Totalüberwachung der Uiguren

Wie China Muslime kontrolliert

26:08 Minuten
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Präsident Xi Jinping mit uigurischen Kindern auf einem Propaganda-Plakat. © Quelle: ARD-Studio Peking
Von Axel Dorloff · 17.09.2018
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Religionsfreiheit und kulturelle Selbstbestimmung - davon können Uiguren in China nur träumen. Mit Propaganda, Überwachung und Umerziehungslagern versucht das Regime, die muslimische Minderheit auf Linie zu bringen. Manche sprechen schon vom kulturellen Genozid.
Xinjiang im Nordwesten Chinas: die Heimat der rund zehn Millionen muslimischen Uiguren ist zu einem beispiellosen Überwachungsstaat geworden. Mit modernsten Methoden der Kontrolle und einem Netz an Umerziehungslagern geht China gegen die Uiguren und den Islam vor. Die chinesische Regierung begründet das harte Vorgehen mit der Sorge vor islamistischem Terror. Bis zu über eine Million Uiguren sollen in den Umerziehungslagern sein. China hat die Religionsfreiheit und kulturelle Selbstbestimmung der Uiguren massiv eingeschränkt.
Von der Straße aus wirkt das kleine Restaurant und Teehaus in Yining zunächst ruhig und friedlich. Vor dem Restaurant werden Lammspieße gegrillt. Der tote Leib des Tieres hängt an einem Haken im Kühlschrank vor der Eingangstür. Daneben knistern die offenen Flammen auf dem Holzkohlegrill. Mit einem angeketteten Messer schneidet ein uigurischer Mann das Lammfleisch ab und wirft die Stücke auf den Grill.

In jeder Gasse eine Polizeistation

Yining ist eine Stadt im Nordwesten der Provinz Xinjiang. Offiziell heißt es "Autonome Uigurische Region Xinjiang". Das muslimische Turkvolk der Uiguren stellt hier etwa die Hälfte der Einwohner, rund zehn Millionen Menschen. Die 17-jährige Akilah ist Uigurin, sie jobbt in dem kleinen Lammfleisch-Restaurant als Kellnerin. Nächsten Sommer macht sie ihren Schulabschluss. Vieles habe sich in ihrer Stadt zuletzt verändert, erzählt Akilah.
"In jeder Gasse gibt es jetzt am Eingang eine Polizeistation. Jeden Montag haben wir Fahnenappell. Dort sind wir immer etwa 500 Leute. Alle aus der Nachbarschaft müssen dort hin."
Zum Hissen der Flagge der Volksrepublik China und zum Singen der Nationalhymne. Patriotismus-Nachhilfe für die Uiguren. Die Benutzung muslimischer Symbole wie Stern oder Halbmond sind den Uiguren dagegen von der Kommunistischen Partei verboten. Ebenso wie Eltern ihren Kindern keine muslimischen Namen mehr geben dürfen. Um die Uiguren besser zu kontrollieren, gibt es in Xinjiang ein System von Zwangspaten, die in die Familien hineingehen. Auch zuhause bei Akilah.
"Sie übernachten bei uns und schauen, was wir den ganzen Tag machen und welche Probleme wir haben. Früher hat das niemanden interessiert. Die Beamten sind meistens Han-Chinesen."
Mehr als 100.000 Zwangspaten, meist chinesische Regierungsbeamte oder Funktionäre aus Staatsunternehmen, sind in das System mit eingebunden. Sie sollen besonders in den ländlichen Regionen sicherstellen, dass die Uiguren die Sprache und die Kultur der chinesischen Mehrheitsgesellschaft pflegen. Die Botschaft: die Uigurische Kultur und der Islam sind mit dem kommunistischen System der Volksrepublik China nicht vereinbar. Deshalb braucht es Nachhilfe. Die Familien-Paten werden "Verwandte" genannt, offiziell läuft das Programm unter Hilfestellung der lokalen Regierungen.
"Sie kommen alleine oder zu zweit und müssen drei Tage im Monat bei uns übernachten. Einmal kamen zwei Männer, einmal ein Mann und eine Frau. Der Mann schläft dann bei meinem Vater, die Frau bei meiner Mutter."

