SPD-Bürgermeister zu seiner Streitschrift "Rettet die Demokratie"

"Wir müssen unser Land zeitgemäß organisieren"

29:40 Minuten
Dirk Neubauer vor einem roten Hintergrund, auf dem Stadt Augustusburg steht. Er trägt einen hellen Rollkragenpullover und hat einen Vollbart.
Dirk Neubauer ist Bürgermeister von Augustusburg. Er will mehr Kompetenzen auf untere Ebenen verlagern. © Dietmar Hoesel
Moderation: Annette Riedel |
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Politik funktioniere nicht als "Lieferservice", glaubt Dirk Neubauer. Damit Bürger Verantwortung übernehmen und Demokratie konkret erlebbar ist, verlangt der Kommunalpolitiker im sächsischen Augustusburg, dass Kommunen mehr entscheiden können.
Die Verteilung zwischen den politischen Ebenen – Bund, Länder, Kreise und Kommunen – müsse radikal verändert werden, verlangt der SPD-Kommunalpolitiker Dirk Neubauer in seinem Buch "Rettet die Demokratie". Das politische System der Bundesrepublik sei weitgehend in den 60er-Jahren stehengeblieben. Staat und Politik förderten bestenfalls die Passivität der Bürgerinnen und Bürger, schlimmstenfalls deren Wut auf das ganze politische System.

Wachsende Lücke zwischen denen "da oben" und "da unten"

Die Kommunalpolitiker und Kommunalpolitikerinnen seien "die letzte Meile" zwischen den Gesetzgebern und den Menschen, Neubauers Meinung nach müssten mehr Handlungsspielräume bekommen. Nur wenn "da unten" das Gefühl von Selbstwirksamkeit entstehen kann, gebe es die Chancen, sinnvolle Bürgerbeteiligung zu organisieren und zum Engagement auch zu motivieren. Die Lücke zwischen "denen da unten" und "denen da oben" dürfe nicht größer werden, so der Kommunalpolitiker aus dem sächsischen Augustusburg. Denn "in diese Lücke grätschen die rein, die vermeintlich einfache Lösungen haben, die vermeintlich alles besser können." In der Kommune, der Herzkammer der Demokratie, finde der "vielleicht noch letzte direkte Kontakt zwischen Politik und Bürger" statt.

Zwei Amtszeiten sind genug

Damit Amts- und Mandatsträger sich nicht zunehmend in einem eigenen "Orbit" über den Dingen bewegten, plädiert der SPD-Poltiker für eine Begrenzung von Amt und Mandat auf zwei Legislaturperioden. Das gelte auch für ihn als Bürgermeister. Politik müsse wieder mehr "Berufung" als Beruf sein, meint der gelernte Journalist. In den Parteien sehe er indes eine Tendenz, dass es nur noch um Machterhalt gehe. In diesem Zusammenhang plädiert er dafür, die Landeslisten für Wahl-Kandidaten der Parteien abzuschaffen. Zudem sei es sinnvoll, bezahlten Politikern und Politikerinnen Nebentätigkeiten zu verbieten, die nicht im Zusammenhang mit ihrem vor der Wahl ausgeübten Beruf stehen.
(AnRi)

Dirk Neubauer ist seit 2013 Bürgermeister der sächsischen Kleinstadt Augustusburg. Als Parteiloser gestartet, ist er seit 2017 Mitglied der SPD. Im Herbst 2020 wurde er für eine zweite siebenjährige Amtszeit wiedergewählt. Neubauer wurde 1971 in Halle an der Saale geboren. Dort ist er aufgewachsen und bis zum 30. Lebensjahr geblieben. Der gelernte Journalist absolvierte ab 1993 ein Volontariat beim Mitteldeutschen Zeitungsverlag. Er war rund zehn Jahre als Reporter und später Geschäftsführer eines lokalen Fernsehsenders tätig. Nach zwei Jahren als Marketingchef bei mdr jump und sputnik wechselte er in die Selbstständigkeit. Er beriet Zeitungshäusern bei ihrer Digitalstrategie. 2019 erschien sein Buch "Das Problem sind wir – ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie". Sein neues Buch "Rettet die Demokratie. Eine überfällige Streitschrift" erscheint am 21. April.

Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Ihr neues Buch, Herr Neubauer, erscheint in diesen Tagen. Es heißt "Rettet die Demokratie. Eine überfällige Streitschrift". Das Buch will "aufrütteln, Undenkbares denken, Unsagbares sagen". So heißt es im Vorwort. Und so gehen Sie auf rund 180 Seiten – ganz gemäß dieser Devise – auch hart mit dem politischen System in Deutschland und vor allen Dingen auch mit den Politikern hierzulande ins Gericht. Sehen Sie sich selbst denn als jemand, der ein "Antipolitiker-Politiker" ist, wie manche sagen würden?
Neubauer: Nein, überhaupt nicht. Ich betrachte mich schon als Bestandteil der Politik. Wir Bürgermeister sind, wie ich das nenne, "die letzte Meile". Das heißt also, wir sind der vielleicht noch letzte direkte Kontakt zwischen Politik und Bürger. Insofern bin ich natürlich ein Politiker. Aber ich darf ja trotzdem unzufrieden sein mit denen, die das machen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber ein Politiker, der versucht, nicht das zu tun, was Sie der Politik ansonsten vorwerfen, nämlich dass sie sich immer mehr vom Leben entfernt. Einer Ihrer Vorschläge, wie man dem beikommen könnte, wäre, die Amtszeiten und die Mandate zu begrenzen, auch die eines Bürgermeisters von Augustusburg.
Neubauer: Korrekt. Das ist absolut richtig.
Deutschlandfunk Kultur: Und was kann und soll das tatsächlich bringen? Denn es heißt im Gegenzug auch, dass die Professionalität, die erst mit den Jahren wächst, möglicherweise beschränkt wird.
Neubauer: Ja, das kann gut sein. Aber schauen Sie: Wenn wir von zwei Legislaturperioden reden – gerade bei einem Bürgermeister, ich fange mal bei mir selber an – dann sind das in Sachsen 14 Jahre insgesamt, die ich die Geschicke in der Stadt schon irgendwie bestimme, auch wenn ich jemand bin, der gerne versucht, die Leute mit reinzunehmen, möglichst viel zu teilen. Aber irgendwie prägen sie ja doch. 14 Jahre sind eine echt lange Zeit. Ich denke, das reicht einfach. Ich habe für mich schon beschlossen. Ich bin jetzt einmal wiedergewählt, habe jetzt noch gut sechseinhalb Jahre vor mir und danach wird definitiv Schluss sein.
Ich denke, das ist wirklich gut, wenn man Erneuerung hat. Auch im Landtag sind es acht Jahre. Im Bundestag wären es acht Jahre. Das sind lange Zeiträume. Wenn man diese Zeiträume verlängert, dann besteht halt immer die Gefahr, dass darunter Strukturen entstehen, die überhaupt nicht mehr flexibel sind, dass quasi so ein eigener Orbit entsteht. Ich möchte es jetzt nicht "Blase" nennen – das wäre zu negativ – aber dass man sich einfach auch abgrenzt. Ich glaube, dieses Problem haben wir jetzt inzwischen so ein bisschen.
Ich habe so das Gefühl, dass der politische Orbit schon irgendwie ein Stück über allem schwebt und wir zwischen diesem politischen Orbit und dem Bürger doch eine Lücke haben. Und in diese Lücke grätschen jetzt die rein, die vermeintlich einfache Lösungen haben, die vermeintlich alles besser können. Diese Lücke ist so groß, dass die, die das behaupten, nicht mal beweisen müssen, dass sie es besser könnten.
Will sagen: Wir brauchen wieder mehr Kontakt. Ich glaube, dass ein guter Weg wäre, diese Amtszeiten auf allen Ebenen in der jeweiligen Funktion zu begrenzen, was nicht dagegen spräche beispielsweise, dass ein guter Landtagsabgeordneter vielleicht danach in den Bundestag wechselt. Also: Erfahrung braucht es natürlich schon. Erfahrung ist auch etwas, was ich in der Politik sehr vermisse. Es gab mal Zeiten, da sind Menschen Minister geworden, weil sie vorher etwas ziemlich gut gemacht haben. Ich sage auch nicht, dass ich recht habe, aber zumindest in eine Diskussion einzusteigen und ernsthaft darüber nachzudenken, was wir anders machen könnten, wäre angebracht. So wie wir es jetzt machen, können wir es nicht weitermachen.

