Sportwetten

Die unterschätzte Suchtgefahr

07:41 Minuten
Ein Wettbüro im Juni 2016 in London. Ein Mann sitzt vor lauter Monitoren.
Aufhören mit dem ständigen Wetten: Das ist für viele ohne fremde Hilfe nicht möglich, sagt Neurobiologin Nina Romanczuk-Seiferth. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Von Manfred Götzke · 26.11.2019
Audio herunterladen
An manchen Tagen verzockte Yusuf tausend Euro im Wettbüro. Um an das nötige Geld zu kommen, log und betrog er, hinterging Freunde und Verwandte. Als er begriff, dass er spielsüchtig ist, war es fast zu spät.
Yusuf führt in ein kleines Zimmer über seinem Köfte-Laden in Berlin Neukölln. Hier, abgeschieden von seinen Kunden und Mitarbeitern, kann er offen reden – über das, was sein Leben fast zugrunde gerichtet hätte. Seine Spielsucht. Genauer: seine Sportwetten-Sucht.
"Ich habe fast alles verloren, was ich hätte verlieren können."
Angefangen hat alles mit 14, erzählt er. Damals hat ihn sein Onkel zum Wettbüro geschickt, um die Wett-Scheine abzugeben. Yusuf und seine Cousins haben dabei immer auch ihr eigenes Taschengeld gesetzt.

"Und so wurde das immer mehr, immer mehr. Die haben auch nach dem Alter nicht gefragt, wir waren ja noch minderjährig. Mit 14,15 sind wir schon da rein gekommen und konnten den ganzen Tag wetten."

Und so wurde aus einem Zeitvertreib eine Sucht. Eine Erkrankung, wie er heute weiß. Irgendwann hat Yusuf – der eigentlich anders heißt – fast jede freie Minute im Wettbüro verbracht und auf Fußballspiele gewettet. Allerdings längst nicht nur auf die Ergebnisse der Partien.

"Zum Schluss war es so, dass man in zehn Minuten was gewonnen oder verloren hatte. Man hat auf ein Tor gesetzt, wer das nächste Tor schießt. Wer den nächsten Einwurf hat zum Beispiel – das finde ich am schlimmsten. Oder wer Anstoß hat – darauf hat man gesetzt. Man ist ja nicht normal, wenn man auf Einwurf wettet, da merkt eigentlich ja jeder, das ist krank."

Tausend Euro an einem Tag – einfach weg

An manchen Tagen hat er mehrere tausend Euro verloren. Das Geld für die Wetten hat sich Yusuf immer wieder bei Verwandten und Freunden geliehen.

"Die Lügen kamen einfach von alleine, um an das Geld zu kommen. Und man hat es mir auch abgenommen. Es gibt bei uns so einen großen Zusammenhalt in der Familie wie in keiner, die ich kenne. Ich hab von da bekommen, von da bekommen, ich hab' gesagt, ich mach mir was Neues auf, obwohl ich kein Geschäft hatte, aber ich hab' so getan, als ob ich ein Geschäft eröffnen würde – und es ging alles ins Spielen rein."

Als das Lügen und Leihen nicht mehr funktioniert hat, hat Yusuf sich das Geld gemeinsam mit Bekannten auf andere Weise besorgt. Durch Betrug. Beschaffungskriminalität. Denn auf dem Höhepunkt seiner Sucht konnte der heute 29-Jährige an kaum etwas anderes denken als an die nächste Wette. Stundenlang war er im Wettbüro, jeden Tag. Ging es mal nicht, rief er dort an, um telefonisch Wetten zu platzieren.

"Dann bin ich später vorbei gekommen und konnte das ganze Geld zahlen, das ich verloren habe."

Dass sein Spielverhalten nicht normal war, dass er süchtig war, war Yusuf irgendwann klar. Immer wieder nahm er sich vor, mit dem Wetten aufzuhören. Allein: Es funktionierte nicht.
"Sobald Geld alle war, hab' ich gesagt: Du musst damit aufhören, ist 'ne Sucht. Aber sobald man wieder Geld hatte, ist alles vergessen gewesen, was du dir vorgenommen hast."

