SPD-Linke will neue sozialdemokratische Netzpolitik
Der Sprecher der SPD-Linken, Björn Böhning, hat kurz nach dem Dresdner Parteitag eine neue sozialdemokratische Netzpolitik gefordert. Die SPD sei nicht "sexy" genug und habe in den vergangenen Jahren zu wenig Diskurse geführt, um die Zukunftsfragen zu beantworten.
Ulrike Timm: Eine Rechenaufgabe, die zugleich ein ziemlich gemeiner SPD-Witz ist, die geht so: Eine sozialdemokratische Partei hat in acht Jahren null Erfolge. In wie vielen Jahren merkt sie, dass die Taktik verfehlt ist? Kleine Anfrage eines verzweifelten Genossen am Wochenende beim Parteitag in Dresden? Großer Irrtum. Kurt Tucholsky in der Weltbühne von 1929. Nun ja. Seit gestern ist alles anders und vieles besser, musikalisch allerdings ist die neue Einigkeit noch nicht ganz umgesetzt.
Singender Parteitag, chorische Besetzung am Wochenende in Dresden. Ich habe zwei Gäste hier im Studio, Daniel Friedrich Sturm, er ist Politologe und hat ein Buch geschrieben, "Wohin geht die SPD?", und Björn Böhning, er war lange Jahre Juso-Vorsitzender und ist Sprecher der SPD-Linken. Beiden herzlich guten Morgen!
Björn Böhning: Guten Morgen!
Daniel Friedrich Sturm: Morgen!
Timm: Herr Sturm, instinktiv sahen Sie nicht so aus, als hätten Sie Lust, mitzusingen. Ist es manchmal auch die merkwürdige SPD-Folklore, die junge Leute eher abschreckt?
Sturm: Ja, ich glaube, das ist für viele fremd, aber ich meine, das hört sich gerade doch so ein bisschen disharmonisch an, aber immerhin war es ja ein Lied und eine Melodie, da war sich ja diese Partei schon mal einig, und ich fand es auch ganz wohltuend, dass es nicht wieder diese schreckliche Bergmannskapelle war, die da auftrat. Ich glaube, die hätte junge Leute noch mehr abgeschreckt, und zur Ehrenrettung der SPD – das mache ich jetzt nur einmal während des Gesprächs – gab es ja auch noch so einen Rapper, der da aufgetreten ist, und das wäre bei jungen Leuten sicher gut angekommen.
Timm: Aber ich konstatiere: Keine Bergmannskapelle ist schon ein Fortschritt. Vielleicht haben die einfach keine Lust mehr, mit dem Genossen Björn und dem Genossen Sigmar ab in die neue Zeit zu gehen, Björn Böhning?
Böhning: Na, ich glaube, dass die SPD auch zu ihren Traditionen stehen muss und stehen sollte, und es ist auch nicht glaubwürdiger – auch nicht bei jungen Menschen im Übrigen –, wenn man 146 Jahre Geschichte von Sozialdemokratie einfach vergessen macht und anfängt, sich neuen Kulturformen, neuer Musik einfach so zu öffnen. Es hat mal einen Jugendparteitag der SPD gegeben, der war auch nicht besonders glaubwürdig, wo der Parteivorsitzende vorne mit jungen Leuten getanzt hat. Anbiederung kommt bei jungen Leuten auch nicht gut an.
Timm: Das erinnere ich gut, Franz Müntefering als Rapper, das hat nicht geklappt. Aber trotzdem: Die große Tradition, die bestreitet ja niemand. Aber muss man die immer in diesem Maße betonen, dass junge Parteigenossen erst mal einen langen Brief bekommen, da wird das Wort "Genosse" erklärt. Ich weiß nicht, mögen Sie ständig Genosse Björn genannt werden?
