Die steile Lernkurve des Martin Schulz
Martin Schulz und die SPD hatten sich schon so sicher gewähnt. Wir gehen in die Opposition hieß die Devise. Jetzt rudert der SPD-Chef mühsam zurück. Eine Große Koalition scheint möglich, auch wenn die Annäherung ziemlich holprig verlaufe, meint Frank Capellan.
Martin Schulz konnte einiges lernen in den Wochen seit dem überraschenden Jamaika-Aus. Neuwahlen wollte er haben: Ein alter Parteifreund, der Bundespräsident, musste ihm beibringen, dass sie so schnell nicht kommen werden. In die Opposition wollte er die SPD führen: Dass ein einstimmiger Beschluss des SPD-Vorstands noch lange nicht heißt, dass alle hinter ihm stehen, musste er bitter erfahren. Die Fraktion verweigert ihm die Gefolgschaft in seinem strikten Nein zu einer Großen Koalition. Er hat die Stimmung falsch eingeschätzt. Spott und Häme überkamen den SPD-Vorsitzenden. Amateurhaft lenke er die Partei und sich selbst in die Sackgasse.
Schulz wirkt verunsichert, frustriert, wütend
Schulz musste viel Lehrgeld zahlen. Er wirkt verunsichert, frustriert, wütend – aber der gescheiterte Kanzlerkandidat nimmt die Herausforderung an, und er berappelt sich gerade wieder. Unfreiwillig hilft ihm die Union nach Kräften dabei, sein ramponiertes Ansehen rechtzeitig zum in der kommenden Woche beginnenden Parteitag wieder aufzupolieren. Das Wort vom "Vertrauensbruch" steht seit dem völlig missratenen Alleingang des CSU-Landwirtschaftsministers bei der Glyphosat-Entscheidung im Raum. Christian Schmidt und Horst Seehofer haben den Bemühungen, eine stabile Regierung zu bilden, einen Bärendienst erwiesen.
Der Bärendienst der CSU
Für den SPD-Chef wird es jetzt nochmals schwerer, die Parteibasis von einer neuen Koalition mit der Union zu überzeugen. Genüsslich kann er nun diese Karte spielen und sich selbst rehabilitieren: Seht her, ich hatte doch Recht mit meinem frühen Nein zur Großen Koalition, lautet die Botschaft – den Schwarzen kann man nicht trauen, wir lassen uns nicht noch einmal über den Tisch ziehen!
Als es gestern hieß, die SPD-Spitze habe nach dem Treffen beim Bundespräsidenten grünes Licht für Koalitionsverhandlungen mit der Union gegeben, trieb es Schulz auf die Spitze und er griff sogleich zum Telefon. Falschmeldungen, gestreut von den Christdemokraten, damit lasse sich doch kein Vertrauen zurückgewinnen, signalisierte er der Kanzlerin. Man mag das als dünnhäutig bewerten, es ist aber wohl vor allem der Versuch, Stärke gegenüber den eigenen Mitgliedern zu zeigen.
Viele Sozialdemokraten favorisieren Minderheitsregierung
Am Montag wird der Parteivorstand einen Antrag formulieren, mit dem die Delegierten des Parteitages ergebnisoffene Gespräche mit der Union absegnen können. Ergebnisoffen ist dabei weniger denn je eine Floskel. Dass am Ende tatsächlich eine Große Koalition steht, ist noch lange nicht ausgemacht. Viele Sozialdemokraten favorisieren die Tolerierung einer von Angela Merkel geführten Minderheitsregierung. Sie könnte – vorübergehend zumindest – die Stärkung des Parlamentarismus mit sich bringen. Auf der Suche nach wechselnden Mehrheiten würde das Gewicht des einzelnen Abgeordneten enorm gesteigert.
Große Koalition könnte Rechtspopulismus stärken
Eine dritte Koalition von Union und SPD unter Merkels Führung dagegen birgt die Gefahr einer weiteren Stärkung der Rechtspopulisten in sich. Deutschland könnte auf österreichische Verhältnisse zusteuern. Martin Schulz dürfte dennoch versuchen, die SPD in eine Koalition zu führen. Er hatte sich – ein Wahlergebnis von mehr als 25 Prozent vorausgesetzt – immer schon als Minister in einem Bündnis mit Merkel gesehen. Dass er ein solches Amt immer noch anstrebt, hat er zumindest nicht ausgeschlossen. Bis dahin ist es allerdings noch ein sehr weiter Weg. Schulz muss einen Koalitionsvertrag vorlegen, dem die SPD-Mitglieder am Ende zustimmen, weil sie große Themen darin umgesetzt sehen. Europa, eine starke Antwort auf Macron, eine Bürgerversicherung, zumindest der Einstieg in das Ende der Zweiklassen-Medizin oder ein großer Wurf im Bildungsbereich – Stichwort Aufhebung des Kooperationsverbotes – das könnten Inhalte sein, die es lohnend erscheinen lassen, das Wagnis Große Koalition doch noch einmal einzugehen.
Europa, Bürgerversicherung, Bildung
Martin Schulz mutet seiner Partei in jedem Falle einiges zu. In der absoluten Überzeugung, dass Jamaika eine Regierung bilden würde, hatte er sich kurz nach Schließen der Wahllokale für die Opposition entschieden. Weil die Dinge so einfach nicht sind, muss er die Genossen nun vorsichtig auf den neuen Kurs einschwören. Und um doch noch die Kurve zu kriegen, brauchte dieser Martin Schulz in den letzten Wochen vor allem eines: Eine steile Lernkurve.