Spracharchiv

Die Retter der bedrohten Sprachen

Asaro-Schlammmenschen in Goroka spielen eine Geschichte aus der Mythologie nach.
Asaro-Schlammmenschen in Papua-Neuguinea - auch hier leben bedrohte Sprachgemeinschaften. © picture alliance / dpa / Christiane Oelrich
Von Stephanie Kowalewski · 06.08.2015
Einige Sprachen sind genauso vom Aussterben bedroht wie Pflanzen- oder Tierarten. Damit sie nicht für immer verloren gehen, werden sie von Wissenschaftlern des Max-Plank-Instituts archiviert - teils auch multimedial.
"Man nimmt allgemein an, dass es zwischen 6000 und 7000 Sprachen auf der Welt gibt. Und von diesen 6000 bis 7000 Sprachen sind ungefähr 80 Prozent bedroht."
Gunter Senft ist Professor für allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Köln und Forscher am Max-Plank-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen.
"Man geht davon aus, dass im Augenblick jede Woche einer diesen Sprachen stirbt."
Bevor sie für immer verstummen, sollten sie möglichst alle im Archiv für Bedrohte Sprachen - DOBES - in Nimwegen landen, sagt der Niederländer Paul Trilsbeek, der für das Multimedia-Archiv verantwortlich ist.
"Die Seite heißt dobes.mpi.nl. Und da kann man sich Beispiele angucken und hören von verschiedenen bedrohten Sprachen, die im Dobes-Projekt dokumentiert sind. Zum Beispiel hier gibt es eine Videoaufnahme Laal. Das ist eine Sprache die in Afrika gesprochen wird, im Tschad."
Bedroht sind vor allem die Sprachen kleiner Gruppen in Ländern mit ein oder zwei Nationalsprachen, die dann allmählich die Muttersprache dieser Gemeinschaft verdrängen. Gunter Senft nennt ein Beispiel aus Papua Neuguinea:
"Es gibt am Sepik, das ist ein riesengroßer Fluss in Papua Neuguinea, eine von vielen Sprachgemeinschaften, die die Sprache Yimas sprechen. Und die Leute, die haben einfach beschlossen, ihren Kindern nicht mehr ihre Sprache weiterzugeben, sondern den Kindern das melanesische Pidgin, das Tok Pisin, als Muttersprache zu vermitteln, weil sie davon ausgehen, dass sie mit dieser Sprache bessere Chancen haben. Das ist ein ganz klarer Punkt, wo eine Sprachgemeinschaft einfach auf Grund von ökonomischen Überlegungen für die nachfolgende Generation beschließt, wirklich offiziell beschließt, ihre Sprache sterben zu lassen."
Wenn eine Sprache verschwindet, stirbt die Kultur
Na und – könnte man denken. Doch mit jeder Sprache, die verschwindet, sagt Gunter Senft, geht aber auch ein Teil der Kultur der Menschen verloren, ihre Art zu denken, Wissen und Traditionen weiterzugeben.
"Von daher ist es unglaublich wichtig, dass Sprachwissenschaftler versuchen, so viele von diesen Sprachen wie irgend möglich zu dokumentieren, damit wir in den nächsten Jahren noch einen Eindruck von der unglaublichen Sprachenvielfalt haben, die hier auf dieser Erde geherrscht hat."
Dazu müssen die bedrohten Sprachen erforscht, beschrieben und katalogisiert werden. Eine ungeheuer aufwendige Arbeit.
Sprachwissenschaftler reisen in das betreffende Gebiet, leben dort eine Weile und versuchen, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Gunter Senft hat - zusammengerechnet - mehrere Jahre in einem kleinen Dorf auf einer kleinen Insel in Papua Neuguinea gelebt. Der drittgrößte Inselstaat der Welt ist ein Land mit extremer Sprachenvielfalt. Noch werden unter den fast sieben Millionen Einwohnern schätzungsweise 700 unterschiedliche Sprachen gesprochen. Gunter Senft erforscht eine davon – Kiliwila.
