SPD-Linker Schreiner sieht seine Partei auf falschem Kurs

Moderation: Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler |
Der SPD-Linke Ottmar Schreiner hat seine Partei zu Kurskorrekturen aufgerufen. Die Sozialdemokraten müssten ihre Reformpolitik immer aus dem Blickwinkel der Schwächsten der Gesellschaft betreiben, sagte der Bundestagsabgeordnete. Die unteren 20 Prozent, Hartz-IV-Empfänger nebst Familienangehörigen, hätten in der Politik keine hinreichende Interessenvertretung mehr.
Deutschlandradio Kultur: Das gesetzliche Rentenalter wird ab 2012 schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben. Der Bundestag hat dies gestern mit großer Mehrheit beschlossen. Sie haben mit Nein gestimmt. Warum?

Ottmar Schreiner: Ich habe mit Nein gestimmt, weil ich die Maßnahme angesichts der Arbeitsmarktlage für völlig unvertretbar halte. Wir haben zurzeit bei der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen etwa 1,2 Millionen Arbeitslose. Nur 20 Prozent der Älteren erreichen das Rentenalter aus der Erwerbsarbeit, die anderen aus Arbeitslosigkeit, Altersteilzeit, vielleicht geringfügiger Beschäftigung. Wenn keine hinreichende Beschäftigungsmöglichkeiten für Ältere da sind, macht es keinen Sinn, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Zweiter Punkt: Die Anhebung des Renteneintrittsalters führt in der Endstufe, also im Jahr 2027 zu einer maximalen Reduktion des so genannten Rentenversicherungsbeitragssatzes von 0,5 Prozent. Wenn man Wirkung und Ursache ins Verhältnis bringt, stellt sich ja die Frage: Warum jagt man 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung auf die Palme, die in hohem Maße verärgert sind über diese Maßnahme, sich auch gar nicht vorstellen können, viele jedenfalls, wie sie bis zum 67. Lebensjahr arbeiten sollen, wenn das Ganze zu einer Reduktion des Beitragssatzes von 0,5 Prozent im Jahre 2027 führt. Und der dritte Punkt ist, insbesondere in schwer belastenden Tätigkeiten, körperlicher oder psychischer Art, etwa Altenpfleger, um ein Beispiel für psychische Belastung zu nennen, können sich die Leute nicht vorstellen, dass sie bis zum 67. arbeiten können. Die meisten scheiden deutlich früher aus.

Deutschlandradio Kultur: Ist denn die SPD blind auf diesem Auge? Es waren gerade mal elf Abgeordnete, die gegen diesen Entwurf gestimmt haben.

Schreiner: Das waren ein bisschen wenig. Das hat mich auch überrascht. Offenkundig haben die Pressionsversuche während der Gesundheitsreform Wirkung gezeigt. Einige haben sich auch Entlastung zu schaffen versucht, indem sie bei der Afghanistanabstimmung dagegen waren. Mich hat das auch überrascht, dass es nur so wenige sind, weil die Rente 67 kein Projekt der SPD ist. Das war ausschließlich im Wahlprogramm der CDU/CSU bei der letzten Bundestagswahl enthalten. Insoweit hätte ich mir gut vorstellen können, dass hier doch die Summe der SPD-Abgeordneten, die sich gegen das Gesetz gewandt hätten, deutlich höher wäre.

Deutschlandradio Kultur: Aber könnte man nicht auch sagen, dieses Gesetz macht gesellschaftlichen Druck, um damit die Beschäftigungschancen für ältere Menschen zu stärken?

Schreiner: Gesellschaftlicher Druck nutzt ja wenig, wenn kaum was passiert. Das Thema, Ältere länger zu beschäftigen ist ja nicht erst seit gestern auf der Tagesordnung. Bewegt hat sich wenig. Wir haben zwar mehr Beschäftigung als noch vor drei oder vier Jahren bei den Älteren, aber diese Mehrbeschäftigung reduziert sich fast ausschließlich auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse, 400-Euro-Jobs, zeitliche Befristung, jedenfalls keine regulären Beschäftigungsverhältnisse, von denen Ältere auch angemessen leben können. Insoweit hat sich in den letzten Jahren fast nichts getan, wie wohl das Problem seit Längerem bekannt ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber müssten jetzt nicht die Tarifpartner anfangen miteinander zu reden, auch die Arbeitgeber umdenken und sagen, wie können wir denn die Menschen länger im Betrieb halten?