Ausgeklügelte soziale Kontrollmechanismen

Während Akilah erzählt, geht in dem Restaurant plötzlich ein Alarmsignal los. Schnell ziehen sich Akilah und ihre beiden Kollegen neongelbe Warnwesten an. Es ist ein unangekündigter Probealarm, wie er hier oft vorkommt. Teil eines Nachbarschafts-Systems, bei dem mehrere Haushalte und Geschäfte eine gemeinsame Sicherheitseinheit bilden. Ein sozialer Kontrollmechanismus, bei dem die verbundenen Haushalte faktisch füreinander haften.
"Es gibt immer zehn Familien oder Geschäfte, die gegenseitig auf sich aufpassen müssen. Wenn Nummer Fünf ein Problem hat, müssen von Nummer Eins bis Nummer Zehn alle kommen und gucken, was los ist. Die Polizei kommt auch sofort, wenn das Alarmsignal losgeht. Sie vergewissern sich dann, ob alle anwesend sind. Wer nicht kommt, muss ein Bußgeld zahlen."
Ein Polizist in schwarzer Uniform tritt herein und schaltet das heulende Alarmgerät aus. Alltag in Yining, die Menschen hier sind stets in Alarmbereitschaft.
In den vergangenen Jahren kam es in der Provinz Xinjiang wiederholt zu Unruhen und terroristischen Anschlägen. Der chinesische Staat macht dafür extremistische uigurische Gruppen verantwortlich und führt einen rigorosen Anti-Terror-Kampf. Und er greift dabei immer radikaler in die Lebensgestaltung der muslimischen Uiguren ein. Das Misstrauen zwischen den in China dominanten Han-Chinesen und den Uiguren in Xinjiang ist über Jahrzehnte gewachsen. Sophie Richardson ist China-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch:
"Die chinesische Regierung hat die muslimischen Turkvölker in Xinjiang schon lange mit Distanz und Ablehnung behandelt. Ihre Identität, also ihre Religion, Kultur und Sprache, gelten der Regierung in Peking als Beweis für politische Abtrünnigkeit und Separatismus."

Mehrere hundert Uiguren kamen bei Protesten um

Mehrmals kam es zu Zusammenstößen von Uiguren mit chinesischen Sicherheitskräften. 2009 gab es während des Fastenmonats Ramadan in der Hauptstadt Urumqi fast 200 Tote. 2014 starben 90 Menschen, als Uiguren gegen ihre Unterdrückung protestierten. Ebenfalls vor vier Jahren haben uigurische Terroristen im Bahnhof von Kunming im Süden Chinas ein Attentat mit 31 Toten verübt. Seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 stellt China den Konflikt mit den Uiguren in den Kontext des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus.
Trotzdem blitzt in einer Stadt wie Yining zwischendurch immer wieder Normalität auf. Am Straßenrand in der uigurischen Altstadt schnitzt und schlägt ein Mann Eissplitter von einem großen Eisblock. Das Eis wird dann in einer Schale mit Joghurt und Zucker verrührt und ergibt Pao Bing – ein traditioneller Straßensnack. Die Menschen sitzen auf kleinen Hockern, unterhalten sich und essen den Joghurt. Im Baum hängt ein Radio.
Moschee in Kashgar mit Slogan "Liebe die Partei, liebe das Land"
"Liebe die Partei, liebe das Land" - selbst in der Moschee hängt Regierungspropaganda.© ARD-Studio Peking
Nur wenige Meter weiter vom Eis-Joghurt-Stand steht die 260 Jahre alte Shaanxi-Moschee. Sie ist bewacht und von Zäunen umgeben. Über zweieinhalb Jahrhunderte war dieser Ort ein Mittelpunkt des religiösen Lebens in Yining, die Moschee ist Heimat der muslimischen Hui-Minderheit. Jetzt regelt ein großes, goldfarbenes Hinweisschild am Tor, wer hier alles nicht erwünscht ist. Darauf steht:
"Mitglieder der Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Jugendverbandes Chinas, Staatsbedienstete und pensionierte Beamte, Lehrer, Schüler, Studenten und Minderjährige dürfen die Moschee nicht betreten."
Im Hof der Moschee ist die chinesische Flagge gehisst. Durch den Zaun sieht man große rote Plakate mit kommunistischen und ideologischen Parolen. Am Eingang hängen 360-Grad-Kameras, mit denen die Regierung genau kontrollieren kann, wer die Moschee betritt. Es gibt kaum noch Aspekte des religiösen Lebens in Xinjiang, die von den Behörden als legitim angesehen werden. Der deutsche Forscher Adrian Zenz spricht von einer weitgehenden Beschränkung der Religion. Er forscht zu religiösen Minderheiten in China, auch zur Situation in Xinjiang:
"Zum Beispiel ist ja auch der Besitz eines Korans verboten. Auch der Besitz von Koran-Versionen, die offiziell übersetzt wurden. Auch der Besitz von Gebetsteppichen wird als Kennzeichen religiösen Extremismus gewertet. Auch Gebete in der Familie, also dass man zum Beispiel als Familienoberhaupt vor der Familie betet. Auch das ist explizit problematisch."
Ein Mann, der vor der Shaanxi-Moschee steht und offenbar dazugehört, möchte nicht mit uns reden. Schon gar nicht über Religion oder den Islam. Zu gefährlich, sagt er, zu diesen Themen müssten sie schweigen. Auf dem Kopf trägt er eine muslimische Gebetsmütze. Er lässt uns stehen und geht gegenüber zum fahrenden Knoblauch-Händler.

