SPD-Islambeauftragte gegen Verschärfung des Jugendstrafrechts

Moderation: Jörg Degenhardt · 19.04.2006
Die Islambeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Lale Akgün, hat sich gegen ein verschärftes Jugendstrafrecht in Deutschland ausgesprochen. Im Hinblick auf die Diskussion nach dem Urteil im Mordfall Sürücü sagte sie, zehn Jahre Höchststrafe für Jugendliche seien in Ordnung. Zugleich wies sie die Forderung nach der Abschiebung der Familie Sürücü zurück. Es sei falsch, die ganze Familie in "Sippenhaft" zu nehmen.
Jörg Degenhardt: Lale Akgün ist nun meine Gesprächspartnerin. Sie ist die Islambeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion und hält sich zurzeit in der Türkei auf. Einen Guten Morgen, wünsche ich Ihnen.

Lale Akgün: Guten Morgen.

Degenhardt: Wie viel Aufmerksamkeit findet eigentlich der Fall Sürücü und die Diskussion um sie in Deutschland in den türkischen Medien?

Akgün: Der Fall Sürücü wird auch hier in den Medien dargestellt, vielleicht nicht in dem Umfang wie in Deutschland, aber Sürücü ist auch hier ein Thema, nämlich genau mit den Themen, die Sie eben angesprochen haben, also man verfolgt die Sache hier auch sehr aufmerksam und beurteilt das in der Öffentlichkeit nicht anders als in Deutschland auch.

Degenhardt: Die Vorsitzende des Ehrenmorduntersuchungsausschusses im türkischen Parlament hat nun Deutschland aufgefordert, die Gesetzte zu verschärfen. In der Türkei wäre der Täter, also der jüngste Bruder von Hatun Sürücü, zu 15 bis 20 Jahren Haft verurteilt worden, sagt sie. Ist unsere Justiz, also die in Deutschland hier, zu lasch oder an der falschen Stelle, möglicherweise, tolerant.

Akgün: Nein, das sind Jugendgesetzte. Schauen Sie, immer, wenn irgendwas passiert, schreien alle Leute, dass die Gesetzte verschärft werden müssen. Wir müssen uns die Frage stellen, wollen wir eigentlich für Jugendliche von der Höchststrafe für zehn Jahre abgehen, wollen wir höhere Strafen. Ich persönlich denke, gerade wenn man dran denkt, wie die Rehabilitation für Jugendliche aussehen sollte, sollten wir schon dabei bleiben. Ich finde, die Türkei sollte ihre Gesetz an unsere anpassen und für Jugendliche nicht mehr als zehn Jahre Höchststrafe verlangen.

Degenhardt: Das heißt, wünschen Sie sich nun eine Verschärfung des Urteils des Berliner Landgerichts im Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof oder nicht?

Akgün: Nein, wir haben für Jugendliche eine Höchststrafe von zehn Jahren. Ich glaube, das ist in Ordnung und ich glaube, man muss sich eins klar machen: Immer wieder stehen Leute auf und sagen, in dem Fall müssen wir anders, wir können keine Lex Sürücü schaffen. Wir sind ein Rechtsstaat, es muss für alle Leute das gleiche Recht gelten, das finde ich völlig in Ordnung. Wenn wir sagen, wir haben für Jugendliche nicht mehr als zehn Jahre Höchststrafe, müssen wir für alle dabei bleiben. Und ich finde, dass in der Türkei die Höchststrafen für Jugendliche zu hoch sind. Sie sollten die Strafen eigentlich unseren anpassen und für Jugendliche nicht mehr als zehn Jahre Strafe verlangen.

Degenhardt: Frau Akgün, soll die Familie Sürücü Deutschland verlassen, weil sie die Werte unserer Rechtsordnung ablehnt, was meinen Sie?