Aufhören ohne Hilfe schaffen nur wenige

Den meisten Wett- und Spielsüchtigen geht es ähnlich wie Yusuf, sagt Nina Romanczuk-Seiferth. Die Neurobiologin und Psychologin leitet die AG-Spielsucht an der Berliner Charité. Aufhören mit dem Spielen mit Wetten ist vielen ohne fremde Hilfe unmöglich.
"Jemand, der von Glücksspiel abhängig ist, der hat in der Regel mit sehr, sehr schweren Folgen in vielen Bereichen seines Lebens zu kämpfen und kann es trotzdem nicht lassen und es reicht auch nicht, sich selber zu sagen oder von anderen zu hören, naja, dann geh' doch einfach nicht mehr spielen."
Seit jeder Wettanbieter Apps fürs Handy betreibt und die Wettbuden an jeder Ecke stehen, hat sich diese Form der Spielsucht ausgeweitet, sagt Romanczuk-Seiferth. Die Versuchung zu spielen, ist schließlich immer da. Egal ob bei der Arbeit – oder nachts.
"Wenn ich etwas nicht verfügbar habe, kann ich davon nicht abhängig werden. Das betrifft natürlich auch solche Dinge wie Glücksspiel. Und da ist die Technologie, die uns ermöglicht, viele Aktivitäten ständig unterwegs zu machen, ein Fluch, weil wir Sportwetten jederzeit platzieren können – und das führt dazu, dass das Risiko höher ist, dass ich das auch tue."

Romanuczuk-Seiferth und ihr Team in der Charité erforschen, warum Glücksspiele und Sportwetten so stark abhängig machen und warum es so schwer fällt, davon loszukommen.
"Was man im Gehirn sozusagen findet, ist, dass die Spielaktivität im Gehirn eine so hohe Bedeutung bekommt, dass es für wichtiger genommen wird, als Dinge, die sonst für uns sehr reizvoll sind, also Musik, gutes Essen, Kontakt zu anderen Menschen, das sind normalerweise Dinge, die für unser Gehirn sehr bedeutsam sind und bearbeitet werden und bei solchen Abhängigkeitserkrankungen treten solche Dinge in den Hintergrund."

Was bei Sportwetten noch hinzu kommt: Viele Intensiv-Spieler halten sich für Experten auf ihrem Gebiet.
"Die Menschen, die besonders überzeugt sind, einen Einfluss auf den Ausgang des Spiels haben oder dass sie besonders gut die Szene kennen, in der sie wetten, also Hunderennen oder Pferderennen oder Fußballspiele, die sind gefährdeter, eine Abhängigkeit zu entwickeln. Eben weil sie davon ausgehen, das Spielverhalten besser unter Kontrolle zu haben."

Betroffene müssen erkennen, dass sie krank sind

Der erste Schritt, um "clean" zu werden: Die Betroffenen müssten anerkennen, dass sie krank sind, sagt Romanczuk-Seiffert. Vielen Spielsüchtigen sei das nicht bewusst – auch weil Spielsucht noch gar nicht lange als Krankheit anerkannt ist.
"Im Bereich Glücksspiel ist es so, dass die meisten erst in Therapie kommen, wenn sie schwere psychosoziale Folgen haben, wenn sie hoch verschuldet sind, oder gekündigt wurden – oder sie kommen wegen Suizidalität, also sich das Leben nehmen zu wollen, weil er keinen Ausweg mehr sieht. Also die wenigsten kommen wegen der Glücksspielproblematik."
Yusuf hat die Erkenntnis, krank zu sein, erst erlangt, als es schon zu spät war. Im Gefängnis. Vier Jahre saß er ein, weil er sich illegal Geld beschafft hatte, um seine Sucht zu befriedigen.
"Da hab ich meinen Denkzettel bekommen – aber die Distanz war gut für mich. Das war der Wendepunkt."
Noch in der Haft ging er zu einer Selbsthilfegruppe – machte eine Therapie.
"Natürlich war es eine Sucht, aber ich hab es damals nicht eingesehen. Jetzt im Nachhinein sag ich mir auch, wie konntest du das tun. Jetzt verdiene ich das Geld hart – ich stehe hier manchmal 14-16 Stunden auf den Beinen. Da verschenkst du das Geld nicht einfach so."
"Hast Du mal zusammen gezählt, wie viel du verspielt hast?"
"Wenn ich wirklich alles zusammenrechne, ist es eine Million. Also nicht nur eine Million. Viel mehr."
Yusuf kann heute an den zahlreichen Wettbüros in seiner Nachbarschaft vorbei gehen, ohne in Versuchung zu kommen. Es reizt ihn nicht mehr. Anders als viele seiner Freunde.
"Es gibt leider sehr viele, die auch wirklich krankhaft sind. Ich kenne zwei, die kurz vor dem Selbstmord standen. Und das ist schon schlimm. Die Politik sieht das Ganze – und das sie nichts dagegen unternehmen, die unternehmen einfach nichts."
Mehr zum Thema