhaftem Gestus und handwerklicher Exzellenz. Mag das bisweilen auch ein wenig zu gefällig wirken, mit Genuss liest man diese soliden Produkte eines liebevollen Spracharbeiters. Ein Buch, das die Saison überleben wird.

Bodo Kirchhoff: Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer
Die Erzählungen aus 25 Jahren.
Frankfurter Verlagsanstalt 2005,
496 S., 24,70 Euro