Schreiner: Sicher ist ein Umdenken erforderlich. Schon aus demographischen Gründen wird es längerfristig notwendig sein, Ältere länger in der Beschäftigung zu halten. Woran es mangelt, sind fantasievolle Altersgleitzeitmodelle. Das gegenwärtig noch geltende Altersteilzeitgesetz führt zum Gegenteil, nämlich zu einer rein verblockten Regelung der Arbeitszeit. In der ersten Hälfte der Altersteilzeit wird voll gearbeitet, in der zweiten Hälfte null. Das hat mit Altersgleitzeit nichts zu tun. Was wir brauchten wären – zumindest ergänzend dazu – geförderte Modelle einer Altersgleitzeit, die den Namen auch verdient, die dann eben in einer systematischen Abstufung von Arbeitszeit letztlich dann in die Rente führt.

Deutschlandradio Kultur: Diese Initiative 50plus zeigt nicht in die Richtung?

Schreiner: Die Initiative 50plus ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Hier würden maximal 80 bis 100.000 Ältere über 50 erreicht werden. Das sind seit zwei langen Jahren in der Praxis bereits bestehende Modelle, die in den letzten Jahren etwa 10 bis 15.000 Leute erreicht haben. Selbst wenn es gelänge, 80 bis 100.000 vorübergehend über die dort praktizierten Kombilohnmodelle zu erreichen, wäre das angesichts von 1,2 Millionen Arbeitslosen über 55 nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben gegen die Rente mit 67 gestimmt, zuvor gegen die Gesundheitsreform. Sie kritisieren die Pläne der SPD für Geringverdiener. Sind Sie ein notorischer Neinsager?

Schreiner: Ach, ich habe ja eigentlich immer auch Argumente. Also, ich habe eben zum Beispiel für die Ausweitung Entsendegesetz gestimmt. Ich war selbst etwas überrascht, dass ich die blaue Karte, die Ja-Karte gezogen hatte. Ich habe bei Niedriglohn bisher ja nicht kritisiert, sondern eher eigene Vorstellungen mit entwickelt. Die Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen ist von mir bereits vor zwei Jahren erhoben worden, angesichts einer Situation in Deutschland, wie man sie im Übrigen nirgendwo in Europa wieder findet. In keinem anderen europäischen Land reicht die Lohnspreizung nach unten in den Armutslohnkeller so weit wie in Deutschland.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja auch kein Hinterbänkler in der SPD, sondern Mitglied im Parteivorstand und Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen. Das ist immerhin die größte und mitgliedsstärkste Arbeitsgemeinschaft in der SPD. Hat denn die AfA gar keinen richtigen Einfluss mehr auf die Partei, wenn immer das, was sie sich gerne vorstellen und wünschen, nicht den Niederschlag in der Politik findet?

Schreiner: Das Beispiel Mindestlöhne zeigt ja eher in die andere Richtung. Wir haben seit zwei Jahren sehr systematisch für eine vernünftige Position gearbeitet. Und seit etwa fünf Monaten ist das Allgemeingut der SPD geworden durch die Übernahme vom SPD-Gewerkschaftsrat, der sich einmütig hinter diese Forderung gestellt hat. Also, insoweit gibt es nicht nur Schattenseiten, es gibt auch lichtvollere Seiten. Die entscheidende Frage ist jetzt, wie das Altbundeskanzler Kohl zu Recht formuliert hat: Was kommt hinten bei raus? In fast allen anderen europäischen Ländern haben wir gesetzliche Mindestlöhne. In Deutschland arbeiten rund drei Millionen Menschen im Armutslohnsektor. Davon verdienen 500.000 bei Vollzeit weniger als Hartz IV. Das ist ein Debakel ohne Ende. Das sind Hungerlöhne, die hier ausbezahlt werden. Hier haben wir eine singuläre Position in Europa. Das muss dringendst überwunden werden.