Böhning: Umgekehrt ist auch richtig: Ich erlebe gerade bei jungen Menschen, … Wir hatten am Samstagabend eine große Party auch der Jusos, wo mehrere 100 junge Menschen dort waren, und die natürlich dann auch Traditionen von Arbeiterliedern und anderen Dingen bewahrt haben. Aber richtig ist auch: Die Tradition ist nicht historisiert im Sinne davon, dass man sich immer an 146 Jahre erinnert, sondern die Grundwerte, die wir haben – Solidarität, Freiheit, Gerechtigkeit – müssen auf die Höhe der Zeit gebracht werden, und daran müssen wir jetzt in den nächsten Jahren arbeiten.
Timm: Gustav Mahler sagte mal, Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche. Vielleicht merkt die Generation 2.0 schlicht nichts vom Feuer.
Böhning: Ich glaube, dass in der Tat die SPD nicht da genug am digitalen Lebensgefühl der jungen Generation ist. Das hat auch was mit politischen Entscheidungen, zum Beispiel bei den Netzsperren, zu tun, und wir müssen uns jetzt anders aufstellen. Junge Menschen sind gewöhnt, sich im Internet zu bewegen, sie sind gewöhnt, zu kopieren, sie sind aber auch gewöhnt, mitzudiskutieren, und auch, dass dieser Rücklaufchannel akzeptiert wird und nicht nur Verlautbarung im Internet gemacht wird. Und ich glaube, an dieser Stelle sind wir zu schwach gewesen. Wir haben zu viel verlautbart und zu wenig aufgenommen.
Timm: Herr Sturm, Sie haben explizit darüber geschrieben in Ihrem Buch "Wohin geht die SPD?", auch über SPD und junge Leute, über "SPD-Folklore", das ist, soviel ich weiß, Ihr Ausdruck. Ja, merken die jungen Leute nichts vom Feuer, sehen die nur noch die Asche?
Sturm: Ach, das glaube ich nicht, das ist jetzt, glaube ich, auch ein bisschen vereinfacht. Ich finde auch richtig, dass die SPD sich ihrer Geschichte besinnt, ich meine, das war ja wirklich eine bedeutungsvolle Geschichte, die da hinter ihr liegt, und das gehört, glaube ich, schon auch dazu und man kann da sich ja auch begeistern, und vielleicht ist es ja auch bezeichnend, dass auf dem Parteitag jetzt, in Dresden gestern, die große Rede war von Erhard Eppler. Also, der hat da wirklich eine gute, tolle Rede gehalten, aber der Mann ist eben auch 82. Vielleicht zeigt das auch so ein gewisses intellektuelles, diskursives Defizit.
Mein Eindruck ist, dass die SPD einfach in den letzten Jahren doch auch so eine kulturelle Hegemonie verloren hat. Ich glaube, dass Frau Merkel und Frau von der Leyen da gerade bei jungen Leuten, bei jungen Frauen allzumal doch da ganz schön aufgeholt haben, und wenn man sich überlegt, wo finden die großen Debatten statt, wo finden inhaltliche Diskurse statt, wo findet intellektueller Austausch statt, dann denkt man nicht unbedingt an die SPD. Und wenn die SPD von Kultur spricht, dann sehe ich immer nur Günter Grass und Wolfgang Thierse und Klaus Staeck.
Timm: Sie haben es selbst gesagt: Ein 82-jähriger Vordenker hielt eine der wirklich bewegendsten Reden dieses Parteitags, und es tut der Hochachtung vor Erhard Eppler ja keinen Abbruch, wenn sich da ein junger Mensch fragt, was soll das denn, wie kann das gehen? Björn Böhning, Sie sind selber noch ziemlich jung. Wie muss denn die Partei sein, um Politik, um Parteipolitik als etwas Verheißungsvolles glaubhaft zu machen, nicht nur, sie zu verkaufen, sondern sie glaubhaft zu machen?