"Lernkurse" nennt es die Regierung

Im Namen von Sicherheit und Stabilität hat die chinesische Regierung nicht nur die Religionsfreiheit und kulturelle Selbstbestimmung der Muslime in Xinjiang immer weiter eingeschränkt. Sie geht noch einen Schritt weiter: In den vergangenen Jahren haben die Behörden ein Netz an Umerziehungslagern aufgebaut. Wie viele Inhaftierte es in diesen Lagern gibt, ist unklar. Die Schätzungen von westlichen Regierungen, Wissenschaftlern und Menschenrechtsorganisation reichen von 120.000 bis zu weit über eine Million Menschen.
Im Internet kursieren Videos, in denen Inhaftierte der Lager in blauen Einheits-Anzügen auf dem Boden sitzen und patriotische, chinesische Lieder singen müssen. Umerziehung durch politische Schulung und zur Loyalität gegenüber der Volksrepublik China. Der Islam soll raus aus den Köpfen der Menschen, die Partei soll rein in die Köpfe.
"Lernkurse", so ist der unter den Leuten gebräuchliche Begriff für die Lager, auf Chinesisch "Xuexi Ban". Schon einfache religiöse Rituale oder der Kontakt zu Westlern können genügen, um in die Lernkurse geschickt zu werden. Die aber de facto Umerziehungslager sind, in denen die meisten für unbestimmte Zeit festgehalten werden. Kaum einer in Xinjiang traut sich, offen darüber zu reden. Ein Uigure und Taxifahrer in Yining spricht wenige Sätze dazu mit uns. Nicht ohne danach daran zu erinnern, dass wir – egal, wer fragt – nur übers Essen geredet hätten. Aufnehmen dürfen wir während der Fahrt und nur mit dem Handy:
"Es stimmt, wenn Familienangehörige in die Lernkurse geschickt werden, wissen wir nicht, wo sie sind und wann sie zurückkommen. Niemand sagt es dir. Auch wenn du Regierungsbeamte oder Mitarbeiter dieser Einrichtungen kennst, wird niemand es wagen, dir etwas zu sagen. Sie könnten sonst ihre Arbeit verlieren und selbst in Haft kommen."

