Eine sportliche Erkundung im Amt Neuhaus

Freies Spiel zwischen Ost und West

23:32 Minuten
Ortseingangsschild Amt Neuhaus
Amt Neuhaus hat eine ganz spezielle Lage (hier ein Ortseingangsschild). © Knut Benzner
Von Knut Benzner · 02.10.2022
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Elbe, Seen, Fischreichtum: Für Petrijünger ist dieses Örtchen ein kleines Paradies – und es hat eine wechselvolle Geschichte. Ehemals gehörte Amt Neuhaus zum Königreich Hannover, später zur DDR. Angeln war damals unmöglich – wegen Fluchtgefahr.
Knapp 40 Kilometer Elbe, keine Brücke und eine Fähre, die bisweilen nicht fährt. Vereinzelt wegen dieser speziellen Lage immer noch auf die Wiedervereinigung wartend und, obwohl beziehungsweise gerade östlich der Elbe, voller Vertrauen auf das Land Niedersachsen, dessen Vorgänger, dem Königreich Hannover und dem 1946 entstandenen Wappen: das weiße Ross auf rotem Grund.
Jenny Dencker ist Diplomrechtspflegerin beim Amtsgericht Lüneburg. Das Amt Neuhaus gehört zum Kreis Lüneburg.
"Ich komme aus Amt Neuhaus, bin gebürtige Neuhauserin, hier aufgewachsen und und bin Präsidentin des Schützenvereins Neuhaus-Carrenzien."
Jenny Dencker trägt eine Trainingsjacke, auf der dunklen Trainingsjacke das Vereinswappen. "Das Wappen ist das Gemeindewappen, das wir für unseren Verein mitnutzen dürfen."
Quadriert, oben links und unten rechts ein grüner Rautenkranz auf schwarz-goldenem Hintergrund, oben rechts das Ross, unten links das Schloss, 1369 zum ersten Mal erwähnt, Nebenresidenz der Herzöge von Sachsen-Lauenburg, 1719 abgerissen.
Jenny Denckers Vater war freiberuflicher Schmied, ihre Mutter in einer Landesproduktionsgenossenschaft, beide natürlich Mitglieder bei den Schützen. Gegründet wurde ihr Verein im Jahr 1851.

Einen Schützenverein gab es in der DDR nicht

"Ursprünglich im Jahr 1851 und wiedergegründet mit der Wiedervereinigung 1991. Dazwischen gab's uns nicht. Zu DDR-Zeiten gab es die GST, die Gesellschaft für Sport und Technik, und darüber wurde der Schießsport betrieben, aber einen reinen Schützenverein gab es zu DDR-Zeiten nicht."
Die GST bildete den Dachverband für technische Sportarten wie Sportschießen, Motorsport, Marine- und Seesport, für Tauch-, Segel- und Funksport. Eine paramilitärische Massenorganisation, die zur Militarisierung sowie zur Disziplinierung der Jugend und der Förderung der Wehrbereitschaft der Bevölkerung beitrug.
Die Sportschützen der DDR, eingebunden ins olympische Programm, waren mehrfache Olympiasieger und  Europa- und Weltmeister. Der Deutsche Schützenverband der DDR war mit 247.000 Sportschützen der mitgliederstärkste Verband der GST.
Neulich hatten sie im Schützenverein Neuhaus-Carrenzien, 70 Mitglieder, davon 20 Kinder, einen Sommerbiathlon mit Tagessprint.

Männer und Frauen waren im Schützenverein bei uns immer gleichberechtigt, da gab es nie Unterschiede. Man kennt es aus den Vereinen von der anderen Seite, dass die teilweise ein bisschen männlicher geprägt sind.

Jenny Dencker, Schützenverein Neuhaus-Carrenzien

Das Königreich Hannover - damit fing fast alles an: Wiener Kongress, Nachfolgestaat des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg, immerhin gleichzeitig Herrscher des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland, anschließend preußische Annexion, Provinz Hannover, dann Land Hannover, schließlich Niedersachsen.
Noch einmal zurück zum Königreich - das war ziemlich groß. Reichte bis an die Nordsee, westlich entlang der Ems und darüber hinaus, südlich knapp vor Kassel, dazwischen die drei Flecken des Großherzogtums Oldenburg sowie der beiden Hansestädte Hamburg und Bremen - und östlich beziehungsweise nordöstlich?