Deutschlandradio Kultur: Franz Müntefering ist ja relativ optimistisch, dass es in vielen Bereichen eine Regelung geben wird. Teilen Sie die Meinung?

Schreiner: Wenn ich mir anschaue, was bislang von Seiten der CDU/CSU als Koalitionspartner geäußert worden ist, dann bin ich bestenfalls begrenzt optimistisch. Die wollen eine Ausweitung von Kombilöhnen. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es sich um zeitlich befristete Maßnahmen handelt, die zudem besonderen Personengruppen zugute kommen sollen, die ansonsten einen außerordentlich schweren Stand auf dem Arbeitsmarkt haben, etwa Ältere, gesundheitlich Angeschlagene und andere. Aber, bezogen auf einen echten gesetzlichen Mindestlohn sehe ich die Situation eher so, dass die CDU/CSU strikt dagegen ist, es sei denn, er erfolgt auf einem so niedrigen Niveau, dass man dann die Finger auch besser ganz davon lassen kann.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja, was die subventionierten Löhne angeht, in einer sehr nachdenklichen Phase. Sie selber haben sich ja in den 90er Jahren durchaus für subventionierte Löhne eingesetzt. Heute sagt man, die sind mit Vorsicht zu genießen. Sie können das Gegenteil erreichen, was man erreichen möchte, beispielsweise Niedrigarbeitsverhältnisse, Niedriglohnverhältnisse die auf Kosten der Allgemeinheit entstehen.

Schreiner: Nein, ich bin nicht prinzipiell gegen Kombilöhne. Aber nochmals: Die beiden Voraussetzungen müssen gegeben sein. Die Maßnahmen müssen zeitlich befristet werden. Das ist bisher so der Fall. Und sie müssen besonderen Personengruppen zugute kommen, die ansonsten keine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Wogegen ich mich wehre, wäre eine Dauersubvention von Beschäftigungsverhältnissen, möglicherweise auch noch von Beschäftigungsverhältnissen, die im Armutslohnsektor liegen. Es gibt da bekannte Vorschläge, dass man einen Mindestlohn von 4,50 Euro einführen soll. Und der soll zum Teil dann über den Staat finanziert werden. Damit könnte ich mich nun überhaupt nicht anfreunden. Das sind Löhne, von denen kein Mensch leben kann. Und wenn solche Löhne dann auch noch zum Teil vom Staat finanziert werden, dann macht das die Sache nicht besser, sondern schlechter.

Deutschlandradio Kultur: Was ist denn die konkrete Alternative?

Schreiner: Die konkrete Alternative ist die Verbreiterung von Tariflöhnen zu Mindestlöhnen. Und dort, wo die Tariflöhne zu niedrig sind, das haben wir auch – in Brandenburg beläuft sich der unterste Tariflohn im Friseurgewerbe auf etwa 3,60 Euro. Das sind dann monatlich rund 600 Euro Brutto. Das sind absolute Hungerlöhne. Davon kann kein Mensch leben. Dann müssten eben diese Löhne ebenfalls auf das gesetzlich formulierte Niveau angehoben werden. Dazu gibt es Vorschläge. Der DGB-Bundeskongress im Mai des vergangenen Jahres forderte 7,50 Euro als Bruttomindeststundenlohn. Das entspricht ungefähr 1300 Euro im Monat. Das ist auch ziemlich exakt die Summe der Armutslohngrenze, die von Wissenschaftlern definiert wird. Wenn jemand weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens hat, dann ist er im Armutslohnsektor. Das Durchschnittseinkommen in Deutschland brutto bei abhängig Beschäftigten zurzeit etwa 2600 Euro.

Deutschlandradio Kultur: Wie würden Sie aber Jobs bekommen für Niedrigverdienende? Denn es gibt ja Leute, die sagen, Mindestlöhne vernichten Jobs.

