Spiegel der nachwilhelminischen Gesellschaft
Auf der Darmstädter Mathildenhöhe suchte man nach einem historischen Moment, auf den der Begriff Gesamtkunstwerk als gelebte Praxis wirklich zutrifft - und hat ihn im Expressionismus der zehner und zwanziger Jahre gefunden.
Gesamtkunstwerk – ein dröhnender Begriff. Gebeutelt durch das sakrale Pathos der Moderne und die Ausbeutung durch den Nationalsozialismus. Begraben und wieder auferstanden in den sechziger Jahren unter dem Begriff Soziale Plastik, gefeiert und industriemäßig gestylt in der Popkultur und dann unverhofft noch einmal plötzlich reanimiert in den neunziger Jahren, als sich eine nachwachsende Künstlergeneration nach neuen, ironisch aufgelockerten Utopien jenseits des Kalten Krieges umzuschauen begann.
Auf der Darmstädter Mathildenhöhe jedoch sucht man nach seiner konkreten Anwendung, nach einem historischen Moment, auf den der Begriff Gesamtkunstwerk wirklich zutrifft, nicht nur in der Theorie, sondern als gelebte Praxis, und findet ihn im Expressionismus der zehner und zwanziger Jahre – als Kulminationspunkt von Utopien, sozialen Konflikten, künstlerischem Aufbruch und politischen Revolutionen. Ralf Beil, Direktor der Mathildenhöhe und Kurator dieser großangelegten, aufwendig inszenierten Schau:
"Was mich da fasziniert, ist einfach diese dichte an Zeitschriften, an Akteuren, diese Leute waren zum Teil sehr jung, weil eben viele von den Älteren auch gestorben waren, das war damals möglich, weil einfach dann die Dinge sehr viel flüssiger waren. Und dieses Magma, darum geht es eigentlich der Ausstellung. Wenn wir den Expressionismus eigentlich nur, ich sag mal despektierlich, als Flachware sehen von Brücke und Blauem Reiter, dann haben wir eigentlich verpasst. Was das für eine Zeit war, die eben aber fürs 20. Jahrhundert prägend war."
Die Recherche in Künstlertagebüchern, Briefwechseln, Viten und Manifesten jener Zeit fördert schnell einen charakteristischen Zug der expressionistischen Bewegung zutage: Jeder kannte jeden, nahezu jeder arbeitete in wechselnden Rollen mit nahezu jedem anderen zusammen, man schloss sich zu Gruppen zusammen, die einander oft überschnitten und deren größte unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs zweifellos der Berliner "Arbeitsrat für Kunst" war, wo sich alles sammelte, was zu dieser Zeit in welchem Genre auch immer einen Namen hatte und haben wollte.
Die Hierarchien einer eingefahrenen Kulturindustrie galten noch nicht oder waren durch den Krieg außer Kraft gesetzt. Man erprobte sich in allen Bereichen, ob gelernt oder nicht: Der Maler als Dichter, der Komponist als Gestalter, der Architekt als Philosoph. Der Begriff Gesamtkunstwerk umfasst in dieser Phase auch und gerade jene Form eines glücklichen Dilettantismus, der durch niemanden als die beteiligten Künstler selbst kontrolliert wurde und gerade deshalb so mannigfache Ideen produzieren konnte. Wie diese Ausstellung eindrucksvoll multimedial vorführt.
"Das Cabinet des Doctor Caligari" von Robert Wiene ist 1919 schon fast eine späte Blüte und zugleich ein Höhepunkt der Entwicklung. Der Film mit der dramatischen Musik des Wagner-Adepten Giuseppe Becce und mit der aufsehenerregend dämonischen Kulissenarchitektur Walter Röhrigs und Walter Reimanns spiegelt die Verfasstheit der nachwilhelminischen Gesellschaft, der Desorientierung, des Wahns und der Haltlosigkeit. Zugleich leitet er als Massenerfolg auch die Kommerzialisierung des Expressiven ein. Doch genau das, den kommerziellen Erfolg, hatten Ralf Beil zufolge eigentlich die wenigsten expressionistischen Künstler im Sinn:
"Die meisten dieser Schriftsteller, Maler, Architekten waren tatsächlich eher im linken Spektrum, man hat bewusst gesagt: Kunst und Volk sind eins. Das haben sie ja unterschrieben. Wir arbeiten daran, dass das Leben ein Kunstwerk wird. Wir wollen nicht mehr Kunstwerke schaffen. Auch das geht in dieselbe Richtung. Wenn man vom Gesamtkunstwerk Leben spricht, heißt das natürlich auch, dass das für alle zugänglich ist. Das ist dann ein Gedanke, den man eigentlich später bei Beuys wiederfindet.