Um Kiliwila für die Zukunft zu bewahren, musste Gunter Senft die Sprache selbst erlernen, sie beschreiben, ein Wörterbuch und eine Grammatik erstellen sowie die Lautstruktur charakterisieren. Nachdem er die Fragewörter, wer, was, wo und so weiter, von einem Missionar gelernt hatte, war er auf sich selbst gestellt. Lediglich einen einzigen Satz konnte er in der noch unbekannten Sprache sprechen.
"Der Satz den ich mir eingeprägt hatte, ohne zu wissen, wie das eigentlich genau zu analysieren ist, war 'Ich will Kiliwila lernen'. Und damit bin ich ins Feld gegangen und mit einem Oxford-Bildwörterbuch, wo furchtbar viele Sachen, zum Beispiel der innere Aufbau eines Motors oder so drinstehen. Wo man einfach drauf deuten kann und dann fragen kann 'avaca?' Und dann kriegt man ein Wort."
Der Forscher erinnert sich an die Schwierigkeit, Wortanfänge und -enden zu erkennen, die Betonung zu treffen und Namen richtig auszusprechen.
"Es dauert eine Zeit, bis man einen Eigennamen wie zum Beispiel Luluvasikweguyau locker über die Lippen kriegt, das muss man einfach auch lernen. Und inzwischen kann ich sagen, mein Kiliwila ist besser als mein Niederländisch."
Während seiner langen Aufenthalte in dem Dorf ist Gunter Senft stets mit einer Videokamera und einem Mikrofon unterwegs. Er nimmt den Alltag der Dorfbewohner auf, filmt, wie sie ihre Mahlzeiten zubereiten, Häuser und Kanus bauen und nimmt an ihren Festen teil. So bewahrt er den Klang und die Worte der bedrohten Sprache für die Nachwelt – zumindest in Bruchteilen.
Mehr als 20.000 Stunden Audio- und Videoaufnahmen
Wieder zurück im Max-Planck-Institut in Nimwegen landet das Material in einem der weltweit größten Archive für bedrohte Sprachen, sagt der Leiter des Multimedia-Archivs, Paul Trilsbeek.
"Wir sind das zentrale Archiv für das DOBES - Dokumentation Bedrohter Sprachen-Programm. Wir haben hier ein großes Archiv, digitales Archiv, wo wir mehr als 200 verschiedene Sprachen aufbewahren. Unten im Keller stehen große Server mit Festplatten und Taperoboter. Und wir haben so ungefähr 90 Terabyte an Materialien. Das sind mehr als 20.000 Stunden Audio- und Videoaufnahmen."
Ein Großteil dieser unglaublichen Datensammlung ist Rohmaterial, das von den Sprachwissenschaftlern in mühseliger Kleinarbeit aufgearbeitet und katalogisiert wird. Da wartet Arbeit für Jahre, lacht Gunter Senft, denn jedes aufgenommene Wort wird verschriftlicht, samt grammatischer Wortanalyse und Lautschrift.
"Wenn sie zum Beispiel eine Minute Sprachaufnahme vom Tonband transkribieren wollen, dann müssen sie damit rechnen, dass sie zwischen 20 Minuten und manche Leute auch bis zu 40 Minuten brauchen. Und von daher kann man eigentlich schon sehr froh sein, wenn man - ja sagen wir mal – für eine halbwegs gut dokumentierte Sprache zwischen 20 und 30 Stunden hat."
Wer möchte kann kostenlos und direkt auf die hier gespeicherten Daten zugreifen. Doch wer klickt sich eigentlich durch die Welt der bedrohten Sprachen?
"Ja, meistens auch andere Linguisten, wir bekommen manchmal auch Fragen von Leuten, die mit der Sprachgemeinschaft liiert sind, die Sprachaufnahmen von ihren Großeltern suchen oder so, und Journalisten manchmal natürlich."
Das Archiv für bedrohte und ausgestorbene Sprachen ist also kein totes Archiv, sondern man kann direkt damit arbeiten.
Mehr zum Thema