SPD-Fraktionsvize: Große Koalition ist eine "Erfolgsgeschichte"
Die Große Koalition ist nach Meinung des stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Ludwig Stiegler, eine "Erfolgsgeschichte". Am politischen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung zeige sich die sozialdemokratische Handschrift, sagte Stiegler.
Deutschlandradio Kultur: Herr Stiegler, wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welche würden Sie gern zuerst hören?
Ludwig Stiegler: Ich nehme erst die schlechte.
Deutschlandradio Kultur: Die schlechte Nachricht ist, dass in der Wählergunst der Bayern die Sozialdemokraten zwischen mageren 18 und 22 % pendeln, die CSU aber zwischen 54 und 58 % - so sagen die Wahlforscher. Deprimiert Sie das?
Ludwig Stiegler: Nein, weil die Wahlforscher in aller Regel nicht recht haben. Wir haben es bei der letzten Bundestagswahl gesehen. Und siehe da, am Sonntag hat in meiner Heimatstadt Weiden die SPD mit 60:40 den Oberbürgermeisterposten nach 31 Jahren neu errungen. Die CSU ist in irgendwelchen Umfragen sämtlich oben, aber die Wahlen gewinnen wir.
Deutschlandradio Kultur: Auf kommunaler Ebene. Wie das auf Landesebene sein wird, wollen wir mal sehen.
Ludwig Stiegler: Das werden wir sehen. Aber wenn selbst der Münchner Merkur inzwischen schreibt, dass es "im Unterholz der CSU modert", dann sage ich Ihnen: Diese ganze Gaudi, die die uns seit einem halben Jahr vorführen, bleibt nicht im Anzug stecken und die wird sich auf die Wählerstimmung auswirken. Aber noch haben wir ein Jahr Zeit.
Deswegen gibt es keinen Grund, irgendwie unruhig zu sein, sondern nur zu sehen, wie die CSU wirklich vermodert, sich zerstreitet. Wo Sie hinschauen in Bayern, in den größeren Ortschaften – ob in Regensburg oder in Würzburg, in Coburg oder wo auch immer – gibt es Hader und Krach. Deswegen ist für mich die alte CSU nicht mehr das, was sie 2002 oder 2005 war, sondern sie ist eine sich auflösende Veranstaltung.
Deutschlandradio Kultur: Das wäre ja eine gute Nachricht, aber wir haben ja noch eine zweite gute Nachricht. Die sieht folgendermaßen aus: Wenn am Sonntag in Bayern Wahlen wären, würde es die Linke – also diese Lafontaine-Bisky-Truppe – nicht schaffen, in den Landtag zu kommen. Das freut Sie sicherlich?
Ludwig Stiegler: Das habe ich nie anders erwartet. Es gibt ein paar Regionen, da sind die stark, weil ein paar Gewerkschaftssekretäre die hier gegründet haben, aber ansonsten nehmen die Bayern von der Linken kaum Notiz. Man muss auch sehen, die Hälfte der CSU-Wähler sind noch Arbeitnehmer. Das ist meine Zielgruppe und nicht die, die da nach links außen abdriften. Das ist nicht meine Hauptzielgruppe und die werden auch in Bayern, wo die Menschen vernünftig sind, wenig erreichen.
Deutschlandradio Kultur: Gesetzt den Fall, Sie haben recht, dass die innere Lage der CSU durchschlägt, dann geht es ja vielleicht nicht um 58 % CSU bei den Wahlen im kommenden Herbst, sondern um 50, um 48 %. Und die SPD ist nach wie vor in einer Lage, wo sie – jedenfalls auf dem letzten Landesparteitag – von Ihnen aufgefordert werden musste, am Regieren mehr Lust zu haben.
Ludwig Stiegler: Das ist eine andere Frage. Da haben wir ja noch einiges zu tun. Unser Ziel ist klar, die CSU unter 50 % wie bei der Bundestagswahl, aber dazu muss die SPD sich auch anstrengen. Ich habe dort in der Tat gesagt: Wenn man in Bayern regieren will, darf man über die Regierungsverantwortung in Berlin nicht motzen. Das wäre ja ein komisches Verhalten, wenn man so um Regierungsverantwortung kämpft und dort, wo man sie hat, sie gering erachtet oder unter den Belastungen des schweren Rucksacks in die Knie geht.
Sondern man muss dann schon mit aufrechtem Gang seiner Regierungsverantwortung gerecht werden. Ich habe zum Beispiel gerade in der Weidener Wahl ja exemplarisch erfahren, dass da ein junger Kandidat, unbelastet von all den Blicken nach Berlin oder nach München, an die Arbeit gegangen ist und gesagt hat, "ich bin der Oberbürgermeister für Weiden und ich lasse mich da von nichts ablenken."
Und siehe da, er hat ein grandioses Ergebnis eingefahren. Das ist es, wofür ich als Landesvorsitzender bei der SPD kämpfe, dass man wirklich nicht auf die Zehenspitzen schaut, sondern eben geradeaus, und dass man zu seiner Verantwortung auch bei schwierigen Fragen steht. Das müssen wir schaffen. Wenn wir das nicht schaffen, dann sind wir auch nicht wert zu regieren.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt: "Auf den Erlöser braucht die SPD in Bayern nicht zu warten. Das müssen sie schon aus eigener Kraft schaffen." Dann nennen Sie uns doch mal drei Gründe, warum sich möglicherweise bei den nächsten Landtagswahlen die Wähler in Bayern für die SPD entscheiden sollen.
Ludwig Stiegler: Schauen Sie, wir haben in Bayern gerade eine große Bildungsdebatte – die Ganztagsbetreuung, die Kleinkinderbetreuung. Das hat die Zukunftskommission der Staatsregierung empfohlen. Und wie wir erfahren haben, soll der Stoiber zu dem Professor Henzler bei der Übergabe des Gutachtens gesagt haben: "Aber das sind ja SPD-Vorschläge!". Und er Henzler soll gesagt haben: "Ja, aber sie sind richtig!" Und wir können den Bayern mit Stolz sagen: Wenn ihr schon vor zehn Jahren auf uns gehört hättet, dann hätten wir die heutigen Probleme nicht.
Das müssen wir den Menschen einfach nahe bringen. Da sind wir oft zu zurückhaltend. Wir meinen, wenn man was zwei, drei mal sagt, dann sei es schon gesagt, dann wird es schon langweilig. Aber die Wahrheit ist: Wenn wir als Politiker bestimmte Themen nicht mehr hören können und schon Schreikrämpfe kriegen, wenn wir das Thema wieder behandeln müssen, erst dann beginnt die Mehrheit der Bevölkerung so eine Thema überhaupt wahrzunehmen. Was wir brauchen, ist dann mehr Festigkeit und mehr Stetigkeit, und zwar in der Breite.