Böhning: Ja, ich glaube, dass Franz Müntefering schon recht hatte damit, dass die SPD nicht interessant genug war. Ich habe mal gesagt, die SPD ist nicht sexy genug, und das ist auch so. Wir haben zu wenig – da würde ich das von Daniel Sturm aufgreifen –, zu wenig Diskussionen, zu wenig Diskurse geführt, um die Zukunftsfragen zu beantworten: Was ist mit dem demografischen Wandel? Wie kriegen wir es hin beispielsweise, dass junge Menschen, die hoch ausgebildet sind, mit 25 Jahren aus der Uni kommen, drei Sprachen sprechen, vier Auslandsaufenthalte hatten, aber trotzdem keinen Job, wie kriegen wir es hin, deren Lebensrealität der Generation Praktikum nahezukommen, ihnen auch Sicherheit zu bieten? Und diese Diskussionen sind in der SPD in den letzten Jahren leider nicht mehr geführt worden. Und wer soll sich für die SPD begeistern, wenn die Fragen, die einen betreffen, gar nicht mehr gestellt werden?
Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen über die Möglichkeiten der SPD, an die Zukunft anzudocken, vor allem im Gespräch mit jungen Menschen. Björn Böhning, ist da Netzpolitik möglicherweise ein Schlüssel?
Böhning: Da bin ich ganz sicher. Wir brauchen eine neue sozialdemokratische Netzpolitik, die besteht aus drei Teilen. Das Erste ist: Wir wollen der Freiheit im Internet Vorrang gewähren, das heißt, wir wollen diejenigen jungen Menschen, die sich dort bewegen, ihnen auch die Möglichkeit geben, und zwar ohne Furcht vor staatlicher Kontrolle und Regulation. Zweitens, wir wollen auch mehr Datenschutz und Bürgerrechte. Die SPD ist nicht nur eine Rechtspartei, sie ist eine Bürgerrechtspartei. Wir stehen für demokratische Rechte in Deutschland ein und das muss deutlicher werden, als das vielleicht unter Stichworten wie Vorratsdatenspeicherung und anderen gewesen ist. Und drittens: Auch diejenigen, die sich dort im Netz bewegen, haben ja auch noch eine Offline-Welt, nämlich eine Welt, wo sie ihre Existenz begründen müssen, wo sie versuchen müssen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und gerade die Absicherung, die soziale Sicherung von Soloselbstständigen ist mir ein ganz besonderes Thema, das sind nämlich oft Internetarbeiterinnen und -arbeiter.
Timm: Jetzt klingen Sie aber auch so ein bisschen wie Ihre Parteivorderen, Björn Böhning. Herr Sturm, bei Twitter, wichtiges Medium bei jungen Leuten, erfahre ich aber auch nur, dass der Sigmar "saugut" war. Wenn man was erreichen will, müsste man ja auch handfeste Themen ins Netz bringen. Ist das überhaupt zu schaffen oder muss man warten, bis eine Generation aus Facebook wieder rauskommt?
Sturm: Ich weiß nicht, wie sich das weiterentwickelt, und das kann ja auch keiner absehen, welche Bedeutung diese Medien haben werden und wie sie sich entwickeln. Ich muss sagen, ich finde das, was da über Facebook und Twitter stattgefunden hat und was man so mitbekommt – irgendwelche zweitrangigen SPD-Politiker, die dann also Twitternachrichten versenden, in denen es heißt, ich lande gleich in Frankfurt oder ich hole mir einen Kaffee –, das ist, glaube ich, nicht das, was die SPD jetzt stark macht. Da muss die SPD jetzt einfach mal auch das Potenzial von jungen Leuten abfragen und auch mal mit ihnen einfach reden und sie fragen und vielleicht da auch mal irgendwie ein Gespräch führen oder einen großen Kongress zu diesem Thema machen. Das kann man ja nicht immer nur zu irgendwelchen Jubiläen oder so machen, dass man sich da wirklich auch Sachverstand holt. Ich glaube auch einfach, dass es der SPD-Führung bislang einfach an Kenntnissen gefehlt hat. Es gab im Sommer eine Ausgabe der Parteizeitung "Vorwärts" mit dem Titelbild, da war also Franz Müntefering zu sehen, wie er seine alte Schreibmaschine namens Gabriele oder Erika hält, …
Timm: Gabriele.
