Spitzer: Hirnforschung ist Selbsterkenntnis

Manfred Spitzer im Gespräch mit Ulrike Timm · 09.09.2009
Der Psychiater und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer erforscht unter anderem, wie das Gehirn die sogenannten Entscheidungen aus dem Bauch steuert. Derzeit hat der Wissenschaftler zu einem Symposium nach Berlin eingeladen.
Timm: Es klingt nach einem schier endlosen und zugleich nach dem ambitioniertesten Forschungsvorhaben, das man überhaupt haben kann: den menschlichen Geist umfassend verstehen, mit den Mitteln der Neurowissenschaften. Lange schon untersuchen Naturwissenschaftler nicht mehr nur, wie unser Gehirn wahrnimmt oder wie es unsere Motorik steuert, sondern auch, wie wir entscheiden, Vertrauen gewinnen oder mit einem anderen Menschen fühlen. Um das Gespräch darüber zu intensivieren, haben Wissenschaftler ein Jahrzehnt des Geistes ausgerufen. Einer von ihnen hat jetzt zu einem Symposium nach Berlin eingeladen: der Psychiater und Neurowissenschaftler Professor Manfred Spitzer. Ich grüße Sie!

Manfred Spitzer: Hallo!

Timm:Herr Spitzer, Jahrzehnt des Geistes, Pardon, da baut sich im Kopf erst mal großer Nebel auf. Was genau soll das sein?

Spitzer: Zunächst einmal ist das ein Versuch zu sagen, Gehirnforschung ist wichtig und kann heute mehr, als eben nur Wahrnehmung und Motorik untersuchen, sondern höhere und höchste geistige Leistungen. Man spricht ja seit Langem von kognitiver Neurowissenschaft, meint aber die Affekte und meint das Soziale mit. Und es kann ja eigentlich nicht sein, dass wir Grundlage, also solche wichtigen, wesentlichen Grundlagen der Funktion, wie wir Menschen sozusagen ticken, dass wir darüber immer mehr wissen und dass dieses Wissen dann nicht irgendwie zur Anwendung kommt. Und damit das passiert, haben 2007 schon zehn amerikanische Wissenschaftler gesagt, wir brauchen ein Jahrzehnt des Geistes, von 2010 bis 2020, wo eben hier mehr geforscht und die Forschung auch mehr angewendet werden soll. Und ich war dann der Auffassung, dass das kein amerikanisches Phänomen bleiben darf, und habe gesagt, das sollte international geschehen, hab mich auch mit denen in Verbindung gesetzt, und letztlich daraus resultiert jetzt dieses Treffen, das fünfte seiner Art, nebenbei bemerkt.

Timm:Und wenn das Jahrzehnt des Geistes uns dann also helfen soll, besser zu verstehen, wie wir ticken, dann gehen ja die Neurowissenschaften und die Psychologen in gewisser Hinsicht zusammen. Und dieses Zusammendenken, ja, soll’s dann die Aufklärung des 21. Jahrhunderts begründen?

Spitzer: So könnte man sagen. Ich persönlich glaube in der Tat, es wird Zeit, dass wir sozusagen eine neue Aufklärung kriegen. Wenn wir wissen wollen, wie man es macht, und zwar wie man zusammenlebt, wie man Bildung betreibt, wie man gesund wird und auch gesund bleibt, dann sollte man eigentlich sich selber befragen, und das, was man selber weiß und nicht irgendeine Autorität, irgendeinen Superguru. Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass wir genau diese Geisteshaltung propagieren und wieder propagieren, und das kann man aus meiner Sicht mithilfe der Hirnforschung oder anhand von Beispielen aus der Hirnforschung, weil die uns eben über uns selbst heute viel aussagt. Wenn Sie so wollen, ist Hirnforschung heute Selbsterkenntnis im besten Wortsinn.

Timm:Und wenn diese interdisziplinäre Arbeit gut vorankommt, werden wir dann irgendwann wissen, wie das Gehirn den ganzen Menschen lieben lässt, um ein Beispiel zu geben?