Politik sollte Berufung sein – nicht Beruf

Deutschlandfunk Kultur: Ich werde einige von den Stichworten gleich noch aufnehmen, möchte noch eine Sekunde bei den Politikern bleiben.
Was Sie auch vorschlagen, ist, dass es ein Verbot von Nebentätigkeiten während Amts- und Mandatszeit geben soll – zumindest von Tätigkeiten, die nicht im Zusammenhang stehen mit dem früheren Beruf, den ein Politiker gehabt haben mag. Das heißt aber auch, dass letztendlich ein Leben nach der Politik – und das müsste ja, wenn Sie Amtszeiten begrenzen, noch mehr denn je möglich und auch gewollt sein – schwieriger wird.
Neubauer: Ja. Aber ich denke, dass dieses Land sich eigentlich schon immer ganz gut darum gekümmert hat, dass Menschen, die Verantwortung in der Politik übernehmen, auch gut versorgt sind. Es sollte eigentlich das Ziel dieses Gedankens sein, zu überlegen, ob Politik nicht wieder mehr Berufung statt Beruf sein sollte.
Was ich so beobachte, ist, dass Politik mittlerweile ein ziemlich akzeptierter, planbarer Karriereweg wird. Wer planbar einen politischen Karriereweg gehen will, der muss dann schon fast zwangsweise sehr stromlinienförmig sein, vorsichtig auch in all dem, was er tut, weil er immer damit rechnen muss, dass ansonsten dieser Weg, den er da geplant hat, zu Ende geht. Und ich glaube nicht, dass das die Altvorderen, die sich die repräsentative Demokratie mal ausgedacht haben, im Sinn hatten.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben eben schon den Graben, den Sie sehen, zwischen den politischen Entscheidern da oben und den Bürgerinnen und Bürgern da unten erwähnt. Diese Lücke sei gewachsen, konstatieren Sie. Und einer der Gründe, den Sie sehen, ist, dass der Staat sich "überkümmert" – soll heißen?
Neubauer: Es soll heißen, dass wir tatsächlich den Menschen über ziemlich lange Zeit jegliche Eigenverantwortung genommen. Gerade bei mir im Osten kann ich das sehr gut nachvollziehen. Das ist der Lebenshorizont, in dem ich ja auch politisiert bin, quasi seit der Wende. Wir haben den Leuten hier drei Jahrzehnte lang im Wesentlichen gesagt: "Bleiben Sie ruhig – wir holen Hilfe."
Wenn wir dann wirklich mal Situationen haben – ich sage mal, 2015 diese sogenannte "Flüchtlingskrise" oder jetzt die Pandemie – dann sind das Momente, die zeigen, wie selbständig eine Gesellschaft eigentlich ist. Jetzt müssen wir mal ziemlich spontan und kurzfristig unsere absolute Komfortzone verlassen. Und dann stellen wir fest, dass das überhaupt nicht mehr funktioniert. Und dann schreien alle und sagen: "Irgendwer muss das jetzt lösen!" Und das wohnt jetzt in unserer Gesellschaft. Und das ist der absolut falsche Weg.
Wir Bürger haben eine Verantwortung. Jeder Mensch hat eine Verantwortung in dieser Gesellschaft. Das müssen wir eigentlich auch bewahren.
Deutschlandfunk Kultur: Was sagen Sie als SPD-Politiker denjenigen, die erwidern: "Das klingt aber sehr nach FDP"? Die Liberalen haben ihr Staatsverständnis gerade nochmal bei der Formulierung ihres Wahlprogrammes für die Bundestagswahl so formuliert: "einen schlanken Staat, der sich weitgehend raushalten soll".
Neubauer: Das muss ja nicht falsch sein. Ich finde, das ist etwas, was mich sehr ermüdet, als Politiker der Basis, der sozusagen regelmäßig an seiner Tankstelle montagsmorgens die Welt erklären muss. Mich nervt zunehmend, dass wir mehr und mehr nicht um die Sache streiten, sondern dass wir mehr und mehr immer solche Debatten haben, die auf den anderen zeige. Und bei uns sind Diskussionen immer zu Ende, wenn wir eine Idee haben, wer an irgendetwas schuld ist. Das löst aber nix.
Wenn ich weiß, Berlins Regierender Bürgermeister Müller ist dran schuld, dass der BER-Flughafen so lange gedauert hat, dann ist die Diskussion zu Ende. Wenn die Diskussion an der Stelle zu Ende ist, lernen wir aber auch nichts. Ich bin mittlerweile sehr ungehalten, wenn ich immer wieder höre – auch bei uns auf der Landesebene – dass das es immer "die" waren. "Ich war's nicht, der war's." Ich glaube, dass der Bürger sich inzwischen abwendet und sagt: "Was soll das eigentlich? Bietet mir doch bitte mal eine Lösung an."