Sturm: … Gabriele, und er steht da vor einer dicken, alten Eiche, und ich fand, das war diese Ikone dieser abtretenden SPD-Führung. Das war eigentlich im Grunde ein ganz fatales Bild und eben auch eine Metapher für das, was da stattgefunden hat und ich glaube, da muss jetzt einfach in den großen Städten und in dieser Community muss die SPD mit diesen Leuten verhandeln und sprechen und in Kontakt treten.
Timm: Und wahrscheinlich stand der Artikel gar nicht online, oder, Herr Böhning?
Böhning: Ich befürchte, er stand online, denn es haben ihn viele gelesen und wahrgenommen, insofern …
Sturm: Das Foto gibt es auch im Netz.
Böhning: Das Foto gibt es auch im Netz. Ja, das ist schon richtig, das ist einfach eine dramatische Entwicklung gewesen.
Timm: Aber diese Debattenkultur, die Sie ja sehr anmahnen, die führt natürlich auch dazu, dass jemand, der sich für die SPD interessieren könnte, erst mal weiß: Ich muss erst mal ungefähr 20 Jahre durch den Ortsverein, durch die Parteisitzungen, und wenn dann von meinen Idealen irgendwas noch übrig geblieben sein sollte, dann werde ich vielleicht mal wirklich für eine Aufgabe gewählt. Ist der Gang durch die Institutionen in den Parteien, in den klassischen Parteien – das bezieht sich vielleicht gar nicht mal nur auf die SPD –, ist der einfach zu lang?
Böhning: Ja, das hat was mit Sexiness zu tun, wie ich vorhin sagte. Wir haben zu lange darauf gesetzt, dass man erst mal fünf Jahre Plakate kleben muss, um überhaupt mal in eine Funktion zu kommen und dann auch weiterzukommen. Und jemand, der sich mit Netzpolitik beschäftigt, nehme ich mal an, in der SPD, der hat gar keinen Zugang. Im Ortsverein wird da kaum drüber diskutiert, auch auf der Landesebene kaum, und da brauchen wir sicherlich andere Organisationsformen, ihnen aber auch die Möglichkeit geben, zu sagen, kommt mit, nicht nur mitarbeiten, sondern nehmt jetzt auch Verantwortung wahr.
Timm: Und Sie wären auch selber gern zumindest der Zweitjüngste im Parteivorstand, oder?
Böhning: Ich wäre auch selber gern der Zweitjüngste, ich wäre auch gern der Fünftjüngste im Parteivorstand. Ich glaube, wichtig ist in der Tat, dass wir uns jüngeren Leuten da stärker öffnen und sie für die Mitarbeit in der SPD begeistern. Das heißt aber, um gleich zu sagen, war hier die Frage Twitter und Facebook: Ich glaube auch, es liegt nicht am Facebook-Profil, ob die SPD gut ist im Internet oder nicht, es liegt daran, dass wir einen Rücklaufchannel brauchen. Eine SPD muss sich öffnen, muss sagen: Wir wollen auch die Meinung derjenigen, die draußen sind, und wir wollen nicht nur unsere Meinung aufgeben.
Timm: Ich glaube, wir sehen uns in einem Jahr noch mal wieder und ziehen dann erste Bilanz. Zum Schluss dürfen Sie beide aber noch mal ganz kurz rechnen, Tucholskys Rechenaufgabe vom Beginn unseres Gesprächs. Eine sozialdemokratische Partei hat in acht Jahren null Erfolge. In wie viel Jahren merkt sie, dass die Taktik verfehlt war? Herr Sturm?