Schreiner: Ja, diese Argumentation ist aus dem europäischen Ausland auch bekannt. Das letzte Land, das Mindestlöhne eingeführt hat, war Großbritannien. 1997 spielte das im damaligen ersten Wahlkampf von Tony Blair eine herausragende Rolle. 1998 wurden dann die Mindestlöhne in Großbritannien eingeführt. Wir haben heute in Großbritannien ein Mindestlohnniveau von umgerechnet etwa 8,20 Euro. Und in Großbritannien ist nachweislich kein einziger Arbeitsplatz vernichtet worden, obwohl im Vorfeld der Einführung des Mindestlohnes die Arbeitgeber, aber auch die konservativen Parteien Ähnliches formuliert hatten, wie das hier auf der deutschen Seite auch zu hören ist – die Einführung von Mindestlöhnen würde Arbeitsplätze verhindern. Es gibt kein einziges Beispiel aus einem anderen europäischen Land, die mit Mindestlöhnen arbeiten, wo Arbeitsplätze vernichtet worden sind. Im Dienstleistungsbereich würden dann natürlich gewisse Dienstleistungen verteuert werden, aber das muss in Kauf genommen werden, damit die Menschen, die dort beschäftigt sind, von ihrem Einkommen auch leben können.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man diese ganzen Forderungen nimmt, die Sie jetzt genannt haben, die muss man ja auch in Politik umsetzen. Wie sieht es eigentlich aus innerhalb der Großen Koalition. Man könnte sich ja vorstellen, dass Sie mit jemandem, wie dem CDA-Vorsitzenden und Arbeitsminister in NRW, Herrn Laumann, relativ gut zusammenarbeiten können, gerade in Zeiten der Großen Koalition, wo die AfA auf der einen Seite, die CDA auf der anderen Seite ähnliche Interessen haben, dass man da gemeinsam ein großes Stück weiterkommt.

Schreiner: Ja, es gibt Kontakte zwischen uns. Ich kenne Herrn Laumann noch aus langjähriger gemeinsamer Zeit im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales. Es ist auch in absehbarer Zeit ein gemeinsames Gespräch vereinbart.

Deutschlandradio Kultur: Und wie läuft die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften? Sind Sie der Einzige in der SPD, der noch mit den Gewerkschaften spricht?

Schreiner: Ich fürchte, dass ich einer der wenigen Bundestagesabgeordneten bin, der überhaupt noch zu gewerkschaftlichen Versammlungen eingeladen wird. Ich höre zum Beispiel, dass bei den 1.-Mai-Kundgebungen in diesem Jahr kaum noch Sozialdemokraten eingeladen werden. Das halte ich nun auch für falsch. Auf der anderen Seite gibt es auch nachvollziehbare Gründe. Wenn die inhaltlichen Auffassungen zwischen den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie immer stärker auseinander klaffen...

Deutschlandradio Kultur: Ist das denn so?

Schreiner: Na ja, gut, wir haben das im aktuellen Bereich jetzt ja fast dramatisch am Beispiel der Rente 67 erlebt.

Deutschlandradio Kultur: Sie müssen uns ein bisschen die Sozialdemokratie erklären. Denn es gibt eine jüngste Umfrage, die sagt, zwei Drittel der Deutschen wünschen sich eine Gesellschaft, in der es ein Mehr an Solidarität und Zusammenhalt gibt. Und über die Hälfte findet, dass es eine bessere staatliche Absicherung bei Krankheit und Jobverlust geben sollte. Wenn nicht die SPD, wer kann dann diese Interessen bündeln?