Wir hatten in der Vergangenheit oft so diesen Hang, wir warten auf einen Spitzenkandidaten, ob der Dr. Vogel hieß oder Renate Schmidt oder Karl-Heinz Hirsemann oder wer auch immer, und die würde für uns – quasi stellvertretend – das alles erledigen. Ich war immer gegen eine solche Strategie und habe eben nach dem alten Lied gesagt: "Uns aus dem Elend zu erlösen, können nur wir selber tun und nicht ein Gott, ein Kaiser, noch ein Tribun."
Deutschlandradio Kultur: Sie sind nicht nur Landesvorsitzender der SPD in Bayern, sondern auch Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Hier in Berlin regieren Sie mit, aber es scheint, die Stimmung ist nicht gut. Sind Sie koalitionsmüde?
Ludwig Stiegler: Überhaupt nicht. Es ist zurzeit eine mediale Situation, dass man bei der Halbzeitbilanz sagt, die Gemeinsamkeiten sind verbraucht und was auch hin oder her. Dabei geht völlig unter, dass wir eben mit unserer Wirtschaftspolitik die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung gebracht haben. Es ist leider Gottes so, dass viele den politischen Anteil an dem Aufschwung gar nicht wahrnehmen, weil wir ihn auch zu wenig ansprechen.
Ich nehme nur ein Projekt. Die energetische Gebäudesanierung hat im letzten Jahr über einen Prozentpunkt zum Wachstum beigetragen. Dann die steuerlichen Vergünstigungen für die Ausrüstungsinvestitionen und die steuerliche Handwerksförderung, das ist alles auf dem Mist der SPD gewachsen. Die CSU hatte nur den Bierdeckel von Friedrich Merz und da stand nicht viel drauf.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie würden sagen, die Große Koalition in Berlin ist eine Erfolgsgeschichte?
Ludwig Stiegler: Sie ist bisher eine Erfolgsgeschichte – ökonomisch. Auch bei wichtigen Reformen ist sie eine Erfolgsgeschichte. Wenn ich den Alltag sehe, sowohl die schwarz-blau-gelbe Koalition als auch die rot-grüne Koalition war ja keine Harmonieveranstaltung. Und wenn ich mein persönliches Leben anschaue, dann habe ich mit den Grünen in den Nächten länger verhandelt, als ich mit den schwarzen Brüdern und Schwestern verhandeln muss. Also, es ist immer so: Wenn unterschiedliche Kräfte zusammenkommen, gibt es eben nicht sofort Ergebnisse, sondern muss man Geduld und Ausdauer haben. Vor dem Hintergrund jedenfalls, sage ich, ist die Große Koalition nicht zu verachten.
Deutschlandradio Kultur: Dann hat ja Frank-Walter Steinmeier recht, wenn er sagt, es könnte sein, dass nach den Wahlen wieder eine Große Koalition wegen der Mehrheitsverhältnisse ansteht. Die SPD sollte vorsichtig sein, wann sie die Tür zuschlägt und sagt, die Große Koalition sei verbraucht.
Ludwig Stiegler: Ich bin in der Tat der Meinung, dass man beim Wähler vor Überraschungen nicht sicher ist. Das haben wir bei der letzten Bundestagswahl gesehen. Alle Leute haben ja nicht auf eine Große Koalition gesetzt, weder die Schwarzen, noch wir, aber der Wähler hat sie uns in seiner Güte eben aufgegeben. Und es hat keinen Sinn, wenn man vor einer sozusagen unabwendbaren Aufgabe steht, dass man sie missmutig macht, sondern ich bin da einer der sagt, das packen wir an. Jetzt machen wir das.
Und dann müssen wir aber unseren fairen Anteil einfordern. Daran hapert es bei der SPD momentan noch. Deshalb glauben viele, in einer Großen Koalition könne man nur verlieren, und wollen deshalb so schnell wie möglich raus. Ich erinnere aber, bei der ersten Großen Koalition waren am Ende wir die Sieger 1969, als die Leute gesehen haben, der Willy Brandt und der Karl Schiller und die alle haben ihre Aufgabe gut gemacht. Und am Ende gab es eben die erste sozial-liberale Koalition.
Das war damals eine selbstbewusste SPD. Und das verlange ich von meiner Partei auch, dass wir zu diesem Selbstbewusstsein zurückfinden. Diese larmoyanten Ausstiegsszenen bringen nix letzten Endes, weil die Leute nur sagen, ja, mein Gott, wenn die schon so jammern, dann kann an der Geschichte doch gar nix dran sein.
Deutschlandradio Kultur: Wollen wir es mal sportlich angucken. Es ist im Moment Halbzeit. In der zweiten Halbzeit kann man noch mal richtig Gas geben. Welche Projekte möchten Sie denn in den nächsten zwei Jahren mit der Großen Koalition in Berlin und für den Bund umsetzen?
Ludwig Stiegler: Wir haben zum Beispiel das große Thema Mindestlohn, das ist ein Riesenprojekt, und dass wir das Arbeitnehmerentsendegesetz ausweiten, dass wir das Gesetz über die Mindestarbeitsbedingungen revitalisieren, so dass dann am Ende Arbeit und menschliche Würde wieder zusammenkommen und die Menschen nicht Angst haben vor dem Fall ins Bergfrei, ein Riesenprojekt, was wir da miteinander angehen müssen.
Deutschlandradio Kultur: Wo der Partner auch mitmacht?
Ludwig Stiegler: Wo der Partner sträubend und widerstrebend mitmacht, aber wo wir ihn wie einen störrischen Ziegenbock doch ein stückweit vorangezogen haben und wo die öffentliche Diskussion sicherlich noch manche Bewegung befördern wird.
Deutschlandradio Kultur: Die CDU möchte gerne die Diskussion um die Steuersenkungen im Herbst in die Diskussion in der Fraktion und auch in der Koalition bringen. Sind Sie für Steuersenkungen?
Ludwig Stiegler: Ich bin erst einmal dafür, dass wir den Haushalt konsolidieren. Wenn Sie sich heute anschauen, was sich an den Finanzmärkten, was sich an der Börse abspielt, dann könnte manche Rechnung mit sprudelnden Steuereinnahmen ohne den Wirt der Weltwirtschaft gemacht sein. Deshalb bin ich dafür, dass wir uns konsolidieren, dass wir uns für konjunkturelle Rückschläge wappnen. Und wenn dann noch irgendwelche Spielräume vorhanden sind, dann kann man auch darüber reden, aber so weit sind wir noch längst nicht.
Der Bundeshaushalt bedarf nach wie vor der Nettokreditaufnahme. Deshalb sind alle diese Übungen zwar verständlich, weil sich die Leute halt da einschmeicheln wollen. Wer möchte denn keine Steuersenkungen? Ich würde liebend gern ein allgemeines Steuersenkungsprogramm verkünden, aber ich bin zur Realität und zum Realismus verpflichtet. Deshalb, denke ich, ist die Hauptaufgabe jetzt: konsolidieren, investieren.