Akgün: Ich glaube, dass der Fall Sürücü für uns eine, verstehen Sie das nicht falsch, es ist ein schlimmer Fall, aber, es ist zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gedrungen, was da passiert und es hat die Öffentlichkeit erreicht. Insofern denke ich, hat der Fall Sürücü sogar für die Integration etwas getan, weil dadurch, dass dieser Fall öffentlich geworden ist, ist es so, dass jetzt auch ein Schutz für Opfer da ist. Je mehr Öffentlichkeit in solchen Fällen da ist, um so mehr gibt es Schutz für mögliche zukünftige Opfer. So finde ich, ist der Fall zwar sehr schlimm, aber die Aufmerksamkeit, die der Fall bekommen hat, finde ich sehr positiv für die Entwicklung in unserem Land. Das heißt, wir sind jetzt sehr aufmerksam, wir sind sehr sensibel für Dinge, die passieren, im Namen der Ehre passieren.

Ich glaube, an der Stelle muss man auch noch mal drüber nachdenken, dass das Konstruktionen sind, über die wir auch nachdenken müssen, wir sollten nicht unreflektiert die Konstruktion dieser Leute übernehmen, von wegen Ehre, ich glaube, dass da noch ganz andere Dinge dahinter stecken, aber insgesamt kann man jetzt nicht sagen, die Familie soll Deutschland verlassen. Das wäre Sippenhaft, wir haben keine Sippenhaft, Gott sei Dank. Ich wiederhole noch mal, wir sollten nicht anfangen, bei bestimmten Fällen andere Gesetzte anwenden zu wollen als überlicherweise. Wir sind ein Rechtsstaat und es gelten alle Gesetzte für alle gleichermaßen.

Degenhardt: Sie haben, Frau Akgün, von der Entwicklung in unserem Land in diesem Zusammenhang gesprochen, der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz Kardinal Karl Lehmann, hat einen grundsätzlichen Neuanfang bei der Integration von Migranten in Deutschland gefordert. Geht das überhaupt noch?

Akgün: Nein, ein Neuanfang, glaube ich, ist nicht möglich, weil Integration an und für sich ein Prozess ist. Aber ich finde den Vorschlag von Kardinal Lehman insofern gut, als dass wir mal anhalten, nachdenken und wirklich über die Konzepte auch nachdenken sollten, die wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten angewandt haben und uns mal Gedanken machen müssen, waren unsere Konzepte erfolgreich und an welchen Stellen waren sie wenig erfolgreich. Und ich meine im Bereich der Bildung waren sie sehr wenig erfolgreich.

Degenhardt: Was folgt denn daraus?

Akgün: Daraus folgt, dass wir uns eigentlich an der Stelle Gedanken machen müssen, wie wir zukünftig mit Integration umgehen. Ich glaube, wir sollten uns auch nicht in diese so genannten Kulturfallen reinziehen lassen. Ich finde das Wort allein Ehrenmord ist eine so genannte Kulturfalle. Wir lassen uns hier von den Tätern Dinge aufoktroyieren, Interpretationen aufoktroyieren, die meiner Meinung nach [nicht] richtig sind. Wir haben es hier mit frustrieren jungen Männern zu tun, die in ihrem Hass bis zum Mord gehen können und dann überdecken sie ihre Taten mit dem Begriff der Ehre. Das akzeptiere ich nicht und ich glaube, wir sollten uns an der Stelle auseinandersetzen. Ich glaube, wir haben uns zu lange immer wieder in die Kulturfalle reinlocken lassen insofern, als dass wir alle Nichtentwicklungen immer auf die Kultur zugeschoben haben, auf die unterschiedlichen Kulturen und gesagt haben, der Respekt vor Kulturen verlangt, dass man nicht dahinter guckt. Ich glaube, wir sollten uns viel mehr mit der sozialen Frage beschäftigen. Da meine ich, haben wir große Defizite.

Degenhardt: Meine Gesprächspartnerin war Lale Akgün, sie sitzt für die SPD-Bundestagfraktion im Parlament und ist dort die Islambeauftragte. Vielen Dank für das Gespräch.