"Sie wollen eine homogene Nation"

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat jetzt auf über 100 Seiten den bislang umfangreichsten Bericht zur Situation in Xinjiang vorgelegt. Titel: "Die ideologischen Viren ausrotten: Chinas repressive Kampagne gegen die Muslime in Xinjiang". Der Bericht basiert auf Interviews mit dutzenden Geflüchteten, die die Provinz mit ihren Familien verlassen haben und jetzt in Kasachstan, Kirgisien oder in der Türkei leben. Und die jetzt erst in der Lage sind, offener zu sprechen. Kairat Samarkand ist einer von ihnen, er war selbst in einem politischen Umerziehungslager in Xinjiang:
"Wir mussten dort die chinesische Nationalhymne lernen und Lieder singen, in denen Staatsgründer Mao Zedong geehrt wird. Oder einen Song, in dem Staats- und Parteichef Xi Jinping ein tausendjähriges Leben gewünscht wird. In einem anderen Lied ging es um die großartige Geschichte Chinas. Die Regierung will alles Muslimische ausrotten: muslimische Schriften, Kleidung und den Islam an sich. Sie wollen eine homogene Nation, jeder soll und muss Chinese sein."
Nicht nur Uiguren sind von den Repressionen betroffen, auch Angehörige anderer muslimischer Turkvölker wie Kasachen oder Kirgisen, die ebenfalls in Xinjiang leben. Ein muslimischer Mann der kasachischen Minderheit und eine muslimische Frau möchten anonym bleiben. Beide sind mit ihren Familien aus China geflüchtet.
"Fast aus jeder Familie haben sie ein Familienmitglied inhaftiert. Bei uns haben sie in den Schulen das Lehren der kasachischen Sprache komplett verboten, alles musste auf Chinesisch sein. Ich bin geflüchtet, damit meine Kinder nicht dazu gezwungen werden, Chinesen zu werden."
"Ich habe meinen Sohn vor acht Monaten das letzte Mal gesehen und seine Stimme gehört. Sogar meine 13-jährige Tochter haben sie in ein politisches Umerziehungslager gesteckt."

Die Existenz der Lager ist "zweifelsfrei belegt"

Offiziell werden diese Lager von der chinesischen Regierung geheim gehalten. Aber ihre Existenz sei zweifelsfrei belegt, sagt Xinjiang-Forscher Zenz:
"Es gibt eine ganze Reihe offizieller Quellen dazu. Es gibt staatliche Medienberichte, vor allem in der Zeit 2013 bis 2016. Es gibt einiges auch an Regierungsdokumenten, es gibt Budgetberichte, wir haben Stellenausschreibungen. Und vor allem, interessanterweise, Projektausschreibungen. Und in den letzteren werden die Details und die Feature dieser Umerziehungslager teilweise sehr genau beschrieben. Zum Beispiel Sicherheitsausstattungen, die verschiedenen Gebäude und Teilbereiche. Und diese Beschreibungen lassen sich dann teilweise mit Satellitenaufnahmen nochmal verifizieren."
Blick von außen auf das mit Stacheldraht umzäunte beigefarbene Lager.
Ein mutmaßliches Umerziehungslager in der Uigurenhochburg Kashgar.© ARD-Studio Peking
Der Jurist Shawn Zhang von der kanadischen Universität von Britisch Kolumbien in Vancouver forscht ebenfalls zu den Lagern und stellt Satelliten-Bilder der mutmaßlichen Umerziehungslager in Xinjiang ins Netz. Er vergleicht sie mit Bildern von früher und beschreibt die Veränderungen in der Gebäudestruktur. So sind z.B. aus Sportanlagen Hochsicherheitstrakte geworden. In der Stadt Yining listet er unter anderem die Parteischule der Kommunistischen Partei, ein Krankenhaus für Traditionelle Chinesische Medizin und eine Berufsschule auf.
An der ehemaligen Parteischule und der Berufsschule fahren wir vorbei, beide sind bewacht und von Stacheldraht umgeben. Von draußen ist es schwer zu sagen, was dort wirklich passiert. Insassen berichten vom Zwang, Hoch-Chinesisch und Schriftzeichen zu lernen. Wer nicht mitmacht, wird bestraft.