Wir haben Riesenaufgaben etwa in dem nächsten Projekt der Energieeffizienz. Hier brauchen wir, etwa zur energetischen Gebäudesanierung aller öffentlichen Gebäude, aber auch der Gebäude der Wirtschaft, eine ganze Menge an Anstrengungen, die finanziert werden müssen, die dann nachhaltig wirken und etwa die Kosten für Heizung und Warmwasser oder ähnliches senken werden. Also, wir haben erst die Aufgaben zu erfüllen. Dann, wenn wir die Aufgaben erfüllt haben, kann man auch wieder an andere Dinge denken.
Deutschlandradio Kultur: Solidarzuschlag ist auch kein Thema für Sie?
Ludwig Stiegler: Der Solidarzuschlag ist für mich kein Thema, denn die Aufgabe "Deutsche Einheit" ist längst nicht erledigt.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie jetzt bei der Steuersenkungsdiskussion keine Spielräume sehen, weil sie sagen, Haushaltskonsolidierung hat erste Priorität, wie sieht es denn beispielsweise aus, wenn bei der Arbeitslosenversicherung Spielräume drin wären? Da könnte man ja den kleinen Mann auch entlasten, indem man ihm sagt, o.k., wir gehen etwas runter, dann hast du noch ein bisschen mehr in der Tasche.
Ludwig Stiegler: Das wäre schön, aber auch da sage ich: Vorsicht an der Beitragskante. Denn wenn sich der Arbeitsmarkt wieder drehen sollte, etwa im Zuge einer Verschlechterung der Weltwirtschaft, dann hat die Bundesagentur mehr Ausgaben und weniger Einnahmen. Dann schmilzt das, was jetzt als Überschuss da ist, dahin wie der Schnee in der Sonne.
Deshalb bin ich dafür, dass die Bundesagentur erst einmal eine Konjunkturrücklage von etwa 10 Milliarden aufbaut, die sie dann eben beim nächsten zyklischen Abschwung in die Lage versetzt, ohne Bundeszuschüsse zu handeln und ohne Beitragserhöhungen, die ja dann pro zyklisch wären, zu handeln, sondern eben mit der Auflösung der Rücklagen antizyklisch zu handeln. Das ist das eine. Das zweite: Die Bundesagentur hat etwa 8 Milliarden Beträge für die Altersversorgung ihrer Mitarbeiter noch nicht finanziell gesattelt. Auch die müssen bei guter Einnahmesituation erst einmal gesattelt werden.
Und dann haben wir gesagt: Wir wollen den Arbeitgebern, die überdurchschnittlich ausbilden uns sich bei den jungen Leuten engagieren, eine Beitragssenkung geben. Ich stelle immer fest, bei der Union, aber auch bei vielen anderen Menschen ist dieses Von-der-Hand-in-den-Mund-leben unheimlich angesagt. Die tun so: Heute schaut es gut aus und wir rechnen die heutige Situation hoch. Da werden Überschüsse errechnet, die im Jahre 2011 theoretisch anfallen. Die haben wir aber noch längst nicht in der Kasse.
Und ich bin dagegen, dass wir von der Hand in den Mund leben, sondern wir uns in einer zunehmend unsichereren Welt mit wirklich dunklen Wolken an den Horizonten der Finanz- und Kapitalmärkte für die nächste Schlechtwetterperiode wappnen und nicht praktisch unser Saatgut jetzt verfrühstücken.
Deutschlandradio Kultur: Dieser Teil der Vorsorge klingt ja solide, aber der zweite Teil, die Bundeszuschüsse lieber in die Krankenversicherung zu stecken, klingt ja wieder wie ein Hin- und Hergeschiebe.
Ludwig Stiegler: Was heißt "Hin- und Herschieben"? Ich stelle jetzt fest: Wir haben bei der Arbeitslosenversicherung die Möglichkeit, dass sie sich selber finanziert, dass sie ihre Aufgaben selber finanziert. Trotzdem haben wir ja die Beiträge gesenkt. Wir sind jetzt bei 3,9. Das ist ja ein enormer Schritt, den wir hier gemacht haben. Und wenn sich dann herausstellt, man braucht ihn nicht mehr, dann sind es zunächst einmal allgemeine Haushaltsmittel. Und dann habe ich ja mehrere Themen genannt, ob nun Bildung oder Forschung oder die Gesundheit oder die Pflege...
Deutschlandradio Kultur: Aber sie könnten ja stärker senken …
Ludwig Stiegler: Mir geht es nur darum, dass man jetzt nicht vorschnell die Beiträge senkt und hinterher beim nächsten Abschwung sofort wieder vor der Frage steht: Muss der Steinbrück einspringen oder müssen die Beiträge erhöht werden? Beides wäre Gift in einer Abschwungphase. Deshalb bin ich so stark dafür, dass wir eine Rücklage von 10 Milliarden aufbauen, die dann hier verfeuert werden kann, um praktisch in einem konjunkturellen Abschwung die Arbeitslosenversicherung antizyklisch fahren zu können und nicht hier pro zyklisch handeln zu müssen.
Deutschlandradio Kultur: Das würden Sie 1:1 umsetzen, wenn Sie alleine regieren würden. Das tun Sie nicht. Sie regieren in einer Großen Koalition. Sie haben gesagt, die Union würde im Moment eher gerne verfrühstücken, was sie gerade bekommt. Gibt es überhaupt Kompromisslinien in diesen grundsätzlichen Fragen, wo Sie sagen, o.k., da gehen wir gemeinsam den Schritt weiter mit dieser guten Zusammenarbeit, von der Sie gesprochen haben?
Ludwig Stiegler: Bei der Union gibt es jedenfalls die Haushälter, die durchaus für eine Konjunkturausgleichsrücklage zu gewinnen sind. Aber bei der Union gibt es auch welche, die die Vorsorge für die Altersprobleme bei der Bundesagentur mit tragen werden, so dass wir dann am Ende uns über die Frage unterhalten werden, wie viel Geld es kostet, wenn wir die Arbeitgeber entlasten, die über den Bedarf und überdurchschnittlich ausbilden, und dass man solche Fragen dann macht. Und wenn es dann am Ende irgendeinen Kompromiss gibt, der noch einen Tick herunter geht, dann geht für mich die Welt auch nicht unter.
Ich möchte nur sicherstellen, dass wir nachhaltig arbeiten. Und das muss eine große Koalition können, dass wir jedenfalls diesen Bereich unseres Sozialsystems wetterfest machen.
Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal auf diese Diskussion über Steuerentlastung zurückkommen. Da war die Agenda 2010. Gerhard Schröder hat es mit Rot-Grün gemacht und es hat mittlerweile möglicherweise Früchte getragen. Wir haben den Aufschwung. Warum soll das falsch sein, was unter Schröder möglicherweise richtige war?
