Spielmaterial

Von Hartmut Krug |
Gleich mehrere Berliner Bühnen versuchen sich in dieser Spielzeit an frühen Stücken Heiner Müllers. Während "Der Lohndrücker" in den Sophiensälen gelegentlich als ungeschickt ironisiertes Spielmaterial ausfällt, ist "Die Korrektur" am Maxim Gorki Theater bestes politisches Theater.
Heiner Müllers lange vergessene frühe Stücke aus der Aufbauzeit der DDR, die von der Produktion sozialen Bewusstseins und von gesellschaftlichem Aufbau handeln, scheinen gerade in unserer von Globalisierung und Neoliberalismus beherrschten Zeit wieder Interesse zu erwecken. Nicht gleich als Gegenmodell, aber immerhin als geschichtliches Untersuchungsmodell. So versuchen sich in Berlin in diesem Monat gleich drei Bühnen an frühen Stücken Heiner Müllers: das Maxim Gorki Theater zeigte Anfang der Woche "Die Korrektur", Ende des Monats wird die Volksbühne mit "Zement" folgen, und gestern kam an den Sophiensälen "Der Lohndrücker" heraus.

Heiner Müllers gemeinsam mit seiner Frau Inge 1957 geschriebenes Lehrstück "Der Lohndrücker" handelt von Hans Garbe, dem ersten Helden der Arbeit der DDR. Hermann Claudius und Karl Grünberg haben über den Feuerungsmaurer, der einen Ringofen bei laufender Produktion reparierte und eine neue Norm aufstellte, Romane geschrieben, und Brecht plante über ihn das Lehrstück "Büsching".

Bei Heiner Müller geht es in "Der Lohndrücker" um das Wie des Aufbaus einer neuen Gesellschaftsordnung. Indem der Held der Arbeit als Normtreiber und Lohndrücker angegriffen wird, fragt Müller nach den Menschen, mit denen und für die ein neues Bewusstsein geschaffen werden soll. Indem er sie auch als vom Nationalsozialismus geprägt und als Verunsicherte zeigt, berührt er damalige gesellschaftliche Tabus.

Die jungen Theatermacher um die Regisseurin Kerstin Lenhart und den Bühnenbildner Michael Böhler, die sich jetzt an diesem Stück versucht haben, sind alle Mitte dreißig. Sie kommen aus Österreich, der Schweiz und vor allem aus den alten Bundesländern des vereinigten Deutschlands. Vor zwei Jahren brachten sie mit Ingo Niermeyers Roman "Minusvisionen" eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Lebenssituation von freiberuflichen Künstlern der Berliner Kreativ- und Ich-AG-Szene auf die Bühne.

Mit Müllers "Der Lohndrücker" erforschten sie nun quasi eine Art Gegenmodell. Doch Müllers Text bleibt ihnen fremd. Das Publikum schaut von allen Seiten herunter auf eine aus Pappe gebaute Arena, in der die Schauspieler mit ausufernder mimisch-gestischer Energie und viel veräußerlichenden spielerischen Ideen Müllers Sätze verfehlen. Wo der Autor in seinem schmalen Stück Figuren sozial, politisch und auch emotional so knapp wie prägnant charakterisiert, da umspielen die Darsteller die Sätze und Figuren nur mit Einfällen. Viele Moden des modernen Regietheaters kommen zur Anwendung, doch der Kern des Stückes wird mit Gesang, Gebrüll und Getobe völlig verfehlt. So erleben wir Müllers realistisches Denk- und Lehrstück nur als ausgestelltes und gelegentlich ungeschickt ironisiertes Spielmaterial.

Ganz anders geht Armin Petras mit Inge und Heiner Müllers "Die Korrektur" von 1958 im Maxim Gorki Theater um. Er zeigt das Lehrstück über den Aufbau des Kohlekraftwerks "Schwarze Pumpe", uraufgeführt vor 50 Jahren an gleichem Ort, als Lehrstunde. Es beginnt im Theater mit Vorträgen und Lesungen über die Geschichte des zunächst als Hörspiel nach Recherchen der Autoren vor Ort entstandenen Stückes. Die Geschichte eines Brigadiers, der sich der üblichen Schummelei bei den Normen widersetzt, zeigt vor allem auch die Fehler und Widersprüche beim Kampf ums Bewusstsein der alten Menschen, die neue werden sollen.

Gespielt wurde auf dem Parkplatz im Garten des Maxim Gorki Theaters: Unten mauern die Arbeiter, hoch oben auf dem Dach steht der Parteifunktionär an seinem Pult, und an die Hauswand werden historische Filmbilder geworfen. Die Aufführung untersucht das Stück im Spiel und zeigt uns alte offene Fragen neu. Sichtlich engagierte und animierte Schauspieler präsentieren mit Witz und Schwung das alte Lehrstück als sinnliches Lehrmaterial: das ist bestes politisches Theater. So verdeutlicht diese Inszenierung spielerisch das Spielzeitmotto des Maxim Gorki Theaters, das da lautet: "Korrekturen. Die Geschichte ist nicht zu Ende."
Armin Petras, neuer Intendant des Berliner Maxim-Gorki-Theaters
Armin Petras, neuer Intendant des Berliner Maxim-Gorki-Theaters© AP