Verhinderter Elbblick

Die Elbe: Eben nicht nur die Elbe, sondern jene 240 Quadratkilometer darüber hinaus, mitten hinein ins Herzogtum Mecklenburg. Manchmal dünn besiedelte Dörfer, bisweilen nur ein Bauernhof. Dann kam das Ende des Zweiten Weltkriegs.
"Wir konnten die Elbe nicht sehen, nein. Es war eine Grenzsicherungsanlage, die bestand aus Pfählen, aus Betonpfählen und Streckmetall - und die war drei Meter hoch. Wir konnten da drin nicht angeln. Der Einzige, die dort angeln durften, halb legal, halb illegal, war mein Opa, weil er in der LPG war. Aber ansonsten war das absolut nicht zulässig, erst jetzt ist das wieder zulässig.“
Elbaue im Amt Neuhaus
Nur der Opa konnte zu DDR-Zeiten angeln: Elbaue im Amt Neuhaus.© Knut Benzner
Das ehemals hannöversche Gebiet gehörte zunächst kurzzeitig zur britischen Besatzungszone. Aus praktischen, aus pragmatischen Gründen - keine Brücke über die Elbe, die entsprechend zu erwartenden Versorgungsschwierigkeiten - übergaben die Briten den Flecken im Juli 1945 an die Sowjets, das Amt Neuhaus gehörte durch einen Federstrich zur Ostzone. Die Niedersachsen waren nun Mecklenburger.

Neubildung im Jahr 1992

Im März 1992 wurde das Amt Neuhaus neu gebildet. Die Gemeinderäte beschlossen jeweils einstimmig einen Wechsel zurück ins alte Bundesland. Nach Verhandlungen zwischen Schwerin, Hannover und Bonn war Neuhaus wieder preußische Provinz Hannover, Landkreis Lüneburg und damit niedersächsisch.
Andreas Gehrke, 43, verheiratet, drei Kinder, seit November 2019 Bürgermeister des Amtes Neuhaus, wohnt im Ortsteil Rassau - 300 Meter bis zur Elbe, 200 Meter bis zum Deich. "36 Ortsteile, wir haben eine sehr große Ausdehnung und sehr viele kleine, die größten Ortsteile sind Wehningen, Tripkau, Zeetze, Kaarßen, Laave, Stapel, Stiepelse, Sumte, Niendorf, Haar und Poblau, Konau, Darchau, Neuhaus natürlich mit Rosien, mit Rassau auch, wo wir nur ein paar Einwohner haben."
Andreas Gehrke ist Bürgermeister des Amtes Neuhaus.
Andreas Gehrke ist seit 2019 Bürgermeister des Amtes Neuhaus.© Knut Benzner
Gehrke ist seit Kindeszeiten Mitglied im Angelverein "Seerose" Kaarßen.

Sieben Angelvereine

Gleich sieben Angelvereine hat das Amt: Gut Fang Stapel, Eisvogel Tripkau, Elbstrand Darchau, Seerose Kaarßen, Seerose Sumte, Sude-Krainke Preten und den Neuhauser Angelsportverein von 1936.
Maik Plonka, 50, gelernter Gärtner, ist seit 16 Jahren Vorsitzender des Neuhauser Angelsportvereins. "Ich bin einer der letzten gebürtigen echten Neuhauser, bin in Neuhaus geboren. Dann wurde die Entbindungsstation zugemacht, dann sind die Kinder eben in Boitzenburg oder Hagenow geboren worden."
Das ehemalige Krankenhaus war dann Grundschule, Haus des Amtmanns und schließlich Haus des Gastes. Plonkas Verein, 100 Mitglieder, ist organisiert im Landesverband Mecklenburg-Vorpommern - als einziger der sieben Angelsportvereine.
Die Gewässer sind sauber? "Auf den ersten Blick ja, das Wasser sieht sauber aus, aber man sieht´s ja hier, wir haben so einen starken Bewuchs an Pflanzen, dann ist manchmal hier ein Teppich drauf. Da denkt man, man kann rüberlaufen. "

Zwei Karnevalsvereine

Es gibt zwei Carneval Clubs im Amt Neuhaus: den Neuhauser Karnevalsclub und, einige Ortsteile südlich elbabwärts, den Carneval Club Tripkau. Die fünfte Jahreszeit bot in der DDR die Möglichkeit, unter dem Winkelzug der Büttenrede seine Meinung auszusprechen.

Ja, das stimmt schon. Das war schon eine Möglichkeit, ein bisschen Dampf abzulassen, aber die Genossen von der Staatssicherheit waren immer zugegen - und so mancher Büttenredner wurde dann auch mal zu einem Vieraugengespräch ins Nebenzimmer gebeten. Dann wurde das noch mal durchgegangen und man bat darum, so was nicht mehr zu äußern.

Olaf Hengevoß, Caneval Club Tripkau

Die Stasi war überall.
Mainz, wie es singt und lacht, das war das Vorbild aus dem Westfernsehen, mittlerweile funktioniert der Karneval mit den 212 Tripkauern länderübergreifend. Als niedersächsische Karnevalshochburg gilt schon immer und bis heute Braunschweig.