Ludwig Stiegler: Die Agenda 2010 oder die Arbeitsmarktreform war richtig. Sie war nur damals nicht im richtigen konjunkturellen Zeitpunkt. Sie war ja 2002 in einem von den Instituten vorausgesagten immerwährenden Aufschwung konzipiert. Dann kam, wie bekannt, die Dot-Com-Börsenkrise mit all den wirtschaftlichen Verwerfungen und Wachstumsverlusten. Jetzt, wo die Konjunktur endlich durch diese Maßnahmen der Großen Koalition und durch die Weltwirtschaft in Gang gekommen ist, jetzt kann die Arbeitsmarktreform auch schwimmen. Sie haben auch gestern an den Zahlen gesehen, es geht ja nicht nur quasi am ersten Arbeitsmarkt, sondern auch die Langzeitarbeitslosigkeit beginnt sich – wenn auch langsam und zäh – aufzulösen.
Deswegen ist diese Reform richtig, nach wie vor, aber sie hat unglaublich viel Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil in den ersten Jahren das Fördern nicht stattfinden konnte, sondern nur das Fordern angesagt war. Und bis diese Glaubwürdigkeitslücke, die wir praktisch durch die Wirtschaftskrise 2002 bis 2005, 2006 hatten, überwunden ist, das dauert einige Zeit. Heute ist es immer noch so, dass Hartz IV in vielen Arbeitnehmerherzen ein Schreckenswort ist und ein Drohwort. Bestimmte politische Kräfte tun ja alles, um das auch noch zu bestärken.
Deshalb muss man sich nicht wundern, wenn die Hartz-Reform nicht unbedingt zu unseren geliebten Projekten gehört. Aber heute kann man sagen, das Instrument, das damals für einen Aufschwung konzipiert war, wirkt jetzt – zeitlich versetzt – im neuen Aufschwung zu unserer vollen Zufriedenheit.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem haben Sie die Linke an ihrer Seite, auch als Reaktion auf die Agenda 2010. Mit der müssen Sie leben.
Ludwig Stiegler: Mit der müssen wir leben, aber ich halte es da eher mit den Berlinern – nicht mal ignorieren. Weil mit diesen Leuten kann man keinen Staat machen. Das ist jetzt diese Berliner Situation. Diese ostdeutsche Situation ist was anderes. Da hat man eben die Grundbefindlichkeiten der Bevölkerung zu achten, aber in Westen sind da – wie wir Bayern sagen – Kaperer* vertreten, Trotzkisten, Maoisten und Marxisten, Leninisten, jedenfalls alles Leute, die alles können, nur nicht Verantwortung tragen. Da müssen wir uns klar, wo es erforderlich ist, abgrenzen. Aber ansonsten sage ich: nicht mal ignorieren. Wir müssen unsere Arbeit tun und nicht da nach links schielen.
Deutschlandradio Kultur: Die Meinungsforscher sagen, dass selbst SPD-Mitglieder sagen, Oskar Lafontaine und die Linke haben ja recht, wenn sie auch übertreiben, aber im Wesentlichen haben sie in ihren Argumenten recht.
Ludwig Stiegler: Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Es gibt in der Tat bei uns viele, die diese Sehnsüchte haben. Und es ist eine der Hauptaufgaben der SPD-Führung, dass wir unsere Mitglieder und Anhänger praktisch voll auf dem Boden der Realitäten verankern.
Deutschlandradio Kultur: Und wenn Sie dann sagen, "die Linke ignorieren", machen Sie es sich da nicht einfach zu einfach? Irgendwann müssen Sie sich mit der Partei auseinandersetzen.
Ludwig Stiegler: Also, ich will jetzt mal als bayerischer Landesvorsitzender sagen: Sie haben am Anfang selber festgestellt, in Bayern spielt das keine Rolle. Wenn ich jetzt in Berlin leben würde oder in Ostdeutschland, dann wäre die Position eine völlig andere. Ich rede aber jetzt von Westdeutschland und rede vor allem als bayerischer Landesvorsitzender. Und da würde man denen viel zu viel Ehre antun. Wenn ich in Bayern erfolgreich sein will, muss ich der CSU die Arbeitnehmerwähler abjagen, nicht die paar, die da nach links außen abschwirren. Die machen das Kraut nicht fett.
Deutschlandradio Kultur: Da muss man ja manchmal was Populäres fordern. Es gibt die Forderung auch aus Ihrer Fraktion, die Sozialhilfesätze, die Sätze von Hartz IV nun anzuheben, einzig und allein, weil die Nahrungsmittelpreise steigen. Ist das sinnvoll?
Ludwig Stiegler: Die Grundsicherung beruht ja auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die für die Sozialhilfe gemacht worden ist. Die ist vor ein paar Jahren gemacht worden. Sie wird nächstes Jahr erneuert. Und in dieser Grundsicherung ist eine Vielzahl von Waren. Von denen gibt es welche, wo die Preise steigen. Und bei denen gibt es welche, wo die Preise sinken. Deshalb wird es keine Schnellschüsse in dem Bereich geben. Wenn sich allerdings herausstellen sollte, dass es zu einer Explosion der Lebensmittelpreis käme, dann müsste man sich das einfach genau anschauen.
Aber grundsätzlich gibt es keine Veranlassung bei einem standardisierten Warenkorb, wenn sich irgendein Teilaspekt verändert, plötzlich das Ganze zu verändern. Man müsste dann wie bei einer Exceldatei eben sehen, welche Zeilen gibt es, welche Änderungen und was kommt unten am Ende dabei heraus. Dann würde man überrascht feststellen, dass es eben nicht nur ein Auf der Preise gibt, sondern in vielen Bereichen auch ein Ab der Preise, so dass der Saldo am Ende wieder einigermaßen stimmt. Wobei es misslich ist. Bei allen standardisierten und pauschalierten Modellen gibt es welche, für die passt es. Und es gibt welche, die gewinnen dabei. Und es gibt auch Verlierer dabei.
Deutschlandradio Kultur: Herr Stiegler, da alle im Moment über Butter reden und den Preisanstieg, wissen Sie eigentlich wie teuer die Butter im Moment ist?
Ludwig Stiegler: Ich weiß nicht, wie teuer sie heute ist, aber sie war letzte Woche noch um einen Euro rum. Ich bin ein Kind des ländlichen Raumes und ich denke, die Landwirte sind viel zu schlecht bezahlt für ihre Arbeit. Ich bin dafür, dass die Landwirte gerade einen ordentlichen Milchpreis bekommen, dass sie auch für ihre Produkte ordentlich bezahlt werden. Wir müssen aufpassen, dass nicht wieder der Handel alles abkassiert und die Landwirte dann am Ende als Buhmänner dastehen. Ich bin dafür, dass die ordentlich für ihre Arbeit bezahlt werden. Dann werden wir auch keine Probleme mit der Versorgung haben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Stiegler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
*Als Kaperer wurden bewaffnete Schiffe oder deren Kapitäne und Besatzungsmitglieder bezeichnet, die mit offizieller Genehmigung feindliche Schiffe überfielen. Diese schriftliche Genehmigung war der "Kaperbrief", dessen erste Exemplare aus dem 13. Jahrhundert belegt sind. Das Kaperwesen war sozusagen eine "staatlich lizenzierte Piraterie". Mit der Verfügbarkeit großer staatlicher Flotten wurde der Kaperei durch zwischenstaatliche Verträge Einhalt geboten, bis sie 1856 durch die Pariser Seerechtsdeklaration abgeschafft wurde
(Quelle: www.planet-wissen.de, Brockhaus )
Ludwig Stiegler: Ich nehme erst die schlechte.
