Spiegel-TV-Doku über Penny-Markt

Wie ein 90 Minuten langes Meme

07:42 Minuten
Eine Dose Gulaschsuppe steht auf einem Tisch.
Nicht einmal für eine Dose Gulaschsuppe reicht das Geld in der Spiegel TV-Reportage. © Youtube/Der Spiegel
Von Matthias Dell · 05.05.2020
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Eine "Spiegel TV"-Reportage über einen Penny-Markt auf der Hamburger Reeperbahn aus dem Jahr 2007 ist gerade ein Hit im Netz. Ihre zentralen Charaktere: Trinker und Obdachlose, die regelmäßig Hausverbot erteilt bekommen.
Der Penny-Markt auf der Hamburger Reeperbahn hat es zu einiger Bekanntheit im Netz gebracht – oder vielmehr eine vierteilige "Spiegel TV"-Reportage aus dem Jahr 2007, die dort spielt. Damals war der Supermarkt eine Ausnahme, weil er sonntags geöffnet haben durfte, heute erzählt die gerade unter "Classics" von Spiegel TV wiederveröffentlichte Reportage von dieser Zeit.
Das Retro-Gefühl, das die vier Folgen von insgesamt 90 Minuten Länge verbreiten, ist allerdings nicht der wichtigste Grund für die Popularität der Dokumentation. Der wäre eher in der Wahl der zentralen Charaktere zu suchen: die Trinker und Alkoholikerinnen, zumeist obdachlos, die in dem Laden regelmäßig Hausverbot kriegen, weil sie kein Geld für den Einkauf haben.

Zum Elend gibt es Akkordeonklänge

Für andere Kundschaft wird sich nicht interessiert. Es geht um arme Menschen, die rhetorisch eigenwillig auftreten. Was sie unterhaltsam macht in der Interaktion mit dem Personal, der Security, der Polizei. Dazu gibt es eine Kommentarebene, die einen ironischen bis ignoranten Umgang mit den Protagonistinnen pflegt, wenn sich etwa Reporter Markus Grün nicht vorstellen kann, dass jemand eine kalte Dosensuppe im Supermarkt leert, weil er sonst nichts zu essen hat.
Den Soundtrack liefert Gianmaria Testas romantisch-schwelgerisches Lied "Gli Amanti di Roma". In Wahrheit machen die Akkordeonklänge das Elend und die Abgründe, die sich hinter den Gags verbergen, erträglich. Man kann etwas anschauen, ohne es sehen zu müssen.

Wo gibt es andere Erzählungen von Armut?

Natürlich ist es komisch, wenn Security-Mann und Ladendieb einen Nachnamen konsequent aneinander vorbeibuchstabieren. So lässt sich eine soziale Realität als Witz weitererzählen, was in der Netzkommunikation durch Memes geschieht: Schnipsel, Zitate, Dialoge, Bilder, die als rhetorische Gesten selbst performt werden können.
Der anhaltende Erfolg der Spiegel TV-Doku erklärt sich eben dadurch: dass es hier Material zu sehen gibt, das im Sekundentakt memefizierbar ist. Was allerdings nicht darüber hinwegtäuscht, dass sich im Grunde über das Leid anderer amüsiert wird – was möglich ist, weil es so wenig andere Erzählungen und Bilder von Armut in unserer Gesellschaft gibt. Die rührende Komik ist der große Zeh, den die Reportage in einen See hält, in dem keiner schwimmen will.
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