Splatterstory auf Japanisch

Ein junger japanischer Fremdenführer führt einen amerikanischen Geschäftsmann durch das Nachtleben Tokios. Es sieht so aus, als wolle er sich dort ein paar sexuelle Ausschweifungen gönnen. Als ihm in einer Single-Bar eine übertrieben hohe Rechnung präsentiert wird, schlägt die Atmosphäre latenter Gewalt schließlich in ein Splatterszenario um.
Kenji ist Anfang zwanzig und arbeitet als Fremdenführer in Kabuki-cho, dem Rotlichtviertel von Tokio. Für ein paar tausend Yen führt er Touristen durch das Nachtleben und zeigt ihnen Peepshows, Massagesalons und SM-Clubs. "Also, was hast du dir für heute Abend vorgestellt", fragt er Frank, einen jungen amerikanischen Geschäftsmann, der ihm in einem schlecht geschnittenen Business-Anzug in einem Restaurant gegenübersitzt. "Sex", sagt Frank, und nachdem Kenji ihm einen kurzen Überblick über die Angebote in der näheren Umgebung verschafft hat, entscheidet er sich zunächst für den Besuch einer Dessous-Bar: "Ich möchte das Gefühl langsam steigern", sagt Frank, "und dazu sind Mädchen in Unterwäsche am besten geeignet."

Ryu Murakamis Roman "In der Misosuppe" beginnt in einem fast nüchternen Tonfall. Zwischen Karaoke, table dance und Strip-Einlagen erklärt Kenji seinem Kunden die Spielregeln des japanischen Nachtlebens und macht dabei pflichtbewusst ein bisschen Smalltalk. Nach und nach gewinnt Kenji allerdings den Eindruck, dass mit Frank, der sich angeblich nur nach einem erfolgreichen Vertragsabschluss einige Nächte in Tokio amüsieren will, etwas nicht in Ordnung ist. Nicht nur, dass sein Lächeln "beängstigend" und "seine Haut irgendwie künstlich" wirkt, er schwärmt unter anderem auch von den Jugendlichen, die in New York Obdachlose jagen und ihnen "bloß aus Spaß an der Gewalt mit der Zange einen Zahn nach dem anderen ausreißen".

Als Frank in einer Single-Bar eine übertrieben hohe Rechnung präsentiert wird, schlägt die Atmosphäre latenter Gewalt schließlich in ein Splatterszenario um. Der Geschäftsmann mutiert zu einem "american psycho", der die Angestellten und Gäste in der Bar systematisch zu Tode foltert: Einem Karaoke-Sänger versengt Frank mit einem Feuerzeug quälend langsam das Gesicht, und einer jungen Frau, mit er gerade noch angeregt geplaudert hat, reißt er mit seinen Fingern ein Auge heraus und legt anschließend mit einem Sashimi-Messer ihre Stimmbänder frei, nur um darauf hinzuweisen, "wie gut es sich anfühlt, eine sterbende Frau zu vögeln".

Das alles kommt nicht überraschend. Sexuelle Ausschweifungen und Gewaltexzesse beherrschen das Werk des 1952 geborenen und in Japan äußerst erfolgreichen Schriftstellers und Filmemachers Ryu Murakami. Bereits in seinem autobiographisch geprägten Debüt "Blaue Linien auf transparenter Haut" (1979) beschrieb er recht offenherzig seine durch Drogen und Prostitution bestimmte Jugendzeit im Schatten einer amerikanischen Marinebasis, und sein Film "Tokyo Decadence" (1992) erzählte ein unterkühltes SM-Märchen in einem Luxusapartment hoch oben über den Dächern der damals noch boomenden Hauptstadt.

"In der Misosuppe" spielt nun im Jahre 1996, in einer Zeit also, in der die japanische Wirtschaft nach dem Ende der "bubble economy" am Boden lag und das ohnehin angeschlagene Selbstbewusstsein der Nation gerade erst durch das fatale Erdbeben von Kobe und die Giftgasanschläge in der Untergrundbahn von Tokio zutiefst erschüttert worden war. Das alles wird in diesem Roman nicht erwähnt, manche Sätze lesen sich jedoch wie ein direkter Kommentar: "Die grausamen Dinge entwickeln sich im Verborgenen und schießen dann unvermittelt an die Oberfläche", stellt Murakamis Protagonist Kenji zum Beispiel an einer Stelle fest: "Wenn sie erst Realität geworden sind, ist es meist zu spät, etwas dagegen zu tun."

Auf die Krise der Wirtschaft folgten gesellschaftlicher Stillstand und nationale Identitätszweifel. Das eigentliche Thema dieses Romans ist genau diese Leere im Innern der japanischen Gesellschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre traditionellen Wertmuster gegen illusionäre ökonomische Hoffnungen und einen auf die rein materiellen Aspekte reduzierten "american way of life" getauscht haben: "Es gibt keine Normen hinsichtlich dessen, was wichtig ist. Die Erwachsenen leben nur für Geld und Dinge, die einen festgelegten Wert haben, wie Markenprodukte", erklärt Kenji, um dann hilflos und mit ausdruckslosem Gesicht dem blutigen Massaker gegenüber zu stehen, das Frank in der Bar angerichtet hat: "Ich wollte Mitleid mit den Getöteten haben, doch zu meinem Entsetzen verspürte ich nichts dergleichen."

Kenjis Einsicht in das eigene moralische Unvermögen ist also nicht die Folge eines inneren Erkenntnisprozesses, sondern geht auf die Taten eines filmreifen Serienkillers zurück, der als literarischer Stereotyp genauso wie MTV und Nike zu den kulturellen Exportprodukten Amerikas gehört. Das ist die böse und sehr japanische Pointe dieses Romans, und Ryu Murakami darf trotz seiner Liebe zu Schnittwunden und Schmerzensschreien als großer Moralist gelten.

Rezensiert von Kolja Mensing

Ryu Murakami: "In der Misosuppe"
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006
206 Seiten, 8,95 Euro