Deutschlandradio Kultur: Die schlechte Nachricht ist, dass in der Wählergunst der Bayern die Sozialdemokraten zwischen mageren 18 und 22 % pendeln, die CSU aber zwischen 54 und 58 % - so sagen die Wahlforscher. Deprimiert Sie das?
Ludwig Stiegler: Nein, weil die Wahlforscher in aller Regel nicht recht haben. Wir haben es bei der letzten Bundestagswahl gesehen. Und siehe da, am Sonntag hat in meiner Heimatstadt Weiden die SPD mit 60:40 den Oberbürgermeisterposten nach 31 Jahren neu errungen. Die CSU ist in irgendwelchen Umfragen sämtlich oben, aber die Wahlen gewinnen wir.
Deutschlandradio Kultur: Auf kommunaler Ebene. Wie das auf Landesebene sein wird, wollen wir mal sehen.
Ludwig Stiegler: Das werden wir sehen. Aber wenn selbst der Münchner Merkur inzwischen schreibt, dass es "im Unterholz der CSU modert", dann sage ich Ihnen: Diese ganze Gaudi, die die uns seit einem halben Jahr vorführen, bleibt nicht im Anzug stecken und die wird sich auf die Wählerstimmung auswirken. Aber noch haben wir ein Jahr Zeit.
Deswegen gibt es keinen Grund, irgendwie unruhig zu sein, sondern nur zu sehen, wie die CSU wirklich vermodert, sich zerstreitet. Wo Sie hinschauen in Bayern, in den größeren Ortschaften – ob in Regensburg oder in Würzburg, in Coburg oder wo auch immer – gibt es Hader und Krach. Deswegen ist für mich die alte CSU nicht mehr das, was sie 2002 oder 2005 war, sondern sie ist eine sich auflösende Veranstaltung.
Deutschlandradio Kultur: Das wäre ja eine gute Nachricht, aber wir haben ja noch eine zweite gute Nachricht. Die sieht folgendermaßen aus: Wenn am Sonntag in Bayern Wahlen wären, würde es die Linke – also diese Lafontaine-Bisky-Truppe – nicht schaffen, in den Landtag zu kommen. Das freut Sie sicherlich?
Ludwig Stiegler: Das habe ich nie anders erwartet. Es gibt ein paar Regionen, da sind die stark, weil ein paar Gewerkschaftssekretäre die hier gegründet haben, aber ansonsten nehmen die Bayern von der Linken kaum Notiz. Man muss auch sehen, die Hälfte der CSU-Wähler sind noch Arbeitnehmer. Das ist meine Zielgruppe und nicht die, die da nach links außen abdriften. Das ist nicht meine Hauptzielgruppe und die werden auch in Bayern, wo die Menschen vernünftig sind, wenig erreichen.
Deutschlandradio Kultur: Gesetzt den Fall, Sie haben recht, dass die innere Lage der CSU durchschlägt, dann geht es ja vielleicht nicht um 58 % CSU bei den Wahlen im kommenden Herbst, sondern um 50, um 48 %. Und die SPD ist nach wie vor in einer Lage, wo sie – jedenfalls auf dem letzten Landesparteitag – von Ihnen aufgefordert werden musste, am Regieren mehr Lust zu haben.
Ludwig Stiegler: Das ist eine andere Frage. Da haben wir ja noch einiges zu tun. Unser Ziel ist klar, die CSU unter 50 % wie bei der Bundestagswahl, aber dazu muss die SPD sich auch anstrengen. Ich habe dort in der Tat gesagt: Wenn man in Bayern regieren will, darf man über die Regierungsverantwortung in Berlin nicht motzen. Das wäre ja ein komisches Verhalten, wenn man so um Regierungsverantwortung kämpft und dort, wo man sie hat, sie gering erachtet oder unter den Belastungen des schweren Rucksacks in die Knie geht.
Sondern man muss dann schon mit aufrechtem Gang seiner Regierungsverantwortung gerecht werden. Ich habe zum Beispiel gerade in der Weidener Wahl ja exemplarisch erfahren, dass da ein junger Kandidat, unbelastet von all den Blicken nach Berlin oder nach München, an die Arbeit gegangen ist und gesagt hat, "ich bin der Oberbürgermeister für Weiden und ich lasse mich da von nichts ablenken."
Und siehe da, er hat ein grandioses Ergebnis eingefahren. Das ist es, wofür ich als Landesvorsitzender bei der SPD kämpfe, dass man wirklich nicht auf die Zehenspitzen schaut, sondern eben geradeaus, und dass man zu seiner Verantwortung auch bei schwierigen Fragen steht. Das müssen wir schaffen. Wenn wir das nicht schaffen, dann sind wir auch nicht wert zu regieren.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt: "Auf den Erlöser braucht die SPD in Bayern nicht zu warten. Das müssen sie schon aus eigener Kraft schaffen." Dann nennen Sie uns doch mal drei Gründe, warum sich möglicherweise bei den nächsten Landtagswahlen die Wähler in Bayern für die SPD entscheiden sollen.
Ludwig Stiegler: Schauen Sie, wir haben in Bayern gerade eine große Bildungsdebatte – die Ganztagsbetreuung, die Kleinkinderbetreuung. Das hat die Zukunftskommission der Staatsregierung empfohlen. Und wie wir erfahren haben, soll der Stoiber zu dem Professor Henzler bei der Übergabe des Gutachtens gesagt haben: "Aber das sind ja SPD-Vorschläge!". Und er Henzler soll gesagt haben: "Ja, aber sie sind richtig!" Und wir können den Bayern mit Stolz sagen: Wenn ihr schon vor zehn Jahren auf uns gehört hättet, dann hätten wir die heutigen Probleme nicht.
Das müssen wir den Menschen einfach nahe bringen. Da sind wir oft zu zurückhaltend. Wir meinen, wenn man was zwei, drei mal sagt, dann sei es schon gesagt, dann wird es schon langweilig. Aber die Wahrheit ist: Wenn wir als Politiker bestimmte Themen nicht mehr hören können und schon Schreikrämpfe kriegen, wenn wir das Thema wieder behandeln müssen, erst dann beginnt die Mehrheit der Bevölkerung so eine Thema überhaupt wahrzunehmen. Was wir brauchen, ist dann mehr Festigkeit und mehr Stetigkeit, und zwar in der Breite.
Wir hatten in der Vergangenheit oft so diesen Hang, wir warten auf einen Spitzenkandidaten, ob der Dr. Vogel hieß oder Renate Schmidt oder Karl-Heinz Hirsemann oder wer auch immer, und die würde für uns – quasi stellvertretend – das alles erledigen. Ich war immer gegen eine solche Strategie und habe eben nach dem alten Lied gesagt: "Uns aus dem Elend zu erlösen, können nur wir selber tun und nicht ein Gott, ein Kaiser, noch ein Tribun."
