Mundfäule geht in Ordnung, Mundfaulheit nicht
Auch wenn es unmöglich scheint: Arno Orzessek beschweigt und bespricht im Radio vergessene Themen dieses Jahres. Und empört sich über die Auftritte von Bushido, Ronald Pofalla und Boris Becker. Aber sehen und hören Sie selbst!
Niemand hat die Absicht, eine philosophische Mauer zu errichten, liebe Hörer. Trotzdem müssen wir zunächst eine erkenntnistheoretische Hürde überspringen. Es ist nämlich so: Keiner kann im Radio über vergessene Themen reden. Denn sie sind es ja nicht mehr, sobald ein Wort über sie fällt. Kaum erinnert man sich ihrer Vergessenheit, gehören ausgerechnet die vergessenen zu den besonders frisch eingefallenen Themen.
Nicht eingefallen wie Ruinen, sondern eingefallen wie einst Attilas Hunnensturm, plötzlich und vehement. Zack! – sind sie da. Vergleichbar den Bildern des Schwabinger Kunstschatzes von Herrn Gurlitt.
Redlicher wäre es also, über vergessene Themen zu schweigen. Etwa so: -----------.
Aber wie soll da einer heraushören, ob dieses Schweigen vergessene Themen betrifft – oder ob akute Mundfaulheit am Mikrofon vorliegt? Mundfaulheit jedoch missfällt der Sendeleitung. Mundfäule geht in Ordnung, Mundfaulheit nicht.
Kurz und trüb: Man kann im Radio vergessene Themen weder beschweigen noch besprechen.
Das fettelnde Ex-Bobbele und die Hymnen-Tolpatschin Sarah Connor
Anders dagegen Themen, die zum Vergessen sind – im Sinne von: Das war aber zum Vergessen... Und in diesem Punkt brachte 2013 reiche Beute.
Bushidos grenzdebiler Aufruf zum Mord an Claudia Roth gehörte ebenso in diese Kategorie wie Angela Merkels grenzwertiger Merksatz zum Abhörskandal: "Nachrichtendienste neigen naturgemäß zur Intransparenz".
Ronald Pofallas Beendigung der NSA-Affäre per ordre Kanzleramt war auf so unvergessliche Weise zum Vergessen, dass dem guten Mann zum ewigen Gedächtnis die Website pofallabeendetdinge.de eingerichtet wurde.
Vermutlich hätte Pofalla auch die Suhrkamp-Affäre nicht gründlicher beenden können als die NSA-Affäre. Was genauso übel ist. Der Streit bei Suhrkamp, wiewohl zum Vergessen, ist dem Nervenkostüm des Publikums ein Hagel von Kletten – und so gepiesackt bleibt der Schlaf des Vergessens ein Traum.
Aber kommen wir zu dem Heroen, der den umkämpften deutschen Rekord in Auftritten von der Sorte "Zum Vergessen" hält – zu Boris Becker. Vorläufiger Höhepunkt: Das fettelnde Ex-Bobbele stellte auf der Frankfurter Buchmesse seine Autobiografie "Das Leben ist kein Spiel" vor und sagte: "Ich sage auch ganz klar in diesem Buch, dass ich stolz Deutscher zu bin."
Da wollte man mit der Hymnen-Tolpatschin Sarah Connor "Brüh im Lichte dieses Glückes" anstimmen wie einst 2005. Sprachwächter Stefan Raab jedoch moserte ungnädig: "Wenn er so stolz Deutscher zu bin, warum nicht er Sprache lernt."
Baugeiler Tebartz präsentiert exquisiten Todsünde-Doppelpack
Apropos Sprache! Sprache können viele Medien in Deutschland, Kontexte nicht unbedingt. Sonst hätten sie im Wahlkampf nicht diese fiese Anti-Steinbrück-Stimmung verbreitet, festgemacht an seiner – man müsste nur nachlesen! – geradezu skrupulösen Bemerkung zum Gehalt eines Bundeskanzlers.
Wie Steinbrück die Worte medial im Munde verdreht und wochenlang als Kröte zum Schlucken gegeben wurde – hey, das war zum Vergessen! Ach was, zum Kotzen war's. Was mehr oder weniger unelegant zu Franz-Peter Tebartz-van Elst überleitet, den Medici-mäßigen Bischofsdarsteller von Limburg.
Mann, Mann, Mann! Gerade versucht sich die Katholische Kirche die Todsünde luxuria als sexuelle Wolllust auf leckere Messdiener und so auszutreiben, da präsentiert der baugeile Tebartz – batsch – einen exquisiten Todsünde-Doppelpack: Wiederum luxuria, dieses Mal als Genusssucht, und superbia, Hochmut, samt sämtlichen Untersünden – Eitelkeit, Stolz, Übermut.
Und wo wir gerade beim Religiösen sind: Die Staatsanwaltschaft Hannover hat eines der raren Wunder der Gegenwart vollbracht.
Ob es nun aus todsündiger Rachsucht geschah oder Verblendung von sonnenfinsternismäßigem Ausmaß: Im Prozess gegen Christian Wulff haben sich die Ermittler vergessen und der Kleinkariertheit ein monströses Denkmal gesetzt. Das Wunder nun ist: Man spürt plötzlich ein gewisses Mitgefühl mit Christian Wullf – und das war nun wirklich ein vergessenes Thema.
Dass viele, die auf Wulff als Bundespräsidenten wie tollwütig eingeprügelt haben, jetzt aus Scham die Staatsanwälte auf gleiche Weise beharken, ist allerdings derart zum Vergessen, dass man sich noch lange daran erinnern sollte.
Unvergessen bleibt allemal Marcel Reich Ranicki, von dem der weise Spruch stammt: "Manchmal ist eine Schreibblockade für die Leser ein Segen, das wollen wir nicht vergessen."
Womit wir wieder am Anfang wären, liebe Hörer. Nur was Sie nie gehört haben, müssen Sie nicht vergessen.
Aber Sie – wollten ja zuhören!