Sturm: Ich glaube, in den nächsten zwölf bis 16 Wochen.
Timm: Herr Böhning?
Böhning: Wir haben jetzt auf dem Parteitag einen Neuanfang gewählt und ich würde sagen, in vier Jahren sind wir gut dabei.
Timm: Vier Jahre, das ist auch sehr mittelfristig geplant. Ich danke Ihnen beiden, Daniel Friedrich Sturm und Björn Böhning im Gespräch mit dem Radiofeuilleton über die SPD und junge Leute in der SPD. Vielen Dank!
Singender Parteitag, chorische Besetzung am Wochenende in Dresden. Ich habe zwei Gäste hier im Studio, Daniel Friedrich Sturm, er ist Politologe und hat ein Buch geschrieben, "Wohin geht die SPD?", und Björn Böhning, er war lange Jahre Juso-Vorsitzender und ist Sprecher der SPD-Linken. Beiden herzlich guten Morgen!
Björn Böhning: Guten Morgen!
Daniel Friedrich Sturm: Morgen!
Timm: Herr Sturm, instinktiv sahen Sie nicht so aus, als hätten Sie Lust, mitzusingen. Ist es manchmal auch die merkwürdige SPD-Folklore, die junge Leute eher abschreckt?
Sturm: Ja, ich glaube, das ist für viele fremd, aber ich meine, das hört sich gerade doch so ein bisschen disharmonisch an, aber immerhin war es ja ein Lied und eine Melodie, da war sich ja diese Partei schon mal einig, und ich fand es auch ganz wohltuend, dass es nicht wieder diese schreckliche Bergmannskapelle war, die da auftrat. Ich glaube, die hätte junge Leute noch mehr abgeschreckt, und zur Ehrenrettung der SPD – das mache ich jetzt nur einmal während des Gesprächs – gab es ja auch noch so einen Rapper, der da aufgetreten ist, und das wäre bei jungen Leuten sicher gut angekommen.
Timm: Aber ich konstatiere: Keine Bergmannskapelle ist schon ein Fortschritt. Vielleicht haben die einfach keine Lust mehr, mit dem Genossen Björn und dem Genossen Sigmar ab in die neue Zeit zu gehen, Björn Böhning?
Böhning: Na, ich glaube, dass die SPD auch zu ihren Traditionen stehen muss und stehen sollte, und es ist auch nicht glaubwürdiger – auch nicht bei jungen Menschen im Übrigen –, wenn man 146 Jahre Geschichte von Sozialdemokratie einfach vergessen macht und anfängt, sich neuen Kulturformen, neuer Musik einfach so zu öffnen. Es hat mal einen Jugendparteitag der SPD gegeben, der war auch nicht besonders glaubwürdig, wo der Parteivorsitzende vorne mit jungen Leuten getanzt hat. Anbiederung kommt bei jungen Leuten auch nicht gut an.
Timm: Das erinnere ich gut, Franz Müntefering als Rapper, das hat nicht geklappt. Aber trotzdem: Die große Tradition, die bestreitet ja niemand. Aber muss man die immer in diesem Maße betonen, dass junge Parteigenossen erst mal einen langen Brief bekommen, da wird das Wort "Genosse" erklärt. Ich weiß nicht, mögen Sie ständig Genosse Björn genannt werden?
Böhning: Umgekehrt ist auch richtig: Ich erlebe gerade bei jungen Menschen, … Wir hatten am Samstagabend eine große Party auch der Jusos, wo mehrere 100 junge Menschen dort waren, und die natürlich dann auch Traditionen von Arbeiterliedern und anderen Dingen bewahrt haben. Aber richtig ist auch: Die Tradition ist nicht historisiert im Sinne davon, dass man sich immer an 146 Jahre erinnert, sondern die Grundwerte, die wir haben – Solidarität, Freiheit, Gerechtigkeit – müssen auf die Höhe der Zeit gebracht werden, und daran müssen wir jetzt in den nächsten Jahren arbeiten.