Deutschlandradio Kultur: Sie sind nicht nur Landesvorsitzender der SPD in Bayern, sondern auch Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Hier in Berlin regieren Sie mit, aber es scheint, die Stimmung ist nicht gut. Sind Sie koalitionsmüde?
Ludwig Stiegler: Überhaupt nicht. Es ist zurzeit eine mediale Situation, dass man bei der Halbzeitbilanz sagt, die Gemeinsamkeiten sind verbraucht und was auch hin oder her. Dabei geht völlig unter, dass wir eben mit unserer Wirtschaftspolitik die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung gebracht haben. Es ist leider Gottes so, dass viele den politischen Anteil an dem Aufschwung gar nicht wahrnehmen, weil wir ihn auch zu wenig ansprechen.
Ich nehme nur ein Projekt. Die energetische Gebäudesanierung hat im letzten Jahr über einen Prozentpunkt zum Wachstum beigetragen. Dann die steuerlichen Vergünstigungen für die Ausrüstungsinvestitionen und die steuerliche Handwerksförderung, das ist alles auf dem Mist der SPD gewachsen. Die CSU hatte nur den Bierdeckel von Friedrich Merz und da stand nicht viel drauf.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie würden sagen, die Große Koalition in Berlin ist eine Erfolgsgeschichte?
Ludwig Stiegler: Sie ist bisher eine Erfolgsgeschichte – ökonomisch. Auch bei wichtigen Reformen ist sie eine Erfolgsgeschichte. Wenn ich den Alltag sehe, sowohl die schwarz-blau-gelbe Koalition als auch die rot-grüne Koalition war ja keine Harmonieveranstaltung. Und wenn ich mein persönliches Leben anschaue, dann habe ich mit den Grünen in den Nächten länger verhandelt, als ich mit den schwarzen Brüdern und Schwestern verhandeln muss. Also, es ist immer so: Wenn unterschiedliche Kräfte zusammenkommen, gibt es eben nicht sofort Ergebnisse, sondern muss man Geduld und Ausdauer haben. Vor dem Hintergrund jedenfalls, sage ich, ist die Große Koalition nicht zu verachten.
Deutschlandradio Kultur: Dann hat ja Frank-Walter Steinmeier recht, wenn er sagt, es könnte sein, dass nach den Wahlen wieder eine Große Koalition wegen der Mehrheitsverhältnisse ansteht. Die SPD sollte vorsichtig sein, wann sie die Tür zuschlägt und sagt, die Große Koalition sei verbraucht.
Ludwig Stiegler: Ich bin in der Tat der Meinung, dass man beim Wähler vor Überraschungen nicht sicher ist. Das haben wir bei der letzten Bundestagswahl gesehen. Alle Leute haben ja nicht auf eine Große Koalition gesetzt, weder die Schwarzen, noch wir, aber der Wähler hat sie uns in seiner Güte eben aufgegeben. Und es hat keinen Sinn, wenn man vor einer sozusagen unabwendbaren Aufgabe steht, dass man sie missmutig macht, sondern ich bin da einer der sagt, das packen wir an. Jetzt machen wir das.
Und dann müssen wir aber unseren fairen Anteil einfordern. Daran hapert es bei der SPD momentan noch. Deshalb glauben viele, in einer Großen Koalition könne man nur verlieren, und wollen deshalb so schnell wie möglich raus. Ich erinnere aber, bei der ersten Großen Koalition waren am Ende wir die Sieger 1969, als die Leute gesehen haben, der Willy Brandt und der Karl Schiller und die alle haben ihre Aufgabe gut gemacht. Und am Ende gab es eben die erste sozial-liberale Koalition.
Das war damals eine selbstbewusste SPD. Und das verlange ich von meiner Partei auch, dass wir zu diesem Selbstbewusstsein zurückfinden. Diese larmoyanten Ausstiegsszenen bringen nix letzten Endes, weil die Leute nur sagen, ja, mein Gott, wenn die schon so jammern, dann kann an der Geschichte doch gar nix dran sein.
Deutschlandradio Kultur: Wollen wir es mal sportlich angucken. Es ist im Moment Halbzeit. In der zweiten Halbzeit kann man noch mal richtig Gas geben. Welche Projekte möchten Sie denn in den nächsten zwei Jahren mit der Großen Koalition in Berlin und für den Bund umsetzen?
Ludwig Stiegler: Wir haben zum Beispiel das große Thema Mindestlohn, das ist ein Riesenprojekt, und dass wir das Arbeitnehmerentsendegesetz ausweiten, dass wir das Gesetz über die Mindestarbeitsbedingungen revitalisieren, so dass dann am Ende Arbeit und menschliche Würde wieder zusammenkommen und die Menschen nicht Angst haben vor dem Fall ins Bergfrei, ein Riesenprojekt, was wir da miteinander angehen müssen.
Deutschlandradio Kultur: Wo der Partner auch mitmacht?
Ludwig Stiegler: Wo der Partner sträubend und widerstrebend mitmacht, aber wo wir ihn wie einen störrischen Ziegenbock doch ein stückweit vorangezogen haben und wo die öffentliche Diskussion sicherlich noch manche Bewegung befördern wird.
Deutschlandradio Kultur: Die CDU möchte gerne die Diskussion um die Steuersenkungen im Herbst in die Diskussion in der Fraktion und auch in der Koalition bringen. Sind Sie für Steuersenkungen?
Ludwig Stiegler: Ich bin erst einmal dafür, dass wir den Haushalt konsolidieren. Wenn Sie sich heute anschauen, was sich an den Finanzmärkten, was sich an der Börse abspielt, dann könnte manche Rechnung mit sprudelnden Steuereinnahmen ohne den Wirt der Weltwirtschaft gemacht sein. Deshalb bin ich dafür, dass wir uns konsolidieren, dass wir uns für konjunkturelle Rückschläge wappnen. Und wenn dann noch irgendwelche Spielräume vorhanden sind, dann kann man auch darüber reden, aber so weit sind wir noch längst nicht.
Der Bundeshaushalt bedarf nach wie vor der Nettokreditaufnahme. Deshalb sind alle diese Übungen zwar verständlich, weil sich die Leute halt da einschmeicheln wollen. Wer möchte denn keine Steuersenkungen? Ich würde liebend gern ein allgemeines Steuersenkungsprogramm verkünden, aber ich bin zur Realität und zum Realismus verpflichtet. Deshalb, denke ich, ist die Hauptaufgabe jetzt: konsolidieren, investieren.
Wir haben Riesenaufgaben etwa in dem nächsten Projekt der Energieeffizienz. Hier brauchen wir, etwa zur energetischen Gebäudesanierung aller öffentlichen Gebäude, aber auch der Gebäude der Wirtschaft, eine ganze Menge an Anstrengungen, die finanziert werden müssen, die dann nachhaltig wirken und etwa die Kosten für Heizung und Warmwasser oder ähnliches senken werden. Also, wir haben erst die Aufgaben zu erfüllen. Dann, wenn wir die Aufgaben erfüllt haben, kann man auch wieder an andere Dinge denken.