TV Neuhaus - der älteste Verein des Amtes

Beim TV Neuhaus - Volleyball, Handball, Taekwondo, Tischtennis, Kinderturnen und natürlich Fußball: vier Jugendmannschaften, eine Herrenmannschaft, eine Altherrenmannschaft.
Sportplatz des TV Neuhaus
Sportplatz des TV Neuhaus: Hier spielen vier Jugendmannschaften, eine Herrenmannschaft und eine Altherrenmannschaft Fußball.© Knut Benzner
Das Vereinsheim liegt im Ortsteil Rosien. Der TV Neuhaus, 1860 gegründet, zu DDR-Zeiten Betriebssportgemeinschaft Traktor Neuhaus, hat 265 Mitglieder.
Die zweite Vorsitzende Petra Dittmer: "Arbeite schon seit 50 Jahren im Sportverein, ich bin 72, ich bin Neuhauserin - und Lokalpatriotin. Deshalb freue ich mich auch, dass der Verein nicht mehr BSG Traktor Neuhaus heißt. Und spiele immer noch Volleyball in einer Freizeitgruppe der älteren.“
Das Amt Neuhaus war nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst britische Besatzungszone. Der Fußballplatz entstand auf britischem Militärschrott, den sie hinterlassen hatten. Der Fußballplatz selbst ist flächenmäßig der größte im Landkreis Lüneburg, 110 Meter lang, 85 Meter breit.

Die meisten Mitglieder in der Wendezeit

Die meisten Mitglieder hatten sie 1990, um die Wendezeit, 500.
Wolfgang Kaddig, erster Vorsitzender TV Neuhaus: "Hier lebten zum Zeitpunkt der Rückgliederung des Amtes 6100 Leute, dann ist die Einwohnerzahl abgesunken auf 4800, meistens sind sie bis zum Abschluss der Schule, 16, hier organisiert im Sport - und dann gehen sie woanders hin."
Und dann treten sie aus dem Verein aus. Zudem sind die Wege im Amt Neuhaus weit. Vom Ortsteil Rosien ist es ins Mecklenburgische kürzer als an den Rand des Amtsbezirks. "Und die Elbe ist dazwischen. Das ist also immer schon unser Problem gewesen, es hängt sehr an dem Engagement der Eltern, wenn es zum Training gehen soll. Mit dem öffentlichen Nahverkehr ist hier nichts anzufangen."

Fährt die Fähre?

Die Brücke: eine Brücke über die Elbe ist in Lauenburg, Schleswig-Holstein, 35 Kilometer entfernt, die andere ist in Dömitz, Mecklenburg, 34 Kilometer. Das Amt Neuhaus besitzt keine Brücke - versprochen, zugesagt, in Planung gewesen, verworfen.
Das Amt Neuhaus hat eine Fähre zwischen Darchau und, rechts der Elbe, Neu Darchau. Manchmal fährt die Fähre, bei Niedrigwasser, Hochwasser, Eis und Schnee und Motorschaden fährt sie nicht. Ein Fall nicht nur für Sportler, ein Fall für all die, die ihre Arbeitsstellen oder Schulen in Lüneburg, Bleckede, Hitzacker, wo auch immer haben.
Das Fährschiff "Tanja" fährt im Amt Neuhaus zwischen Darchau und neu Darchau.
Keine Brücke, aber eine Fähre: Das Schiff fährt zwischen Darchau und Neu Darchau.© dpa / picture alliance / Jens Büttner
"Da sind wir ja beim dem, was eigentlich fehlt. Dass wir eine feste Verbindung zum 'Restkreis' haben. Meine Frau, die hat etliche Jahre in Barskamp unterrichtet, eigentlich sind es nur 12 Kilometer von hier, aber dann sind es eine Tour 70 Kilometer."
Es gibt Befürworter, es gibt Gegner, seit 1991, Einheitsrausch. Es gibt ökonomische und ökologische Fürs und Widers, es gibt grüne Politik und ... schwärzere ... "Für mich ist das wirklich schwer nachvollziehbar, dass die Politik dazu nicht imstande ist, dieses Projekt zu Ende zu bringen."

Eine Brücke fehlt im Amt Neuhaus

Drüben in Bleckede stehen ein paar Schilder: keine Brücke. Die Amt Neuhauser wären mehrheitlich froh, wenn sie es gäbe.
Zum Schluss noch einmal der Bürgermeister Andreas Gehrke: "Wir haben am 3. Oktober das Brückenfest. Das ist das Fest, was verbindet, wo wir direkt am Fähranleger, wo die Brücke entstehen soll, ein Fest veranstalten für alle aus der Gemeinde, aber auch für alle anderen - mit einem Bühnenprogramm. Da laden wir alle herzlich ein, daran teilzunehmen."
Alle. Aus West und Ost und umgekehrt.

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