Spiel der Irrungen und Wirrungen

Es gibt nicht viele Romane, in denen die Handlung so hanebüchen konstruiert ist und die gleichzeitig so genaue psychologische Schilderungen, so präzise Überlegungen über die Natur der Liebe liefern wie "Julietta" von Louise de Vilmorin.
Selbst eine Dame der Gesellschaft, erst mit einem amerikanischen Millionär, dann mit einem ungarischen Grafen verheiratet, kannte die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborene Adlige das mondäne Leben, das fast alle ihrer Figuren führen, selbst nur zu gut. Frei von materiellen Sorgen können sie ganz für ihre Gefühle und in ihren Gefühlen leben, die die Autorin mit großer Empathie und leiser Ironie vor uns auffächert, stets mit sicherer Distanz, doch ohne ihre Geschöpfe jemals bloßzustellen.

Die Geschichte selbst scheint wie andere von Vilmorin von zu vielen Zufällen geprägt, um wahr zu sein, doch dient sie letztlich trotz ihrer Eigentümlichkeiten vornehmlich als Bühne, auf der die Personen ihren Charakter entwickeln und ausleben. Der 50-jährige Prinz von Alpen trifft in der Sommerfrische auf die erst 18-jährige Julietta und beschließt, halb ermüdet von unzähligen Amouren, halb aus Sorge um Nachwuchs, das Mädchen zu heiraten, was deren Mutter letztlich mehr entzückt als die Auserwählte selbst.

Auf der Rückreise nach Paris zur Verlobung vergisst ein Mitreisender ein kostbares Zigarettenetui im Abteil der beiden Damen, Julietta läuft ihm hinterher, um es ihm zu bringen, der Zug fährt ohne sie mit der schlafenden Mutter weiter. Daraufhin nimmt der Fremde, ein Anwalt namens Landrecourt, das Mädchen mit in sein abgelegenes Haus, das er am nächsten Morgen in aller Frühe verlässt, um seine Verlobte zu treffen, nachdem er seinem Gast Geld für die Fahrkarte nach Paris gegeben hat.

Doch statt wie geplant ebenfalls abzureisen, beschließt Julietta, "ihr Leben zu erfinden", und in dem leeren Haus Abstand zum Prinzen zu finden, in den sie – anders als sie es, von seinen Aufmerksamkeiten geschmeichelt, geglaubt hatte – eben doch nicht verliebt ist.

Als die kapriziöse Verlobte Landrecourts spontan den Wunsch äußerst, die gemeinsamen Ferien in dessen Haus zu verbringen, wo er dann den ungebetenen Gast vorfindet, den er zwar verstecken kann, der sich aber weigert, abzureisen, nimmt die Tragikomödie ihren Lauf: ein Spiel der Irrungen und Wirrungen, der Lügen und des Versteckens, an dessen Ende sich schließlich alle ihrer wirklichen Gefühle bewusst werden.

So grotesk und konstruiert diese Handlung stellenweise anmuten mag, so vergisst man bei der Lektüre diese scheinbaren Mängel leicht, denn Louise de Vilmorin schildert die Entwicklung der Gefühle – ähnlich wie bei einer Screwball-Comedy, nur mit sehr viel mehr Tiefgang – so nachvollziehbar und spannend, dass uns dadurch diese Figuren aus einer anderen Zeit und Welt nahekommen. Dabei schwingt in ihrem Stil, der sich weitgehend mit der Oberfläche zufrieden zu geben scheint, stets ein leises Lächeln mit, das eine Sympathie für ihre Charaktere weckt, so fremd diese uns auch sein mögen.

Besprochen von Carolin Fischer

Louise de Vilmorin: Julietta
Roman
Deutsch von Patricia Klobusiczky
Dörlemann Verlag, Zürich 2010
288 Seiten, 19,90 Euro