Timm: Gustav Mahler sagte mal, Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche. Vielleicht merkt die Generation 2.0 schlicht nichts vom Feuer.
Böhning: Ich glaube, dass in der Tat die SPD nicht da genug am digitalen Lebensgefühl der jungen Generation ist. Das hat auch was mit politischen Entscheidungen, zum Beispiel bei den Netzsperren, zu tun, und wir müssen uns jetzt anders aufstellen. Junge Menschen sind gewöhnt, sich im Internet zu bewegen, sie sind gewöhnt, zu kopieren, sie sind aber auch gewöhnt, mitzudiskutieren, und auch, dass dieser Rücklaufchannel akzeptiert wird und nicht nur Verlautbarung im Internet gemacht wird. Und ich glaube, an dieser Stelle sind wir zu schwach gewesen. Wir haben zu viel verlautbart und zu wenig aufgenommen.
Timm: Herr Sturm, Sie haben explizit darüber geschrieben in Ihrem Buch "Wohin geht die SPD?", auch über SPD und junge Leute, über "SPD-Folklore", das ist, soviel ich weiß, Ihr Ausdruck. Ja, merken die jungen Leute nichts vom Feuer, sehen die nur noch die Asche?
Sturm: Ach, das glaube ich nicht, das ist jetzt, glaube ich, auch ein bisschen vereinfacht. Ich finde auch richtig, dass die SPD sich ihrer Geschichte besinnt, ich meine, das war ja wirklich eine bedeutungsvolle Geschichte, die da hinter ihr liegt, und das gehört, glaube ich, schon auch dazu und man kann da sich ja auch begeistern, und vielleicht ist es ja auch bezeichnend, dass auf dem Parteitag jetzt, in Dresden gestern, die große Rede war von Erhard Eppler. Also, der hat da wirklich eine gute, tolle Rede gehalten, aber der Mann ist eben auch 82. Vielleicht zeigt das auch so ein gewisses intellektuelles, diskursives Defizit.
Mein Eindruck ist, dass die SPD einfach in den letzten Jahren doch auch so eine kulturelle Hegemonie verloren hat. Ich glaube, dass Frau Merkel und Frau von der Leyen da gerade bei jungen Leuten, bei jungen Frauen allzumal doch da ganz schön aufgeholt haben, und wenn man sich überlegt, wo finden die großen Debatten statt, wo finden inhaltliche Diskurse statt, wo findet intellektueller Austausch statt, dann denkt man nicht unbedingt an die SPD. Und wenn die SPD von Kultur spricht, dann sehe ich immer nur Günter Grass und Wolfgang Thierse und Klaus Staeck.
Timm: Sie haben es selbst gesagt: Ein 82-jähriger Vordenker hielt eine der wirklich bewegendsten Reden dieses Parteitags, und es tut der Hochachtung vor Erhard Eppler ja keinen Abbruch, wenn sich da ein junger Mensch fragt, was soll das denn, wie kann das gehen? Björn Böhning, Sie sind selber noch ziemlich jung. Wie muss denn die Partei sein, um Politik, um Parteipolitik als etwas Verheißungsvolles glaubhaft zu machen, nicht nur, sie zu verkaufen, sondern sie glaubhaft zu machen?
Böhning: Ja, ich glaube, dass Franz Müntefering schon recht hatte damit, dass die SPD nicht interessant genug war. Ich habe mal gesagt, die SPD ist nicht sexy genug, und das ist auch so. Wir haben zu wenig – da würde ich das von Daniel Sturm aufgreifen –, zu wenig Diskussionen, zu wenig Diskurse geführt, um die Zukunftsfragen zu beantworten: Was ist mit dem demografischen Wandel? Wie kriegen wir es hin beispielsweise, dass junge Menschen, die hoch ausgebildet sind, mit 25 Jahren aus der Uni kommen, drei Sprachen sprechen, vier Auslandsaufenthalte hatten, aber trotzdem keinen Job, wie kriegen wir es hin, deren Lebensrealität der Generation Praktikum nahezukommen, ihnen auch Sicherheit zu bieten? Und diese Diskussionen sind in der SPD in den letzten Jahren leider nicht mehr geführt worden. Und wer soll sich für die SPD begeistern, wenn die Fragen, die einen betreffen, gar nicht mehr gestellt werden?
Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen über die Möglichkeiten der SPD, an die Zukunft anzudocken, vor allem im Gespräch mit jungen Menschen. Björn Böhning, ist da Netzpolitik möglicherweise ein Schlüssel?
Böhning: Da bin ich ganz sicher. Wir brauchen eine neue sozialdemokratische Netzpolitik, die besteht aus drei Teilen. Das Erste ist: Wir wollen der Freiheit im Internet Vorrang gewähren, das heißt, wir wollen diejenigen jungen Menschen, die sich dort bewegen, ihnen auch die Möglichkeit geben, und zwar ohne Furcht vor staatlicher Kontrolle und Regulation. Zweitens, wir wollen auch mehr Datenschutz und Bürgerrechte. Die SPD ist nicht nur eine Rechtspartei, sie ist eine Bürgerrechtspartei. Wir stehen für demokratische Rechte in Deutschland ein und das muss deutlicher werden, als das vielleicht unter Stichworten wie Vorratsdatenspeicherung und anderen gewesen ist. Und drittens: Auch diejenigen, die sich dort im Netz bewegen, haben ja auch noch eine Offline-Welt, nämlich eine Welt, wo sie ihre Existenz begründen müssen, wo sie versuchen müssen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und gerade die Absicherung, die soziale Sicherung von Soloselbstständigen ist mir ein ganz besonderes Thema, das sind nämlich oft Internetarbeiterinnen und -arbeiter.
Timm: Jetzt klingen Sie aber auch so ein bisschen wie Ihre Parteivorderen, Björn Böhning. Herr Sturm, bei Twitter, wichtiges Medium bei jungen Leuten, erfahre ich aber auch nur, dass der Sigmar "saugut" war. Wenn man was erreichen will, müsste man ja auch handfeste Themen ins Netz bringen. Ist das überhaupt zu schaffen oder muss man warten, bis eine Generation aus Facebook wieder rauskommt?
Sturm: Ich weiß nicht, wie sich das weiterentwickelt, und das kann ja auch keiner absehen, welche Bedeutung diese Medien haben werden und wie sie sich entwickeln. Ich muss sagen, ich finde das, was da über Facebook und Twitter stattgefunden hat und was man so mitbekommt – irgendwelche zweitrangigen SPD-Politiker, die dann also Twitternachrichten versenden, in denen es heißt, ich lande gleich in Frankfurt oder ich hole mir einen Kaffee –, das ist, glaube ich, nicht das, was die SPD jetzt stark macht. Da muss die SPD jetzt einfach mal auch das Potenzial von jungen Leuten abfragen und auch mal mit ihnen einfach reden und sie fragen und vielleicht da auch mal irgendwie ein Gespräch führen oder einen großen Kongress zu diesem Thema machen. Das kann man ja nicht immer nur zu irgendwelchen Jubiläen oder so machen, dass man sich da wirklich auch Sachverstand holt. Ich glaube auch einfach, dass es der SPD-Führung bislang einfach an Kenntnissen gefehlt hat. Es gab im Sommer eine Ausgabe der Parteizeitung "Vorwärts" mit dem Titelbild, da war also Franz Müntefering zu sehen, wie er seine alte Schreibmaschine namens Gabriele oder Erika hält, …
Timm: Gabriele.