Schreiner: Die SPD müsste sie bündeln. Eine Partei muss sich ja fragen, wieso erreichen die Parteien insgesamt die andere Hälfte der Bevölkerung nicht mehr? Und eine zweite Selbstbefragung wäre notwendig angesichts der außerordentlich schlechten Mitgliederentwicklung. Die SPD hat in den letzten vier Jahren rund 120.000 Mitglieder verloren. Wir nähern uns allmählich der 500.000er Grenze. Wir hatten zu Willy Brandts Zeiten – nur in Westdeutschland – 1,1 Millionen. Das ist eine dramatisch schlechte Entwicklung. Wenn man diese Zahl nach vorne prognostiziert, wird einem ja fast schwarz vor Augen.

Deutschlandradio Kultur: Es ist doch interessant, dass die Bevölkerung in Umfragen sagt, wir sind für ein gewisses Maß an Solidarität und Sozialpolitik. Und wenn man das dann in die Politik in Berlin umsetzen will, dann haben die sozialdemokratischen Arbeitnehmer nicht viel zu sagen, die CDA nicht viel zu sagen und die Gewerkschaften auch nicht.

Schreiner: Ja gut, aber wenn die Entwicklung so weitergeht, führt das zu einer Destabilisierung von Demokratie in Deutschland. Wir haben es immer mehr zu tun mit Niedriglöhnen, mit zeitlicher Befristung, mit atypischen Arbeitsverhältnissen, Ausweitung von 400-Euro-Jobs. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sind in den letzten Jahren systematisch zurückgegangen. Ein stabiles Dauerarbeitsverhältnis ist aber gerade die Voraussetzung, um eine Familie zu gründen, um ein Kind verantworten zu können, um größere Anschaffungen machen zu können. Da darf man sich nicht wundern, wenn die junge Generation sich all dem verweigert, wenn mehr als die Hälfte der unter 30-Jährigen bestenfalls noch zeitlich befristete Beschäftigungsverhältnisse bekommen. Hier müsste ein großes Projekt der SPD liegen. Wie kriegen wir es hin, in Zukunft wieder auf stabile Dauerarbeitsverhältnisse hin zu orientieren, von prekären Beschäftigungen wegzukommen, von atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Letzteres ist aber unter Rot-Grün massiv gefördert worden.

Deutschlandradio Kultur: Und wenn sich die SPD als Volkspartei versteht, und das tut sie seit langer Zeit, kann sie sich dann nur primär auf diesen Teil der Bevölkerung konzentrieren oder muss sie auch und gleichzeitig diese neue Mitte, von der Gerhard Schröder so oft geredet und die er auch bedient hat, auch bedienen?

Schreiner: Die SPD muss zum ersten ihre Reformpolitik auch immer aus dem Blickwinkel der Schwächsten der Gesellschaft machen. Die unteren 20 Prozent überwiegend Hartz-IV-Empfänger nebst Familienangehörigen, haben in der Politik keine hinreichende Interessensvertretung mehr. Zweitens muss die SPD ihr traditionelles Milieu, nämlich die Facharbeitnehmerschaft, politisch vertreten. Ein aktuelles Beispiel ist die Rente 67, da geschieht das Gegenteil. Drittens muss die SPD für größere Teile des Bildungsbürgertums attraktiv bleiben, weniger über eine materielle Interessensvertretung, das haben diese Leute nicht nötig, aber vielmehr über andere politische Schwerpunkte – Klimaschutz, Friedenspolitik, um zwei Beispiele zu nennen, eine ordentliche Bildungspolitik. Die Bildungspolitik in Deutschland bedarf einer Generalrevision. Wir haben auf europäischer Ebene mit die schlechtesten Daten. Das wären Themen, die weit über eine rein materielle Interessensvertretung hinausreichen, die man aber politisch schärfer profilieren müsste, um auch in Teilen des Bürgertums wählbar zu bleiben.

Deutschlandradio Kultur: Interessanterweise arbeitet die SPD ja an einem Grundsatzprogramm, das am Ende diesen Jahres verabschiedet werden soll. Werden die Themen dort reflektiert? Kommt der AfA-Vorsitzende dort zu Wort?