Muslime werden wie Staatsfeinde behandelt

Mitte August haben erstmals auch die Vereinten Nationen zu den politischen Umerziehungslagern in Xinjiang öffentlich Stellung bezogen. Gay McDougall, die Vorsitzende des UN-Komitees zur Bekämpfung von Rassendiskriminierung in Genf:
"Wir sind tief besorgt über die vielen und glaubwürdigen Berichte, dass die Kommunistische Partei Chinas die autonome uigurische Region Xinjiang in eine Art massives Internierungslager verwandelt hat. Im Namen der Bekämpfung von religiösem Extremismus und der Aufrechterhaltung sozialer Stabilität. Das geschieht unter völliger Geheimhaltung. Es wurde eine rechtlose Zone geschaffen, in der Angehörige der uigurischen Minderheit und andere Muslime wie Staatsfeinde behandelt werden. Nur aufgrund ihrer ethnisch-religiösen Herkunft."
Vor den Vereinten Nationen hat China daraufhin angegeben, dass Menschen in Schulungen gesteckt werden, die geringe Straftaten begangen haben. Eine klare Rechtsgrundlage für die Inhaftierung der Menschen gibt es aber nicht. Laut chinesischem Recht ist eine vorläufige Internierung nur für bis zu 15 Tagen vorgesehen. Allerdings hat der Parteisekretär von Xinjiang, Chen Quanguo, im Frühjahr 2017 eine neue Verordnung erlassen, die die Umerziehung explizit als Maßnahme vorschreibt. Und das pikanterweise, obwohl China die Umerziehung durch Arbeit 2013 bereits abgeschafft hat. Die Regierung in Peking sah sie damals als nicht mehr angemessen für einen Rechtsstaat an.
Es ist vor allem Parteisekretär Chen, der die repressive Kampagne gegen die Uiguren und andere muslimische Minderheiten in Xinjiang auf eine neue Stufe gehoben hat. Ein Hardliner, so beschreibt ihn die China-Direktorin von Human Rights Watch, Sophie Richardson:
"Als in Xinjiang vor zwei Jahren der neue Parteisekretär an die Macht kam, haben die Behörden die Kampagne gegen die muslimischen Turkvölker deutlich verschärft. Auf dem Papier dient sie dazu, um der terroristischen Bedrohung entgegen zu wirken. Aber diese Begründung wird dazu benutzt, um massive Menschenrechtsverletzungen in der Region zu rechtfertigen. Einschließlich der politischen Umerziehungslager, in denen die Menschen dazu gezwungen werden, ihre Loyalität gegenüber Partei und Regierung zu beschwören."

Uiguren sind in ihrer Heimat zur Minderheit geworden

Der staatlich geförderte Zuzug von Han-Chinesen hat die Uiguren in Xinjiang zu einer Minderheit in ihrer eigenen Heimat werden lassen. Ihr Bevölkerungsanteil lag kurz nach der Eingliederung Xinjiangs in die Volksrepublik China 1949 bei rund 80 Prozent. Heute ist er auf etwa 45 Prozent gesunken.
In der Hauptstadt Urumqi gibt es ganze Stadtteile, in denen nur noch Han-Chinesen wohnen. Und hier findet sich auch viel Verständnis für die Politik der harten Hand von Parteisekretär Chen gegenüber den Muslimen in Xinjiang. Ein Han-Taxifahrer in Urumqi erklärt uns, dass Maßnahmen wie die strenge Reglementierung eines Moscheebesuchs auch zum Wohle der Uiguren seien:
"Kleine Kinder dürfen bei uns nicht in die Moschee gehen, weil sie das alles gar nicht verstehen. Und das ist richtig so. Dort könnten Leute versuchen, die Kinder zu beeinflussen und sie in eine gefährliche Richtung zu lenken. In Urumqi dürfen nur diejenigen in die Moschee, die über 18 Jahre alt sind."
Von den politischen Umerziehungslagern hat der Taxifahrer gehört, natürlich unter dem Namen "Lernkurse". Das seien doch Schulen, mit denen sich die Regierung um die Uiguren kümmere. Und das obendrein noch kostenlos.
"Die Regierung ist echt gut. Sie bietet ihnen Essen, Unterkunft und führt sie auf den richtigen Weg, damit sie danach eine gute Arbeit finden können. Und nicht dem Extremismus verfallen, nicht klauen, keine Unruhe stiften und keine Gerüchte verbreiten. So lässt sich das Problem an der Wurzel ausrotten. Dann werden extremistische Anschläge in den kommenden Jahren nicht mehr passieren."