Spitzer: Nun, wir werden, ich sag mal, vielleicht nicht so die Antworten auf die riesengroßen Fragen bekommen. Ich werde oft gefragt, gibt es Bewusstsein oder existiert Gott und so weiter. Diese Fragen sind mir zu groß. Aber ich glaube, dass wir diese Fragen dennoch insofern beantworten werden, als sie verschwinden. Und lassen Sie mich das ganz kurz erläutern. Vor 100 Jahren haben die Leute allgemein gefragt: Was ist Leben? Die Frage stellt heute niemand mehr. Man fragt heute, was ist Metabolismus, wie funktioniert Vererbung, wie geht Bewegung. Und damit hat man im Grunde genommen die verschiedenen Aspekte vom Leben sozusagen in Teilprobleme zerlegt und die wiederum, die lassen sich wissenschaftlich angehen. Genauso ist das mit dem Bewusstsein. Ich frag nicht, was ist Bewusstsein oder wo steckt es gar im Gehirn, aber ich überleg mir, wie funktioniert Selbstkontrolle, wie funktioniert ja zum Beispiel eine Entscheidung aus, wie man sagt aus dem Bauch. Die ist natürlich nicht aus dem Bauch, die kommt aus dem Gehirn. Aber wie funktioniert die, was geht da ein, welche systematischen Fallstricke gibt’s da, die man mithilfe der Gehirnforschung herausbekommen kann und über die man sich dann klar werden kann, um eben ihnen nicht mehr zu unterliegen und so weiter und so weiter. Und ich glaube, da kommen wir mit Riesenschritten derzeit voran.

Timm:Und welche Frage wird mit Riesenschritten zum Beispiel beantwortet werden von diesen vielen, die Sie aufgeführt haben?

Spitzer: Die Konferenz geht ja um drei Bereiche: Gesundheit, Bildung und soziales Zusammenleben. Ich glaube, im Hinblick auf die Gesundheit wurden schon sehr viele Dinge beantwortet. Für mich wichtig ist, was ist sozusagen vor der Tür, was kommt als Nächstes. Und ich gedenke, dass da der Bildungsbereich kommt. Wir verstehen Lernen, Neugier, Emotionen und Lernen, das verstehen wir heute viel besser als noch vor zehn Jahren, und ich glaube, aus diesem Verständnis wird eine bessere Bildung und bessere Bildungsinstitutionen, die werden da resultieren. Und mit einem etwas weiteren Auge in die Zukunft geblickt, glaube ich, dass auch unser Zusammenleben durch die, was man heute gern Soziale Neurowissenschaft nennt, beleuchtet wird und beleuchtbar ist und dass wir auch bessere Ideen bekommen, wie Menschen glücklich, vernünftig, ohne sich dauernd gegenseitig umzubringen, langfristig werden zusammenleben können. Ich glaube, wenn das jemand löst, dann sind das keine Chefideologen in Parteizentralen, sondern dann sind es Naturwissenschaftler auf entsprechend naturwissenschaftlichen Grundlagen.

Timm:Erstaunlicherweise sind Geisteswissenschaftler beim Nachdenken über das Jahrzehnt des Geistes gar nicht dabei. Braucht man die nicht?

Spitzer: Nun, das Jahrzehnt des Geistes kommt nicht aus der Geisteswissenschaft, sondern kommt aus der Naturwissenschaft, die sozusagen versucht, über die großen Themen auch mal ich sag mal eher bescheiden nachzudenken. Geisteswissenschaftler neigen zu großen Würfen, sondern wir wollen überlegen, was wissen wir denn wirklich und was können wir einigermaßen gesichert wissen, was würde das heißen, wenn wir es anwenden würden. Und insofern ist das, ich sag mal, zwar die alten Probleme, aber es ist schon ein neuer Zugang.

Timm:Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit dem Hirnforscher Manfred Spitzer über die Möglichkeiten, die wir alle haben und derzeit vielleicht noch nicht nutzen. Herr Spitzer, Sie haben’s schon gesagt, ein großes Anliegen ist Ihnen eine bessere Vernetzung von Hirnforschung, Bildung und Pädagogik. Nun unterrichtet ja heute jeder einigermaßen ambitionierte Lehrer nach neuen Lerntheorien. Was fehlt denn da noch?

Spitzer: Ich glaube, dass das Verständnis dessen, wie unser Gehirn lernt, einen ganz neuen Ansatz auch im Lehren bringt. Zunächst mal, wenn man weiß, dass das Gehirn immer lernt, dann ist gar nicht die Frage, ja, wie kriege ich jetzt den Lernstoff bei dem irgendwie in den Kopf hinein, sondern da ist eigentlich nur noch die Frage, wie kriege ich die Lernumgebung so hin, dass das Ganze sowieso funktioniert, weil unser Gehirn tatsächlich immer lernt und gar nicht anders kann und dazu ja sogar optimiert ist. Wenn man so in die Durchschnittsschule geht, dann hat man so das Gefühl, das passiert nicht. Ich bekomme ja auch manchmal sozusagen Widerspruch: Herr Spitzer, wissen Sie, Sie kommen ja aus der Universität und Sie haben keine Ahnung von der Realität, von wegen das Gehirn lernt immer, jeden Morgen sitzen 30 Gegenbeispiele vor mir. Den Einwand kenne ich, der stimmt trotzdem nicht, weil wir wissen heute, dass es zur Aufgabe gehört des Gehirns, sich dauernd zu ändern, je nachdem, ich sag mal, welche Software auf ihm läuft, ändert sich die Hardware. Und so betrachtet sehen viele Probleme, die man als Lehrer haben kann, wirklich ganz anders aus.