Schreiner: Der kommt dort zu Wort. Der ist auch mehrfach zu Wort gekommen. Wir haben ja schon eine Reihe von Sitzungen gehabt. Es gibt auch handfeste Bestrebungen aus verschiedenen Richtungen der Partei, den vorliegenden Entwurf in einer Reihe von Punkten und Abschnitten deutlich zu ändern. Da sind wir also mitten drin und ich kann mich darüber nicht klagen, da nicht hinreichend zu Wort zu kommen.

Deutschlandradio Kultur: Ein Vertreter dieser Mitte, die Sie eben beschrieben haben, ist ja Kurt Beck. Ist er der richtige Parteivorsitzende?

Schreiner: Ich glaube, dass Kurt Beck zurzeit und auf absehbare Zeit alternativlos ist. Die Führungsreserven der SPD sind im Moment sehr dünn. Das hängt eben damit zusammen, dass wir auf Länderebene die meisten Landesregierungen verloren haben. Ich glaube, in keiner Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte haben wir so wenige Landesregierungen gestellt, wie das gegenwärtig der Fall ist. Und üblicherweise rekrutieren die Parteien, insbesondere die Volksparteien, ihr Führungspersonal ja auch aus den jeweiligen Landesregierungen. Und wenn wir kaum noch vertreten sind, liegt es auf der Hand, dass die Führungsreserven sehr schwach sind.

Deutschlandradio Kultur: Das hört sich nicht besonders euphorisch an, sondern eher nach einer Negativauswahl.

Schreiner: Nein, das ist ja keine Negativauswahl, sondern man muss ja mit den Kindern tanzen, die auf der Hochzeit sind, hat mein Großvater immer gesagt. Auf der Hochzeit sind zurzeit nicht allzu viele Mädchen. Es käme also darauf an daran zu arbeiten, dass die Ausgangslage auf Länderebene zunächst mal besser wird, dass die SPD wieder Zug um Zug auch auf Länderebene Landesregierungen zurückgewinnen muss, dass sie wieder Wahlen gewinnen muss. Nach dem aktuellen Debakel, das wir in Hamburg erlebt haben, gilt jetzt der Satz eines berühmten Baden-Württembergers, Friedrich Hölderlin: "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch."

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem noch mal die Frage: Wofür steht der Parteivorsitzende? Mal entdeckt er die Unterschicht. Dann empfiehlt er den Arbeitslosen sich zu rasieren. Mal verteidigt er die Renten- und Steuerpläne der Koalition. Dann verkündet er eine Reformpause und sagt, "nun mal langsam mit de Leut." Wofür steht der gelernte Elektromechaniker und rheinland-pfälzische Ministerpräsident?

Schreiner: Ich glaube, dass er in einer schwierigen Spagatsituation ist. Es ist ja so, dass ein Teil der Politiker, die führend die Agenda 2010 vertreten haben und die der SPD aus meiner Sicht in weiten Teilen erheblichen Schaden zugefügt haben, das war insbesondere Hartz IV, aber nicht nur Hartz IV, die wirken nach wie vor in der Politik aktiv mit. Die sind natürlich davon überzeugt, dass das, was damals gemacht worden ist, richtig ist – bei allen Verlusten, die wir hatten, sowohl Wahl-, wie Mitgliederverlusten. Auf der anderen Seite wächst die Summe derjenigen, die sagen, wir brauchen einen neuen Kurs, es bedarf eines Kurswechsels. Nicht alles, was in der Vergangenheit gemacht worden ist, war richtig. Es hat uns in Teilen auch geschadet. Und zwischen beiden Polen muss der Parteivorsitzende versuchen einen Kurs mit zu definieren, der ein Auseinanderbrechen der SPD verhindert.

Deutschlandradio Kultur: Welche Möglichkeiten hat denn dann die SPD? Wenn man von der Großen Koalition absieht, sagt Franz Müntefering diese Woche im Spiegel einen doch bemerkenswerten Satz: "Es gibt eine breite gesellschaftliche Mehrheit in der Republik für eine linke Modernisierungspolitik der Mitte. Diese Politik verkörpert die SPD." Also, eine breite gesellschaftliche Mehrheit für eine linke Modernisierungspolitik der Mitte – was will er uns damit sagen?

