Sphäre des Geheimnisvollen

12.07.2007
Wer ist schuld an 9/11? Die Zionisten, die CIA oder eine jenseitige Macht, die sich im Rauch der einstürzenden Twin Towers als Teufelsfratze zu erkennen gab? Wer ließ Kennedy erschießen - die Mafia oder Fidel Castro? Starb Lady Di wirklich nach einem Unfall oder doch durch einen Mordanschlag?
Wann immer Menschen sich mit außergewöhnlichen Missetaten konfrontiert sehen, mit Katastrophen, Kriegen, Attentaten, glauben sie an das geheimbündlerische Werk unbekannter Dritter, an ein Komplott finsterer Mächte. Solche Phantasien erklären komplexe Abläufe auf schlichte Weise. Der Glaube an Konspiration hebt banale Fakten obendrein in die Sphäre des Geheimnisvollen.

Lange war allein der Teufel schuld an allem Ungemach dieser Welt, Satan, in unserer Zeit oft als "das Böse" umschrieben. Das leibhaftige Böse operiert jedoch nicht allein; wer es bekämpfen will, muss seine Agenten finden, irdische Handlanger – fertig ist eine Verschwörungstheorie.

Der in Berlin lehrende Historiker Wolfgang Wippermann, Jahrgang 1945, hat Entstehung und Auswirkungen solcher Theorien erforscht. Im Untertitel seines jüngsten Buchs verspricht der Autor Exkurse "von Luther bis heute", doch er geht viel weiter zurück – bis zu den Verfassern des Neuen Testaments. In gut einem Dutzend lesenswerter Monographien präsentiert Wippermann besonders wirkungsmächtige Mythen. Fazit: "Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten." Und: Als Zielscheibe von Verdächtigungen eignet sich fast jede Minderheit, der politische Gegner im In- oder Ausland sowieso.

Wippermann beschreibt den typischen Ablauf von Diskriminierung und Kriminalisierung, und er nennt die Opfer konstruierter Komplotte: die "Hexen", Freimaurer und "Ketzer" seit dem Mittelalter, die Sozialisten ab dem 19. Jahrhundert, vor allem aber und immer wieder die Juden. Noch Stalins Verschwörungswahn (mit Millionen Opfern) und die Welle sozialistischer Schauprozesse nach dem zweiten Weltkrieg zeigten zum Teil antisemitischen Charakter. Seit dem späten 20. Jahrhundert verdächtigen die großen Lager unserer bipolaren Welt einander gegenseitig der Konspiration – im "Kalten Krieg" und heute im "Kampf der Kulturen".

Bei einem Abstecher erkundete Wippermann auch ein recht nahe liegendes Biotop, die Fünfziger-Jahre-DDR. Er fand dort ein skurril anmutendes, jedoch nicht ungefährliches Produkt der SED-Propagandamaschine: den Kartoffelkäfer. Auf Werbeplakaten für den "antiimperialistischen Kampf" trug der "Amikäfer" Stars and Stripes. Die Gegner unseres Staates sind Parasiten, hieß die Botschaft; Wippermann fühlte sich an Nazi-Slang erinnert.

Komplotte und kein Ende – in jedem Fall nur Unterstellung, üble Nachrede? Wippermann: "Die weitaus meisten Verschwörungen existierten und existieren ausschließlich in der Einbildung des Menschen; es handelt sich um vorgestellte und eingebildete (= ideo) Begriffe und Wörter (= logien), das heißt um gedankliche Konstrukte, mit denen bestimmte Zielsetzungen erreicht werden sollen. ‚Verschwörungsmythen’ haben immer einen ideologischen Charakter..."

Wolfgang Wippermann hat ein spannendes Buch geschrieben, ein Buch, das aufklärt, aber auch Angst macht. Leser, die tiefer in die Materie einsteigen möchten, freuen sich über Anmerkungen, Quellenverzeichnis und Personenregister. Fortschritt – das merkt man nach der Lektüre - konnte der Historiker auf seinem Forschungsfeld nicht entdecken. Die Menschen, meint er, würden auch künftig überall Agenten des Bösen entdecken. Sogar der Satansglaube sei wieder en vogue; selbst der Papst und seine Vorgänger beteiligten sich an Teufelsaustreibungen. In einem Nachwort zog Wippermann resignierend Bilanz: "Abkehr von der Aufklärung". Das Mittelalter ist uns näher, als wir glauben.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Wolfgang Wippermann:
Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute,

Be.bra Verlag, Berlin 2007.
208 Seiten, 19,90 Euro.