Timm:Und was würde der Hirnforscher Spitzer in so einer Durchschnittsschule als Erstes ändern?

Spitzer: Nun, zum Beispiel bestimmte Vorschläge, die schon Reformpädagogen auch gemacht haben, dass man nämlich den Lernenden da abholt, wo er ist, nämlich bei dem, was er erst mal wissen will. Untersuchungen zur Neugier haben ganz klar gezeigt, je neugieriger ich bin, desto besser bleibt der Inhalt hängen, den ich zur Kenntnis nehme, deutlich besser, das sind Rieseneffekte. Zweitens wissen wir, dass das Gehirn dann besser lernt, wenn auch Bewegung stattfindet. Lateinvokabeln werden, wenn sie sich dabei heftig bewegen, um ein Vielfaches besser gelernt, bleiben besser hängen – solche Studien haben wir selber gemacht –, als wenn Sie einfach nur sitzen. Wir wissen, dass Nervenzellen nachwachsen, wenn Sie sich entsprechend zwei, drei Mal die Woche gut bewegen, eine halbe Stunde joggen oder Radfahren oder irgendwas tun. Wir wissen, dass Lernen ganz eng mit positiven Emotionen verknüpft ist. Was wir früher als Glückssystem, Suchtsystem oder Belohnungssystem bezeichnet haben, ist eigentlich – und das wissen wir erst seit fünf Jahren – unser Lernturbo. Wir wissen auch, wir haben einen zweiten Lernturbo, nämlich unser Angstsystem, der funktioniert auch. Wir wissen aber dummerweise, dass wenn wir mit Angst Dinge lernen, dass sie dann hinterher nicht mehr für kreatives Problemlösen sinnvoll anzuwenden sind. Und Angst geht nicht nur mit Prügel, sondern geht auch mit Ironie, Sarkasmus und Zynismus – und das wiederum haben wir in unseren Klassen rauf und runter. Ich glaube also, es gibt eine ganze Menge Dinge, die man hier wirklich aus Sicht der Gehirnforschung anpacken kann.

Timm:Das klingt aber auch ein bisschen nach dem Frust des Hirnforschers, dass ihm die Erziehungswissenschaftler und die Pädagogen nicht genug zuhören, um den Lernturbo endlich mal ein bisschen anzutreiben.

Spitzer: Ich will’s nicht Frust nennen. Ich bin Optimist, die Wahrheit setzt sich immer durch. Es gibt in der Tat – ja, ich hätte jetzt beinahe gesagt – eine Mafia aufseiten mancher professioneller Pädagogikprofessoren, die immer noch steif und fest behaupten, dass die Gehirnforschung zum Lernen überhaupt nichts zu sagen hat. Aber diese Mafia, ich sag mal, deren Anzahl der Mitglieder nimmt deutlich ab von Jahr zu Jahr. Und es gibt umgekehrt sehr viele sehr offene Kollegen und vor allem auch Praktiker, also jeder, der mit tatsächlichen Schülern zu tun hat, das sind eben die Lehrer. Die Pädagogikprofessoren sind es oft und meistens sogar nicht –, aber die Lehrer, die sagen: Ja, Herr Spitzer, was Sie sagen, das haben wir immer schon irgendwie geahnt, manchmal durften wir es gar nicht so machen, wie Sie sagen, manchmal konnten wir’s, aber jetzt können wir’s ganz klar begründen und können deswegen sozusagen mit dem Rückenwind, den Sie uns konzeptuell liefern, das tun, was wir immer schon gerne getan hätten, nämlich vernünftigen Unterricht machen.

Timm:Also konkret hieße das zum Beispiel, straffe Stundenpläne abschaffen und zwischendurch mal Kriegen spielen wegen der Bewegung?

Spitzer: Zum Beispiel, konkret heißt das auch, den Alltag besser zu strukturieren, das Lernen besser oder stärker zu individualisieren, denn jeder lernt anders. Und darauf besser einzugehen, ja, das heißt das alles.

Timm:Der Neurowissenschaftler Professor Manfred Spitzer über das anstehende Jahrzehnt des Geistes und wie es wünschenswerterweise auf das Bildungssystem abfärben könnte. Ich danke Ihnen!

Spitzer: Ja, gerne!