Schreiner: Tja, was will uns der Prophet damit sagen? Eine linke Modernisierungspolitik war jedenfalls nicht die Agenda 2010. Da müsste schon definiert werden, was man unter linker Modernisierungspolitik begreift. Jedenfalls kann ich nicht das darunter verstehen, was möglicherweise Franz Müntefering darunter versteht. Richtig ist, dass wir seit 98 parlamentarische Mehrheiten in Deutschland haben, auch politische Mehrheiten, für eine Politik links der Mitte oder "Mitte-Links-Politik", wie das Willy Brandt damals genannt hatte. Die Mehrheiten haben wir. Die hatten wir auch 2005 bei den Wahlen. Dass es dann zu einer Großen Koalition kam, ist nun bekannt. Ich glaube, dass es auch weiterhin solche Mehrheiten gibt. Dann müssten aber sehr deutlich die Eckpunkte formuliert werden, für die es sich zu streiten lohnt. Da müsste das Profil der SPD wesentlich deutlicher herausgearbeitet werden. Ich habe eben einen Punkt genannt – Zurückdrängen prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Wir haben bei der Gesundheitsreform Bürgerversicherung gesagt: Zustimmung in der Bevölkerung über 80 Prozent. Das, was jetzt dabei herausgekommen ist, ist ja alles andere als eine Bürgerversicherung. Wir warten jetzt, was bei Mindestlöhnen rauskommt. Auch das wäre ein klassisch sozialdemokratisches Projekt nach dem Motto: Jeder, der anständige Arbeit leistet, soll auch anständiges Einkommen erzielen. Wir brauchten eine durchgreifende Reform in der Bildungspolitik. Das sind drei, vier Eckpunkte, die fast schon ausreichen würden, um das Profil der Partei wieder deutlich zu schärfen und nach außen erkennbar zu machen.

Deutschlandradio Kultur: Franz Müntefering ist Ihrer Meinung nach auf einem falschem Kurs, zumindest dann, wenn er sagt, er will die Agenda 2010 fortsetzen und zu Ende bringen?

Schreiner: Die Agenda 2010, nochmals, ist aus meiner Sicht kein linker Modernisierungskurs gewesen, vielleicht mit einer Ausnahme. Das war ja auch in der Agenda 2010 enthalten. Da war ja nicht alles falsch. Das war die Ansage, innerhalb von wenigen Jahren sollen mehrere Milliarden Euro bereitgestellt werden, um die Ganztagsschulen in Deutschland auszubauen. Soweit ich das im Hinterkopf habe, sollten die Fristen 2007 schon auslaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist weniger als die Hälfte der bereitgestellten vier Milliarden Euro Bundesmittel von den Ländern abgerufen worden. Also, selbst das, was in die richtige Richtung weist, ist von den Ländern dann teilweise verschleppt worden. Das war ein positives Beispiel, aber es gibt eine Reihe von anderen Beispielen. Ich habe Hartz IV genannt. Das halte ich nach wie vor für ein Debakel, für eine völlig falsche Richtungsentscheidung, was da gemacht worden ist. Das war die Verbreiterung von Armut in Deutschland, nicht die Bekämpfung von Armut. Das hat mit linker Modernisierungspolitik, jedenfalls nach meinem Verständnis, überhaupt nichts zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Was ist daran so schlecht, dass man die Arbeitsvermittlung verbessert und dass man für Sozialhilfeempfänger den Arbeitsmarkt öffnet?

