Spektakuläre Prozesse in Ost und West

Rezensiert von Annette Wilmes |
Gerichtsprozesse begleiten und beeinflussen den Gang der Geschichte. Dass große Prozesse auch immer die gesellschaftlichen Konflikte und politischen Entwicklungen widerspiegeln, belegen Thomas Flemming und Bernd Ulrich in ihrem Buch "Vor Gericht". Die Autoren schildern 15 Verfahren aus Ost- und Westdeutschland nach 1945 und schlagen dabei einen Bogen von den Prozessen gegen NS-Verbrecher über den Baader-Meinhof-Prozess bis hin zum Verfahren gegen Erich Honecker.
Das Buch beginnt mit dem Fall Otto John. Der Jurist, im Nationalsozialismus am Widerstand beteiligt, im engen Kontakt mit den Attentätern des 20. Juli, wurde nach dem Krieg erster Präsident des 1950 gegründeten Bundesamtes für Verfassungsschutz. Als John sich am 20. Juli 1954, genau zehn Jahre nach dem misslungenen Attentat auf Hitler, im Osten Berlins zu Geheimgesprächen mit Angehörigen der DDR-Regierung und sowjetischen Diplomaten traf und von dort nicht zurückkehrte, war klar: Der Bundesverfassungsschutzpräsident hatte die Seiten gewechselt.

Ende 1955 kam John dann doch zurück in die Bundesrepublik und erklärte, er sei Opfer einer Entführung und seine öffentlichen Auftritte in der DDR seien nichts als eine Finte gewesen. Die westdeutschen Ermittlungsbehörden sahen das anders, John wurde verhaftet und nach einem Jahr vor Gericht gestellt. Der Bundesgerichtshof verurteilte ihn wegen Landesverrats zu vier Jahren Zuchthaus. Alle Versuche Johns, in Wiederaufnahmeverfahren seine Unschuld zu beweisen, scheiterten.

Es folgt ein Beispiel aus der frühen Zeit der DDR. Die Waldheimer Prozesse gegen NS-Täter zeigen, dass ein justizförmiges Verfahren, sei es als Geheimprozess oder als Schauverhandlung, auch zu einem willfährigen Mordinstrument und zu einem bedeutsamen Werkzeug der Diktatur werden kann. 3400 Männer und Frauen wurden abgeurteilt, ohne einen Verteidiger, die Anklageschrift erhielten sie erst am Vorabend des Prozesses. Es wurden zwar nicht nur unschuldige Opfer einer SED-Willkürjustiz verurteilt, auch Nazi-Täter, aber mit einem rechtsstaatlichen Prozess mit individueller Beweisführung hatte das, was sich 1950 in der DDR abspielte, rein gar nichts zu tun.

Auch in den Prozessen um die Streiks und Demonstrationen am 17. Juni 1953 wird klar, dass die Strafjustiz in der DDR vor allem der Machtsicherung diente. Ein "Operativstab" sollte die Prozesse lenken und kam auch dort zum Einsatz, wo sich noch Tendenzen einer unabhängigen Justiz zeigten, um die Richter auf Linie zu bringen oder sie zu ersetzen.

Die Fälle, die Thomas Flemming und Bernd Ulrich aus der Bundesrepublik ausgewählt haben, lassen die westdeutsche Justiz jedoch auch nicht in ihrem besten Licht erscheinen. So wurde – ebenfalls in den 50er Jahren – in den KPD-Verbotsprozessen mit juristischen Kanonen auf kommunistische Spatzen geschossen. Im Kalten Krieg gab es für politischen Gleichmut keinen Raum.

Auch in den nicht politischen Verfahren spiegelt sich der Zeitgeist wider. Zum Beispiel im Prozess um die Ermordung der Prostituierten Rosemarie Nitribitt, der ebenfalls in den späten fünfziger Jahren stattfand, geht es um den Konflikt zwischen konsumorientierter Massengesellschaft und an vergangenen Wertvorstellungen orientierter Bürgerlichkeit. Die Ermordete hatte sich nämlich in jener prüden Zeit, als der Kuppeleiparagraph noch existierte, ein überschwängliches Leben in Luxus und Reichtum durch den Verkauf ihrer Reize erlaubt, und zwar ausschließlich an Kunden der besten Kreise aus Wirtschaft und Politik, die sie sich selbst ohne Zuhälter aussuchte.

Die Spiegel-Affäre, der Mord-Prozess gegen Vera Brühne, der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main, der erst 1963 begann, der Fall des Kindermörders Jürgen Bartsch, der Baader-Meinhof-Prozess, der Spionagefall Günter Guillaume, der unendliche Streit um den Paragraphen 218 in Memmingen 1989, Honecker, der sich vor Gericht verantworten sollte, dann aber schwer krank aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, die Prozesse um die Mordanschläge gegen ausländische Familien von Mölln und Solingen: Die Fälle sind alle bekannt, insofern bringt das Buch nicht Neues, ist aber hilfreich für den, der sich die Zusammenhänge schnell wieder ins Gedächtnis rufen will.

Den einzelnen Berichten ist allerdings anzumerken, dass die Autoren die meisten Prozesse nicht selbst erlebt haben. Und das unterscheidet das Buch auch von den Gerichtsreportagen der großen Prozessbeobachterinnen und -beobachter: Sling und Gabriele Tergit in den 20er Jahren, Rudolf Hirsch in der DDR und Gerhard Mauz in der Bundesrepublik, Gisela Friedrichsen im vereinigten Deutschland.

Thomas Flemming und Bernd Ulrich, beide mit einer Westbiographie, Historiker und Publizisten, schreiben als Nichtjuristen über juristische Entwicklungen. Dabei unterlaufen ihnen leider Fehler. Zum Beispiel im Kapitel über den Baader-Meinhof-Prozess schildern sie, wie die Verteidigerrechte immer mehr eingeschränkt werden. Dazu gehört auch das "Verbot der Mehrfachverteidigung". Sie erklären das so:

"Ein Angeklagter darf nur noch einen Verteidiger haben."

Das ist einfach falsch. Es bedeutet viel mehr, dass ein Verteidiger nur einen Mandanten in einem Verfahrenskomplex haben darf. Jeder Angeklagte kann, wenn er es sich leisten kann, nach wie vor mehrere Verteidiger haben. Nur eben nicht einen von Mitbeschuldigten.

"Vor Gericht", ohne Zweifel ein interessantes Buch, hätte mehr Sorgfalt verdient. Die inhaltlichen Fehler und Fehleinschätzungen hätten die Autoren leicht vermeiden können, zum Beispiel durch angemessene fachliche Beratung. Die sprachlichen Schludrigkeiten hätte ein gutes Lektorat oder wenigstens ein guter Korrektur-Leser vermeiden helfen können.

Thomas Flemming und Bernd Ulrich: Vor Gericht - Deutsche Prozesse in Ost und West nach 1945
be.bra verlag, Berlin-Brandenburg 2005
224 Seiten, 19,90 Euro