Der entscheidende Punkt ist, dass dort Energien freigesetzt wurden, sowohl in der Architektur wie auch beispielsweise in der Philosophie: Man darf nicht vergessen, dass Adorno, Martin Buber, Ernst Bloch, dass all diese Leute als junge Kritiker im Expressionismus aktiv waren, und dass sozusagen der Expressionismus viel mehr von der Wurzel her gewirkt hat, als man sich das heute bewusst macht."
Die Fotografien, die Ernst Ludwig Kirchners Maleratelier als eine Art Vorwegnahme von Andy Warhols New Yorker "Factory" in den sechziger Jahren thematisieren sollen, auch die vielfältigen Vorausdeutungen der utopischen Glasarchitektur jener Zeit auf die Hochhausmoderne der Nachkriegszeit belegen durchaus sinnfällig, wie sich das Bild vom Expressionismus im Verlauf der Jahrzehnte allmählich zur Phrase verfestigen konnte. Die Nachkriegszeit hat das Bild vom Expressionismus als Wappenkunst der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Westen nachhaltig von allen radikalen Hintergründen gesäubert. Schon deswegen, weil diese Ausstellung diese Hintergründe wieder erfahrbar macht, ist sie sehenswert:
"Erst gibt es die Revolution, die Revolte gegen die wilhelminische Gesellschaft, dann Begeisterung und der Abbruch schnell eben im Krieg und dann diese Chaos- und Umsturzsituation. Ich meine, dass sind ja so starke biografische Ereignisse... Wir haben ja heute vielfach die Rede vom Lebensgefühl, aber das ist sehr viel intensiver, das ist wirklich diese Basis, was da eigentlich passiert ist, die dann einfach grundiert."
Zum Thema:
Homepage der Ausstellung "Gesamtkunstwerk Expressionmismus"
Auf der Darmstädter Mathildenhöhe jedoch sucht man nach seiner konkreten Anwendung, nach einem historischen Moment, auf den der Begriff Gesamtkunstwerk wirklich zutrifft, nicht nur in der Theorie, sondern als gelebte Praxis, und findet ihn im Expressionismus der zehner und zwanziger Jahre – als Kulminationspunkt von Utopien, sozialen Konflikten, künstlerischem Aufbruch und politischen Revolutionen. Ralf Beil, Direktor der Mathildenhöhe und Kurator dieser großangelegten, aufwendig inszenierten Schau:
"Was mich da fasziniert, ist einfach diese dichte an Zeitschriften, an Akteuren, diese Leute waren zum Teil sehr jung, weil eben viele von den Älteren auch gestorben waren, das war damals möglich, weil einfach dann die Dinge sehr viel flüssiger waren. Und dieses Magma, darum geht es eigentlich der Ausstellung. Wenn wir den Expressionismus eigentlich nur, ich sag mal despektierlich, als Flachware sehen von Brücke und Blauem Reiter, dann haben wir eigentlich verpasst. Was das für eine Zeit war, die eben aber fürs 20. Jahrhundert prägend war."
Die Recherche in Künstlertagebüchern, Briefwechseln, Viten und Manifesten jener Zeit fördert schnell einen charakteristischen Zug der expressionistischen Bewegung zutage: Jeder kannte jeden, nahezu jeder arbeitete in wechselnden Rollen mit nahezu jedem anderen zusammen, man schloss sich zu Gruppen zusammen, die einander oft überschnitten und deren größte unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs zweifellos der Berliner "Arbeitsrat für Kunst" war, wo sich alles sammelte, was zu dieser Zeit in welchem Genre auch immer einen Namen hatte und haben wollte.