Deutschlandradio Kultur: Solidarzuschlag ist auch kein Thema für Sie?
Ludwig Stiegler: Der Solidarzuschlag ist für mich kein Thema, denn die Aufgabe "Deutsche Einheit" ist längst nicht erledigt.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie jetzt bei der Steuersenkungsdiskussion keine Spielräume sehen, weil sie sagen, Haushaltskonsolidierung hat erste Priorität, wie sieht es denn beispielsweise aus, wenn bei der Arbeitslosenversicherung Spielräume drin wären? Da könnte man ja den kleinen Mann auch entlasten, indem man ihm sagt, o.k., wir gehen etwas runter, dann hast du noch ein bisschen mehr in der Tasche.
Ludwig Stiegler: Das wäre schön, aber auch da sage ich: Vorsicht an der Beitragskante. Denn wenn sich der Arbeitsmarkt wieder drehen sollte, etwa im Zuge einer Verschlechterung der Weltwirtschaft, dann hat die Bundesagentur mehr Ausgaben und weniger Einnahmen. Dann schmilzt das, was jetzt als Überschuss da ist, dahin wie der Schnee in der Sonne.
Deshalb bin ich dafür, dass die Bundesagentur erst einmal eine Konjunkturrücklage von etwa 10 Milliarden aufbaut, die sie dann eben beim nächsten zyklischen Abschwung in die Lage versetzt, ohne Bundeszuschüsse zu handeln und ohne Beitragserhöhungen, die ja dann pro zyklisch wären, zu handeln, sondern eben mit der Auflösung der Rücklagen antizyklisch zu handeln. Das ist das eine. Das zweite: Die Bundesagentur hat etwa 8 Milliarden Beträge für die Altersversorgung ihrer Mitarbeiter noch nicht finanziell gesattelt. Auch die müssen bei guter Einnahmesituation erst einmal gesattelt werden.
Und dann haben wir gesagt: Wir wollen den Arbeitgebern, die überdurchschnittlich ausbilden uns sich bei den jungen Leuten engagieren, eine Beitragssenkung geben. Ich stelle immer fest, bei der Union, aber auch bei vielen anderen Menschen ist dieses Von-der-Hand-in-den-Mund-leben unheimlich angesagt. Die tun so: Heute schaut es gut aus und wir rechnen die heutige Situation hoch. Da werden Überschüsse errechnet, die im Jahre 2011 theoretisch anfallen. Die haben wir aber noch längst nicht in der Kasse.
Und ich bin dagegen, dass wir von der Hand in den Mund leben, sondern wir uns in einer zunehmend unsichereren Welt mit wirklich dunklen Wolken an den Horizonten der Finanz- und Kapitalmärkte für die nächste Schlechtwetterperiode wappnen und nicht praktisch unser Saatgut jetzt verfrühstücken.
Deutschlandradio Kultur: Dieser Teil der Vorsorge klingt ja solide, aber der zweite Teil, die Bundeszuschüsse lieber in die Krankenversicherung zu stecken, klingt ja wieder wie ein Hin- und Hergeschiebe.
Ludwig Stiegler: Was heißt "Hin- und Herschieben"? Ich stelle jetzt fest: Wir haben bei der Arbeitslosenversicherung die Möglichkeit, dass sie sich selber finanziert, dass sie ihre Aufgaben selber finanziert. Trotzdem haben wir ja die Beiträge gesenkt. Wir sind jetzt bei 3,9. Das ist ja ein enormer Schritt, den wir hier gemacht haben. Und wenn sich dann herausstellt, man braucht ihn nicht mehr, dann sind es zunächst einmal allgemeine Haushaltsmittel. Und dann habe ich ja mehrere Themen genannt, ob nun Bildung oder Forschung oder die Gesundheit oder die Pflege...
Deutschlandradio Kultur: Aber sie könnten ja stärker senken …
Ludwig Stiegler: Mir geht es nur darum, dass man jetzt nicht vorschnell die Beiträge senkt und hinterher beim nächsten Abschwung sofort wieder vor der Frage steht: Muss der Steinbrück einspringen oder müssen die Beiträge erhöht werden? Beides wäre Gift in einer Abschwungphase. Deshalb bin ich so stark dafür, dass wir eine Rücklage von 10 Milliarden aufbauen, die dann hier verfeuert werden kann, um praktisch in einem konjunkturellen Abschwung die Arbeitslosenversicherung antizyklisch fahren zu können und nicht hier pro zyklisch handeln zu müssen.
Deutschlandradio Kultur: Das würden Sie 1:1 umsetzen, wenn Sie alleine regieren würden. Das tun Sie nicht. Sie regieren in einer Großen Koalition. Sie haben gesagt, die Union würde im Moment eher gerne verfrühstücken, was sie gerade bekommt. Gibt es überhaupt Kompromisslinien in diesen grundsätzlichen Fragen, wo Sie sagen, o.k., da gehen wir gemeinsam den Schritt weiter mit dieser guten Zusammenarbeit, von der Sie gesprochen haben?
Ludwig Stiegler: Bei der Union gibt es jedenfalls die Haushälter, die durchaus für eine Konjunkturausgleichsrücklage zu gewinnen sind. Aber bei der Union gibt es auch welche, die die Vorsorge für die Altersprobleme bei der Bundesagentur mit tragen werden, so dass wir dann am Ende uns über die Frage unterhalten werden, wie viel Geld es kostet, wenn wir die Arbeitgeber entlasten, die über den Bedarf und überdurchschnittlich ausbilden, und dass man solche Fragen dann macht. Und wenn es dann am Ende irgendeinen Kompromiss gibt, der noch einen Tick herunter geht, dann geht für mich die Welt auch nicht unter.
Ich möchte nur sicherstellen, dass wir nachhaltig arbeiten. Und das muss eine große Koalition können, dass wir jedenfalls diesen Bereich unseres Sozialsystems wetterfest machen.
Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal auf diese Diskussion über Steuerentlastung zurückkommen. Da war die Agenda 2010. Gerhard Schröder hat es mit Rot-Grün gemacht und es hat mittlerweile möglicherweise Früchte getragen. Wir haben den Aufschwung. Warum soll das falsch sein, was unter Schröder möglicherweise richtige war?
Ludwig Stiegler: Die Agenda 2010 oder die Arbeitsmarktreform war richtig. Sie war nur damals nicht im richtigen konjunkturellen Zeitpunkt. Sie war ja 2002 in einem von den Instituten vorausgesagten immerwährenden Aufschwung konzipiert. Dann kam, wie bekannt, die Dot-Com-Börsenkrise mit all den wirtschaftlichen Verwerfungen und Wachstumsverlusten. Jetzt, wo die Konjunktur endlich durch diese Maßnahmen der Großen Koalition und durch die Weltwirtschaft in Gang gekommen ist, jetzt kann die Arbeitsmarktreform auch schwimmen. Sie haben auch gestern an den Zahlen gesehen, es geht ja nicht nur quasi am ersten Arbeitsmarkt, sondern auch die Langzeitarbeitslosigkeit beginnt sich – wenn auch langsam und zäh – aufzulösen.
