Spiele von Gier, Geilheit, Geltungssucht und Macht

Rezensiert von Christoph Leibold |
"Woyzeck" als Sozialdrama - das wer einmal. Martin Kusej hat Büchners Fragment am Münchner Residenztheater als Endzeitdrama inszeniert: Hunderte von blauen und grauen Müllsäcken formen eine Hügellandschaft auf der Bühne. Die Welt: eine Müllhalde, ein kaputter Ort. Die Menschen tappen darin herum wie die letzten Überlebenden nach einem Atomkrieg oder nach der ultimativen Klimakatastrophe.
Doch auch im Angesicht der Apokalypse tun sie, was Menschen immer tun: Sie schikanieren einander, beuten einander aus, spielen ihre Spiele von Gier, Geilheit und Geltungssucht, Macht, Unterdrückung und Erniedrigung. Der Hauptmann kommandiert Woyzeck herum, der Doktor missbraucht ihn für seine Menschenversuche. So kennen wir das von Büchner. So sehen wir es auch auf der Bühne des Residenztheaters.

Doch anders als sonst ist Woyzeck diesmal nicht das Opfer, nicht die geschundene Kreatur. Woyzeck ist hier ein Wissender: der einzige, der um die Hohlheit der Welt weiß.

"Er denkt zu viel", sagt der Hauptmann über Woyzeck. Und tatsächlich: es sind Gedanken, so entsetzlich, dass Woyzeck die Gemeinheiten seiner Mitmenschen nichts anhaben können, weil ihre Machtspielchen angesichts der Sinnlosigkeit allen Tuns und Seins so absurd wirken, wie die Herr-und-Knecht-Rituale von Hamm und Clov in Samuel Becketts "Endspiel".

Es ist eine eigenwillige, aber durchaus schlüssige und überzeugende Interpretation diese viel gespielten Stücks, die Martin Kusej vorgelegt hat. Eine Interpretation, die es Jens Harzer als Woyzeck erlaubt, seiner Rolle ganz neue Seiten abzugewinnen: Woyzeck, der düstere Grübler. Eine schillernde Figur: eine verstörende Leere herrscht in diesem Woyzeck, der zugleich eine große Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt - allen Schikanen zum Trotz, denen er ausgesetzt ist.

Wie die meisten von Martin Kusejs Arbeiten zeichnet sich auch diese durch einen klaren, kräftigen Regie-Zugriff aus. Kusejs Zeichen sind deutlich, plakativ mitunter, aber nur selten über-deutlich. Lediglich gegen Ende der zweistündigen Aufführung stellen sich Abnutzungserscheinungen ein, etwa bei der dauerhaft dräuenden Unheilsmusik von Bert Wrede.

Dennoch: es ist eine eindrucksvolle Visitenkarte, die Martin Kusej abgegeben hat, der in vier Jahren Dieter Dorn als Intendant des Bayerischen Staatschauspiels beerben wird. Nach diesem Abend mag man eigentlich nicht mehr bis 2011 auf Kusej warten.

Georg Büchner: "Woyzeck"
Regie: Martin Kusej
Residenztheater München (Bayerisches Staatschauspiel)