Kashgar - eine Stadt wie ein Hochsicherheitstrakt

Der Nachtmarkt in der Stadt Kashgar, westlich der Taklamakan-Wüste. Hier drängeln sich die Besucher entlang der Garküchen und den vielen Ständen mit Nüssen und Trockenfrüchten. Es qualmt und dampft und riecht nach gegrilltem Fleisch. Es gibt Lammspieße oder Spieße mit Nieren oder Lunge. Auch scharf gewürzte, handgemachte Nudeln.
Die Oasenstadt Kashgar mit ihren 400.000 Einwohnern gilt kulturhistorisch als eine der bedeutendsten islamischen Städte Zentralasiens. Fast 80 Prozent der Einwohner sind Uiguren. Auch darum gleicht wohl kaum eine andere Stadt in Xinjiang so sehr einem Hochsicherheitstrakt wie Kashgar. Auch wir werden hier rund um die Uhr von Sicherheitskräften begleitet. Sobald wir mit jemandem reden, wird er danach befragt. Ein typisches Muster, sagt Sophie Richardson von Human Rights Watch.
"Das Leben in den Umerziehungslagern und das Leben in Xinjiang im Allgemeinen unterscheidet sich nicht groß voneinander. Die Wissenschaftler und Journalisten, die jetzt da waren, beschreiben Xinjiang als einen Polizeistaat modernster Prägung. Die Region ist voll mit Sicherheitskräften, Checkpoints und Metall-Detektoren. Es ist so gut wie unmöglich etwas zu tun, das die Behörden nicht mitbekommen."
Schon um sich mit dem Auto der Stadt zu nähern, muss man unzählige Checkpoints überwinden. Die Metall-Detektoren stehen vor fast jedem Restaurant oder Hotel. In der Stadt gibt es im Abstand von wenigen hundert Metern kleine, bunkerhafte Polizeistationen, deren rote und blaue Lichter dauerhaft blinken. Die Dichte an Überwachungskameras ist enorm. Keine Gasse, die nicht überwacht ist.
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Polizisten kontrollieren auf dem Nachtmarkt in Kashgar.© ARD-Studio Peking
Wer als Uigure auf den Nachtmarkt möchte, muss durch eine eigene Sicherheitsschleuse, wird durchleuchtet und durchscannt. Als westlich aussehender Mensch oder als Han-Chinese darf man unkontrolliert einen anderen Eingang passieren.
Ein uigurischer Händler, der auf seinem Elektroroller Waren auf den Markt bringen möchte, wird wegen der scharfen Kontrollen wütend und streitet sich mit den Polizisten. Ein junger Uigure unterstützt ihn, aber die Sicherheitsleute bleiben hart. Über den Nachtmarkt patrouillieren Polizisten in schwarzer Kampfmontur. Immer drei gemeinsam spazieren die Altstadtgassen auf und ab. Die Zahl der Sicherheitskräfte in Xinjiang habe dramatisch zugenommen, sagt Forscher Adrian Zenz.
"Wir reden davon, dass die Polizeistellenausschreibungen innerhalb der ersten zwölf Monate von Chen Quanguos Zeit bei 90- bis 100.000 liegen. Das ist ein Vielfaches mehr als in den sieben oder acht Jahren vor Chen Quanguo. Obwohl ja 2009 zum Beispiel, als es die Unruhen in Urumqi gab, tausende von zusätzlichen Polizeistellen ausgeschrieben wurden. Alle zusätzlichen Maßnahmen ergriffen wurden. Auch das Sicherheitsbudget ist in die Höhe geschossen. Allein 2017 hat es sich verdoppelt. Obwohl es auch hier im Vorfeld sehr stark gewachsen war."

