Spirituelle Krisen in New York

12.06.2008
Artie ist jüdischer Schriftsteller und Illustrator. Der 60-Jährige trinkt zuviel, und nimmt Tabletten: mitten an New Yorks eleganter Upper West Side durchleidet er eine spirituelle Schaffenskrise, die Ereignisse des 11. September eine eher beiläufige Randerscheinung. Erdacht und geschrieben hat Artie der amerikanische Autor Hugh Nissenson, selbst stolze 75 Jahre alt und hierzulande noch ein Geheimtipp.
"Tage der Ehrfurcht", die "Hohen Feiertage", die "Gewaltigen Tage" nennt man den Zeitraum vor und zwischen dem jüdischen Neujahrsfest und Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Die Gläubigen sind aufgefordert, an diesen Tagen ihr Verhalten während des letzten Jahres zu reflektieren und Verfehlungen zu bereuen. Es sind Tage der Umkehr, in denen Gott entscheidet, wer im kommenden Jahr leben, wer sterben wird.

"Tage der Ehrfurcht" lautet der Titel des neuen Romans von Hugh Nissenson, einem in Deutschland weithin unbekannten amerikanischen Autor. Zehn Bücher hat der heute 75-Jährige geschrieben, geschätzt von seinen amerikanischen Kollegen und Kritikern. Hier ist er immer noch ein Geheimtipp. Die Handlung des Romans setzt im August 2001, mit Beginn der "Tage der Ehrfurcht", ein. Schauplatz ist Manhattan. Die Hauptfiguren sind Artie und Johanna Rubin, ein jüdisches Ehepaar in den Sechzigern, er Schriftsteller und Illustrator, sie Brokerin, sowie ihre Freunde und Kinder. Artie hat eine künstlerische Schaffenskrise. Sämtliche Sagen und Mythen der Menschheit hat er im Laufe seines Lebens bearbeitet und illustriert, nun müht er sich ab mit Odin, Thor und deren finsterer Verwandtschaft aus der nordischen Götterwelt.

Er ist müde, trinkt gerne Wodka, nimmt Tabletten, grübelt über die eigene Vergänglichkeit und entwickelt - auch für sich selbst überraschend - ein Interesse für die Religion seiner Väter, sehr zum Verdruss von Frau und Tochter. Wünscht gar, dass sein zukünftiger Enkelsohn beschnitten wird, was der nichtjüdische Schwiegersohn rundweg ablehnt.

Nissenson beschreibt vordergründig den Alltag der New Yorker Upper West Side: Der Hund wird ausgeführt, man trifft sich zum Dinner und finanziert mit Immobilien- und Börsengeschäften Appartement, Urlaub und auch eine gute medizinische Versorgung. Indem sich die Erzählerstimme des Autors immer wieder mit der seiner Figuren abwechselt, eröffnet Nissenson emotionale Erlebnisräume jenseits scheinbar banaler Alltagsabläufe. In den Emails, die sich Artie und ein krebskranker Freund schreiben, wird beispielsweise über das gesprochen, was sie ihren Ehefrauen nicht mitteilen. Verschiedene Perspektiven und Erlebnisebenen werden so miteinander verknüpft. Selbst wenn die Protagonisten erkennbar aneinander vorbei reden, sind sie in einer "Symmetrie der Gegensätze" miteinander verbunden.

Nach den Ereignissen des 11. Septembers verstärkt sich in allen Figuren das Bewusstsein für die eigene Vergänglichkeit. Sie stellen Fragen: ans Leben, den Partner - oder wenn sie gläubig sind - an Gott. Finden zur Religion oder verlieren ihren Glauben.

Das Besondere an diesem Roman ist, dass der Autor die Dramatik des 11. Septembers nicht in den Vordergrund stellt. Mit trockenem Witz beschreibt er die Spanne der Wochen davor und danach - die eben mit jenen jüdischen "Tagen der Ehrfurcht" zusammenfallen. Er untersucht Konsequenzen verschiedener privater Tragödien - für die der 11. September nur der spektakulärste Ausdruck ist. Nissensons Protagonisten durchleben spirituelle Krisen aufgrund ihres vielfältigen Kampfes mit existenziellen Realitäten: Alter, Krankheit und Tod. Dabei ist der Roman auch das anrührende Porträt eines alten Ehepaars und ein Plädoyer dafür, das Glück darin zu erkennen, "Teil der alltäglichen Dinge zu sein."

Rezensiert von: Carsten Hueck

Hugh Nissenson: Tage der Ehrfurcht
Aus dem Amerikanischen von Barbara Schaden
Atrium Verlag, Zürich 2008
318 Seiten, 19,90 Euro