Spott für ein bröckelndes System

24.05.2013
Die aus der Ukraine stammende Autorin Julia Kissina veröffentlicht nach zahlreichen Erzählungen nun ihren ersten Roman. Sie erinnert sich darin an ihre Kindheit im Kiew der letzten Sowjetjahre und rechnet in bitter-bösem Ton mit dieser Ära ab.
Julia Kissina hat sich nach ihrem ersten furiosen Erzählungsband, der vor acht Jahren unter dem Titel "Vergiss Tarantino" erschien, viel Zeit gelassen mit ihrem ersten Roman. Doch sie schreibt ja nicht nur. Sie ist auch Fotografin und Aktionskünstlerin. Hier aber kommt sie wieder zurück zum Text. Dabei fällt auf: Sie hält an der russischen Sprache fest, obwohl die aus der Ukraine stammende Autorin nun schon seit über 20 Jahren in Deutschland lebt. Auch ihr erster Roman ist übersetzt. Offenbar traut sie ihrem Deutsch nicht, einen solchen absurden, wunderbar überdrehten und komischen Episoden-Roman zu produzieren, wie wir ihn jetzt lesen können.

"Frühling auf dem Mond" ist inspiriert von Julia Kissinas eigener Geschichte, einer Kindheit und Jugend im Kiew der 70er und 80er. Die Breschnew-Ära, geprägt von einem sichtbar bröckelnden System, das mit letzter Kraft aufrecht erhalten wird, aber den Vertretern der jungen Generation der Autorin kaum mehr Angst einjagen kann. Sogar der KGB-Offizier, der den Roman-Vater ihrer Ich-Erzählerin verhören soll, ist unmotiviert und schreibt lieber Gedichte statt "Staatsfeinde" zu drangsalieren. Stadt und Land sind im Verfall begriffen, eine Zukunft gibt es nicht. Das Einzige, was noch lebendig ist, ist die Vergangenheit. Sie legt sich allerdings mehr wie ein Schatten über die Familien. Krieg ‒ der "Große Vaterländische" ‒ und die Stalin-Zeit sind gar nicht so lange her.

Der Roman lässt entlassene Gulag-Häftlinge in wodkagetränkter Feierlaune ebenso auftreten wie Frauen, die sich damals mit den Deutschen eingelassen haben und Jahrzehnte später noch "Faschistenflittchen" gerufen werden. Nur die Mutter der Erzählerin, die zuweilen auf Vorrat weint, hat ein Herz auch für diese Verstoßenen. Mehr noch, ihr Helfersyndrom kennt kaum Grenzen, sie nimmt jedes ältere Mütterchen auf, bis es irgendwann der Familie zu viel wird und der Vater mit Auszug droht. Gleichzeitig opponieren die Eltern kaum politisch; das KGB-Verhör fand eher pro forma statt, vermutlich auch weil der Vater als Jude grundsätzlich unter dem Verdacht der zionistischen Weltverschwörung stand.

Säuerliche Mienen, staubiger Müßiggang
Julia Kissinas Ich-Erzählerin hat für dieses Sowjetreich mit seinem offiziellen Genie-Kult zwischen Puschkin, Lenin und Gagarin kaum mehr als Spott übrig. Bitter und fast wütend wird ihr Ton jedoch, wenn sie die Zerstörung ihrer Heimatstadt Kiew durch seelenlose Plattenbau-Siedlungen beschreibt. Resigniert klingt sie, wenn sie von rußverdreckten Bussen, rumpelnden Straßenbahnen, oder von den "säuerliche Mienen" und dem "staubigen Müßiggang" ihrer sowjetischen Mitbürger schreibt. Der im Roman immer wieder auftauchende, fast schon mythische Ort der anatomischen Sammlung der Universität wird zum Sinnbild des leblosen Objekts, das dem Beobachter zuweilen morbide Schauer über den Rücken treibt.

Darüber hinaus aber macht Julia Kissinas literarisches Alter Ego eine Pubertät durch wie andere auch ‒ die jugendlichen Wirrungen von Körper und Geist zeigen sich im Kern mal wieder unabhängig vom politischen System.

Prall, eloquent, fantastisch, witzig, zuweilen aber auch böse und gnadenlos ‒ so zeigt sich Julia Kissinas erster Roman. Eine Leseerlebnis, das nicht nur mit einem ganz eigenen literarischen Ton aufwartet, sondern darüber hinaus auch seltene Einblicke in das Innenleben der späten Sowjet-Ära bietet.

Besprochen von Vladimir Balzer

Julia Kissina: Frühling auf dem Mond
Aus dem Russischen von Valerie Engler
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
252 Seiten, 18,95 Euro