Human Rights Watch beklagt massive Menschenrechtsverletzungen

In Kashgar wird am deutlichsten sichtbar, welches Ausmaß der Polizei- und Überwachungsstaat in Xinjiang bereits hat. Selbst in einem traditionellen Teehaus hängen Kameras. Jeder Schritt der Uiguren wird hier mit Hilfe modernster Überwachungstechnologien beobachtet. Jede Bewegung in der Region wird verfolgt. Die Sicherheitsbehörden der Prozinz bauen außerdem eine umfassende Biometrie- und DNA-Datenbank aller Bürgerinnen und Bürgern zwischen 12 und 65 Jahre auf. In dieser Datenbank werden Blutgruppe, Fotos des Gesichts, ein Iris-Scan, Fingerabdrücke und DNA-Proben gespeichert.
Chinas Regierung nimmt zu alledem nicht konkret Stellung. Vom Sprecher des Außenministeriums in Peking, Geng Shuang, kommen nur allgemeine Floskeln:
"Ich möchte deutlich machen, dass die Situation in Xinjiang sehr stabil ist. Die Wirtschaft entwickelt sich gut, alle Minderheiten kommen harmonisch miteinander aus. Langfristige Stabilität und Sicherheit sind der gemeinsame Wunsch aller Minderheiten in Xinjiang."
Human Rights Watch fordert, dass sich China vor der Weltgemeinschaft für die massiven Menschenrechtsverletzungen verantworten und mit Sanktionen belegt werden müsse. Ähnlich hat sich auch das Menschenrechtsgremium der Vereinten Nationen geäußert. Die chinesische Regierung wirft westlichen Beobachtern vor, Fakten und Tatsachen zu verfälschen:
"Viele der politischen Maßnahmen in Xinjiang zielen auf die Förderung von Stabilität, Entwicklung und Solidarität. Gleichzeitig geht es darum, der ethnischen Spaltung der Bevölkerung und dem gewaltbereiten Terrorismus entgegen zu treten. Leben und Sicherheit der Menschen sollen geschützt werden. Zudem garantiert die chinesische Regierung qua Verfassung die Religionsfreiheit. Das trifft auf alle Minderheiten in China zu."

Auf dem Weg zum kulturellen Genozid?

Auf Kritik oder Protest haben die Behörden in Xinjiang regelmäßig mit noch mehr Repression und Überwachung reagiert. Das autokratische China agiert hier mit der Kontroll- und Überwachungstechnologie des 21. Jahrhunderts. Alles im Namen von Stabilität, Kontrolle und Anti-Terrorismus. Eine Politik mit weitreichenden Folgen, warnt Xinjiang-Forscher Zenz:
"Das was in Xinjiang aktuell durchgezogen wird, geht meiner Meinung nach klar in Richtung kultureller Genozid. Denn es ist einfach auch unklar, welche kulturellen Eigenheiten der Uiguren außer ein paar Tänzen und Trachten diese Maßnahmen eigentlich überleben sollen. Und hier geht es darum, dass die Identität im Kern des Menschen chinesisch sein muss. So eine Art pan-chinesische Identität. Auch wenn man einer anderen ethnischen Gruppierung angehören darf. Aber das Wichtige ist: der Uigure oder Tibeter muss sich halt im Kern seiner Person mit dieser chinesischen Kulturgemeinschaft identifizieren. Und wenn er zu tiefartig anders ist, dann ist er suspekt, weil da sozusagen die Verständnis-Dimension nicht mehr da ist."
China vereint in Xinjiang zwei Dinge: den so genannten Kampf gegen den Terrorismus und ein Kontroll- und Umerziehungsregime gegen Uiguren und andere Muslime. Die werden dabei per se als potenzielle Staatsfeinde behandelt.
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