Deswegen ist diese Reform richtig, nach wie vor, aber sie hat unglaublich viel Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil in den ersten Jahren das Fördern nicht stattfinden konnte, sondern nur das Fordern angesagt war. Und bis diese Glaubwürdigkeitslücke, die wir praktisch durch die Wirtschaftskrise 2002 bis 2005, 2006 hatten, überwunden ist, das dauert einige Zeit. Heute ist es immer noch so, dass Hartz IV in vielen Arbeitnehmerherzen ein Schreckenswort ist und ein Drohwort. Bestimmte politische Kräfte tun ja alles, um das auch noch zu bestärken.
Deshalb muss man sich nicht wundern, wenn die Hartz-Reform nicht unbedingt zu unseren geliebten Projekten gehört. Aber heute kann man sagen, das Instrument, das damals für einen Aufschwung konzipiert war, wirkt jetzt – zeitlich versetzt – im neuen Aufschwung zu unserer vollen Zufriedenheit.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem haben Sie die Linke an ihrer Seite, auch als Reaktion auf die Agenda 2010. Mit der müssen Sie leben.
Ludwig Stiegler: Mit der müssen wir leben, aber ich halte es da eher mit den Berlinern – nicht mal ignorieren. Weil mit diesen Leuten kann man keinen Staat machen. Das ist jetzt diese Berliner Situation. Diese ostdeutsche Situation ist was anderes. Da hat man eben die Grundbefindlichkeiten der Bevölkerung zu achten, aber in Westen sind da – wie wir Bayern sagen – Kaperer* vertreten, Trotzkisten, Maoisten und Marxisten, Leninisten, jedenfalls alles Leute, die alles können, nur nicht Verantwortung tragen. Da müssen wir uns klar, wo es erforderlich ist, abgrenzen. Aber ansonsten sage ich: nicht mal ignorieren. Wir müssen unsere Arbeit tun und nicht da nach links schielen.
Deutschlandradio Kultur: Die Meinungsforscher sagen, dass selbst SPD-Mitglieder sagen, Oskar Lafontaine und die Linke haben ja recht, wenn sie auch übertreiben, aber im Wesentlichen haben sie in ihren Argumenten recht.
Ludwig Stiegler: Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Es gibt in der Tat bei uns viele, die diese Sehnsüchte haben. Und es ist eine der Hauptaufgaben der SPD-Führung, dass wir unsere Mitglieder und Anhänger praktisch voll auf dem Boden der Realitäten verankern.
Deutschlandradio Kultur: Und wenn Sie dann sagen, "die Linke ignorieren", machen Sie es sich da nicht einfach zu einfach? Irgendwann müssen Sie sich mit der Partei auseinandersetzen.
Ludwig Stiegler: Also, ich will jetzt mal als bayerischer Landesvorsitzender sagen: Sie haben am Anfang selber festgestellt, in Bayern spielt das keine Rolle. Wenn ich jetzt in Berlin leben würde oder in Ostdeutschland, dann wäre die Position eine völlig andere. Ich rede aber jetzt von Westdeutschland und rede vor allem als bayerischer Landesvorsitzender. Und da würde man denen viel zu viel Ehre antun. Wenn ich in Bayern erfolgreich sein will, muss ich der CSU die Arbeitnehmerwähler abjagen, nicht die paar, die da nach links außen abschwirren. Die machen das Kraut nicht fett.
Deutschlandradio Kultur: Da muss man ja manchmal was Populäres fordern. Es gibt die Forderung auch aus Ihrer Fraktion, die Sozialhilfesätze, die Sätze von Hartz IV nun anzuheben, einzig und allein, weil die Nahrungsmittelpreise steigen. Ist das sinnvoll?
Ludwig Stiegler: Die Grundsicherung beruht ja auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die für die Sozialhilfe gemacht worden ist. Die ist vor ein paar Jahren gemacht worden. Sie wird nächstes Jahr erneuert. Und in dieser Grundsicherung ist eine Vielzahl von Waren. Von denen gibt es welche, wo die Preise steigen. Und bei denen gibt es welche, wo die Preise sinken. Deshalb wird es keine Schnellschüsse in dem Bereich geben. Wenn sich allerdings herausstellen sollte, dass es zu einer Explosion der Lebensmittelpreis käme, dann müsste man sich das einfach genau anschauen.
Aber grundsätzlich gibt es keine Veranlassung bei einem standardisierten Warenkorb, wenn sich irgendein Teilaspekt verändert, plötzlich das Ganze zu verändern. Man müsste dann wie bei einer Exceldatei eben sehen, welche Zeilen gibt es, welche Änderungen und was kommt unten am Ende dabei heraus. Dann würde man überrascht feststellen, dass es eben nicht nur ein Auf der Preise gibt, sondern in vielen Bereichen auch ein Ab der Preise, so dass der Saldo am Ende wieder einigermaßen stimmt. Wobei es misslich ist. Bei allen standardisierten und pauschalierten Modellen gibt es welche, für die passt es. Und es gibt welche, die gewinnen dabei. Und es gibt auch Verlierer dabei.
Deutschlandradio Kultur: Herr Stiegler, da alle im Moment über Butter reden und den Preisanstieg, wissen Sie eigentlich wie teuer die Butter im Moment ist?
Ludwig Stiegler: Ich weiß nicht, wie teuer sie heute ist, aber sie war letzte Woche noch um einen Euro rum. Ich bin ein Kind des ländlichen Raumes und ich denke, die Landwirte sind viel zu schlecht bezahlt für ihre Arbeit. Ich bin dafür, dass die Landwirte gerade einen ordentlichen Milchpreis bekommen, dass sie auch für ihre Produkte ordentlich bezahlt werden. Wir müssen aufpassen, dass nicht wieder der Handel alles abkassiert und die Landwirte dann am Ende als Buhmänner dastehen. Ich bin dafür, dass die ordentlich für ihre Arbeit bezahlt werden. Dann werden wir auch keine Probleme mit der Versorgung haben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Stiegler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
*Als Kaperer wurden bewaffnete Schiffe oder deren Kapitäne und Besatzungsmitglieder bezeichnet, die mit offizieller Genehmigung feindliche Schiffe überfielen. Diese schriftliche Genehmigung war der "Kaperbrief", dessen erste Exemplare aus dem 13. Jahrhundert belegt sind. Das Kaperwesen war sozusagen eine "staatlich lizenzierte Piraterie". Mit der Verfügbarkeit großer staatlicher Flotten wurde der Kaperei durch zwischenstaatliche Verträge Einhalt geboten, bis sie 1856 durch die Pariser Seerechtsdeklaration abgeschafft wurde
(Quelle: www.planet-wissen.de, Brockhaus )