Die Hierarchien einer eingefahrenen Kulturindustrie galten noch nicht oder waren durch den Krieg außer Kraft gesetzt. Man erprobte sich in allen Bereichen, ob gelernt oder nicht: Der Maler als Dichter, der Komponist als Gestalter, der Architekt als Philosoph. Der Begriff Gesamtkunstwerk umfasst in dieser Phase auch und gerade jene Form eines glücklichen Dilettantismus, der durch niemanden als die beteiligten Künstler selbst kontrolliert wurde und gerade deshalb so mannigfache Ideen produzieren konnte. Wie diese Ausstellung eindrucksvoll multimedial vorführt.
"Das Cabinet des Doctor Caligari" von Robert Wiene ist 1919 schon fast eine späte Blüte und zugleich ein Höhepunkt der Entwicklung. Der Film mit der dramatischen Musik des Wagner-Adepten Giuseppe Becce und mit der aufsehenerregend dämonischen Kulissenarchitektur Walter Röhrigs und Walter Reimanns spiegelt die Verfasstheit der nachwilhelminischen Gesellschaft, der Desorientierung, des Wahns und der Haltlosigkeit. Zugleich leitet er als Massenerfolg auch die Kommerzialisierung des Expressiven ein. Doch genau das, den kommerziellen Erfolg, hatten Ralf Beil zufolge eigentlich die wenigsten expressionistischen Künstler im Sinn:
"Die meisten dieser Schriftsteller, Maler, Architekten waren tatsächlich eher im linken Spektrum, man hat bewusst gesagt: Kunst und Volk sind eins. Das haben sie ja unterschrieben. Wir arbeiten daran, dass das Leben ein Kunstwerk wird. Wir wollen nicht mehr Kunstwerke schaffen. Auch das geht in dieselbe Richtung. Wenn man vom Gesamtkunstwerk Leben spricht, heißt das natürlich auch, dass das für alle zugänglich ist. Das ist dann ein Gedanke, den man eigentlich später bei Beuys wiederfindet.
Der entscheidende Punkt ist, dass dort Energien freigesetzt wurden, sowohl in der Architektur wie auch beispielsweise in der Philosophie: Man darf nicht vergessen, dass Adorno, Martin Buber, Ernst Bloch, dass all diese Leute als junge Kritiker im Expressionismus aktiv waren, und dass sozusagen der Expressionismus viel mehr von der Wurzel her gewirkt hat, als man sich das heute bewusst macht."
Die Fotografien, die Ernst Ludwig Kirchners Maleratelier als eine Art Vorwegnahme von Andy Warhols New Yorker "Factory" in den sechziger Jahren thematisieren sollen, auch die vielfältigen Vorausdeutungen der utopischen Glasarchitektur jener Zeit auf die Hochhausmoderne der Nachkriegszeit belegen durchaus sinnfällig, wie sich das Bild vom Expressionismus im Verlauf der Jahrzehnte allmählich zur Phrase verfestigen konnte. Die Nachkriegszeit hat das Bild vom Expressionismus als Wappenkunst der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Westen nachhaltig von allen radikalen Hintergründen gesäubert. Schon deswegen, weil diese Ausstellung diese Hintergründe wieder erfahrbar macht, ist sie sehenswert:
"Erst gibt es die Revolution, die Revolte gegen die wilhelminische Gesellschaft, dann Begeisterung und der Abbruch schnell eben im Krieg und dann diese Chaos- und Umsturzsituation. Ich meine, dass sind ja so starke biografische Ereignisse... Wir haben ja heute vielfach die Rede vom Lebensgefühl, aber das ist sehr viel intensiver, das ist wirklich diese Basis, was da eigentlich passiert ist, die dann einfach grundiert."
Zum Thema:
Homepage der Ausstellung "Gesamtkunstwerk Expressionmismus"