Schreiner: Zunächst einmal gab es für Sozialhilfeempfänger auch früher schon einen Arbeitsmarkt, der im Wesentlichen von den Kommunen gesteuert worden ist. Wir hatten auch damals mehrere hunderttausend Sozialhilfeempfänger, die in kommunal bereitgestellten Arbeits- und Beschäftigungsgelegenheiten tätig waren. Das ist überhaupt nichts völlig Neues. Sicherlich war es richtig, auch den Sozialhilfeempfängern die Arbeitsmarktinstrumente anzubieten. Die waren bis zu dem Zeitpunkt davon ausgeschlossen. Seit Hartz IV sind sie eingeschlossen. Aber dann muss man sich fragen, welche Arbeitsmarktinstrumente? Die wirksamsten Arbeitsmarktinstrumente, die eine hohe Integration in den ersten Arbeitsmarkt mit sich brachten, vor allen Dingen Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, sind in den letzten Jahren dramatisch zusammengestrichen worden auf weniger als ein Drittel dessen, was wir noch vor Jahren hatten. Stattdessen sind die so genannten Ein-Euro-Jobs aufgeblüht. In der Regel nach Beendigung, wiederum in der Regel nach einem halben Jahr Tätigkeit in diesen Ein-Euro-Jobs, sind die Leute genau wieder da, wo sie vorher auch waren, nämlich in der offenen Arbeitslosigkeit. Die eröffnen keine Perspektiven. Es gibt Einzelaspekte, die waren richtig und bleiben auch richtig, etwa die Verbesserten Vermittlungsbemühungen der Bundesagentur für Arbeit. Das ist ohne Zweifel ein Pluspunkt. Aber an einer Reihe von Punkten bin ich der Meinung, dass die Instrumente und die Maßnahmen nicht zu mehr Beschäftigung geführt haben, sondern zu mehr Armut.

Deutschlandradio Kultur: Aber selbst wenn die SPD in Ihrem Sinne in den letzten Jahren alles richtig gemacht hätte, eine absolute Mehrheit auf Bundesebene scheint unwahrscheinlich zu sein. Deshalb stellt sich immer wieder die Koalitionsfrage. Mit wem kann die SPD zusammen künftig Koalitionen eingehen? Muss man sich irgendwann noch mal mit der PDS auf Bundesebene beschäftigen?

Schreiner: Na, es macht ja keinen Sinn, die PDS bis zum Ende aller Tage zu stigmatisieren. Die PDS hat auf Länderebene, das wird sogar aus den eigenen Reihen teilweise kritisiert, eine Politik mitgetragen, die alles andere als besonders Aufsehen erregend war. Die entscheidende Frage ist ja, ob die Linkspartei, die sich im Sommer diesen Jahres konstituieren soll, für die SPD als denkbarer Koalitionspartner in Frage kommt. Das ist ja die Frage, um die es dann letztlich geht. Meiner Auffassung nach macht es wenig Sinn, von vornherein zu sagen, das wird niemals der Fall sein, nur weil es auch in dieser Linkspartei Leute gibt, die früher mal in der SPD waren.

Deutschlandradio Kultur: Zum Schluss eine persönliche Frage: Treten Sie zur nächsten Bundestagswahl, regulär im Jahr 2009, noch einmal an?

Schreiner: Das ist eine Frage, mit der sich ein Abgeordneter in der Regel etwa in der Mitte der Legislaturperiode beschäftigt, weil dann allmählich das Drängen aus dem eigenen Wahlkreis größer wird, sich zu erklären. Hin und wieder tritt schon die Frage an einen heran. Wenn ich gesund bleibe, wenn die Umstände in Ordnung sind, dann werde ich noch mal antreten. Aber das ist jetzt unter Vorbehalt gesagt, die Entscheidung muss man Ende des Jahres treffen. Im Übrigen, Abgeordnete gehören zu den wenigen Berufsgruppen, denen eine Arbeitszeit bis zum 67. Lebensjahr zumutbar ist.

Deutschlandradio Kultur: Das wäre dann unsere Frage, ob Sie dann mit 65 aussteigen, weil Sie ja gegen die Rente mit 67 stimmten.

Schreiner: Nein, nein, ich bin für eine differenzierte Sicht der Dinge. 97 Prozent der Professoren in Deutschland erreichen das Renteneintrittsalter mit 65 im Beruf. Die Dachdecker haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 63. Abgeordneten ist es durchaus möglich, bis zum 67 zu gehen.

Deutschlandradio Kultur: Ottmar Schreiner, wir danken ganz herzlich für das Gespräch.