Sturm: … Gabriele, und er steht da vor einer dicken, alten Eiche, und ich fand, das war diese Ikone dieser abtretenden SPD-Führung. Das war eigentlich im Grunde ein ganz fatales Bild und eben auch eine Metapher für das, was da stattgefunden hat und ich glaube, da muss jetzt einfach in den großen Städten und in dieser Community muss die SPD mit diesen Leuten verhandeln und sprechen und in Kontakt treten.
Timm: Und wahrscheinlich stand der Artikel gar nicht online, oder, Herr Böhning?
Böhning: Ich befürchte, er stand online, denn es haben ihn viele gelesen und wahrgenommen, insofern …
Sturm: Das Foto gibt es auch im Netz.
Böhning: Das Foto gibt es auch im Netz. Ja, das ist schon richtig, das ist einfach eine dramatische Entwicklung gewesen.
Timm: Aber diese Debattenkultur, die Sie ja sehr anmahnen, die führt natürlich auch dazu, dass jemand, der sich für die SPD interessieren könnte, erst mal weiß: Ich muss erst mal ungefähr 20 Jahre durch den Ortsverein, durch die Parteisitzungen, und wenn dann von meinen Idealen irgendwas noch übrig geblieben sein sollte, dann werde ich vielleicht mal wirklich für eine Aufgabe gewählt. Ist der Gang durch die Institutionen in den Parteien, in den klassischen Parteien – das bezieht sich vielleicht gar nicht mal nur auf die SPD –, ist der einfach zu lang?
Böhning: Ja, das hat was mit Sexiness zu tun, wie ich vorhin sagte. Wir haben zu lange darauf gesetzt, dass man erst mal fünf Jahre Plakate kleben muss, um überhaupt mal in eine Funktion zu kommen und dann auch weiterzukommen. Und jemand, der sich mit Netzpolitik beschäftigt, nehme ich mal an, in der SPD, der hat gar keinen Zugang. Im Ortsverein wird da kaum drüber diskutiert, auch auf der Landesebene kaum, und da brauchen wir sicherlich andere Organisationsformen, ihnen aber auch die Möglichkeit geben, zu sagen, kommt mit, nicht nur mitarbeiten, sondern nehmt jetzt auch Verantwortung wahr.
Timm: Und Sie wären auch selber gern zumindest der Zweitjüngste im Parteivorstand, oder?
Böhning: Ich wäre auch selber gern der Zweitjüngste, ich wäre auch gern der Fünftjüngste im Parteivorstand. Ich glaube, wichtig ist in der Tat, dass wir uns jüngeren Leuten da stärker öffnen und sie für die Mitarbeit in der SPD begeistern. Das heißt aber, um gleich zu sagen, war hier die Frage Twitter und Facebook: Ich glaube auch, es liegt nicht am Facebook-Profil, ob die SPD gut ist im Internet oder nicht, es liegt daran, dass wir einen Rücklaufchannel brauchen. Eine SPD muss sich öffnen, muss sagen: Wir wollen auch die Meinung derjenigen, die draußen sind, und wir wollen nicht nur unsere Meinung aufgeben.
Timm: Ich glaube, wir sehen uns in einem Jahr noch mal wieder und ziehen dann erste Bilanz. Zum Schluss dürfen Sie beide aber noch mal ganz kurz rechnen, Tucholskys Rechenaufgabe vom Beginn unseres Gesprächs. Eine sozialdemokratische Partei hat in acht Jahren null Erfolge. In wie viel Jahren merkt sie, dass die Taktik verfehlt war? Herr Sturm?
Sturm: Ich glaube, in den nächsten zwölf bis 16 Wochen.
Timm: Herr Böhning?
Böhning: Wir haben jetzt auf dem Parteitag einen Neuanfang gewählt und ich würde sagen, in vier Jahren sind wir gut dabei.
Timm: Vier Jahre, das ist auch sehr mittelfristig geplant. Ich danke Ihnen beiden, Daniel Friedrich Sturm und Björn Böhning im Gespräch mit dem Radiofeuilleton über die SPD und junge Leute in der SPD. Vielen Dank!