"Lautes Schweigen" der breiten Mehrheit zur Wut einiger

Deutschlandfunk Kultur: Und Sie sagen auch, dass er sich nicht nur abwendet, sondern nachgerade wütend wird.
Neubauer: Das können wir ja beobachten. Das ist ja eine Entwicklung, die inzwischen nicht nur hier im Osten sichtbar ist. Ich warne auch immer davor, dass das, was sichtbar ist, sicherlich ein radikaler Trend ist, den man oft – oberflächlich betrachtet – vielleicht noch abtun könnte. Ich warne aber inzwischen davor, weil ich glaube, dass der sichtbare Teil nur eine Art Spitze eines Eisbergs ist.
Wir merken wir ja durch dieses laute Schweigen einer breiten Mehrheit, die sich ja auch nicht dagegen wendet, dass dort sehr viel mehr Akzeptanz für bestimmte Themen ist, als wir wahrhaben wollen. Und das ist ein Anfang. Da kann man jetzt mal getrost sagen: "Wehret den Anfängen!"
Deutschlandfunk Kultur: Die AfD zeigt gerade auch im Osten, dass die Menschen im real existierenden politischen System der Bundesrepublik bei den anderen Parteien offenbar keine wirkliche politische Heimat zu finden scheinen. Sie konstatieren, dass es ein Fehler ist, diese Menschen beziehungsweise die Partei, die AfD, einzig und alleine als rechtsextreme Kraft zu reduzieren und zu stigmatisieren. Warum ist das ein Fehler.
Neubauer: Weil sich da sehr viel Protest tatsächlich Bahn bricht. Das sehen wir ganz deutlich, wenn es um Wahlen geht. Ich mache das jetzt mal an meiner kleinen Kommune fest, das ist ja mein gesellschaftlicher Ausschnitt, den ich sehe. Wenn da eine Europawahl ist, wählen bei uns dreißig Prozent der Wahlberechtigten eine AfD. Wenn es um eine Bundestagswahl geht, wählen dreißig Prozent AfD.
Wenn der Bürgermeister gewählt wird – ein Sozialdemokrat in meinem Fall, was in Sachsen ja wirklich nicht vergnügungssteuerpflichtig ist – und einen AfD-Gegenkandidaten hat, dann bekommt der AfD-Kandidat zehn Prozent und der Sozialdemokrat 68 Prozent. Warum? Das kann ich Ihnen sagen. Das hat was mit Personen zu tun, aber da will ich mich gar nicht überhöhen. Es hat auch was damit zu tun, dass die Leute sagen: "Hier, wo es um mich geht, um mein ganz unmittelbares Umfeld, wo es also wirklich eine Konsequenz hätte, da wollen wir die AfD nicht."
Dieses Delta zwischen diesen zehn Prozent, die aufrichtig AfD ankreuzen, und den dreißig, die es bei überregionalen Wahlen tun, dieses Delta meine ich. Das wird dummerweise größer.
Deutschlandfunk Kultur: Jenseits der AfD – die von Ihnen heftig kritisierte Rolle der Parteien im Allgemeinen führe zum Systemverdruss bei Bürgerinnen und Bürgern, konstatieren Sie. Warum sind Sie der Meinung, dass unsere Demokratie nicht zuletzt vor den Parteien gerettet werden muss?
Neubauer: Nach dem, was ich jetzt in diesen acht Jahren, die ich wirklich intensiv in der Politik unterwegs bin, auch in der Landespolitik unterwegs bin, beobachte, glaube ich, dass – und das ist ganz merkwürdig, teilweise von den politischen Akteuren selber ganz anders bewertet und anders beobachtet – dass man trotzdem feststellen muss, wenn man sich die Draufsicht bewahrt, dass sich da was verselbständigt.
Wir sehen das in Sachsen sehr deutlich. Da will ich jetzt auch wieder vorweg sagen, dass es nicht heißt, ich mache hier CDU-Bashing. Das wäre völlig egal. Auch wenn eine SPD dreißig Jahre lang ununterbrochen ein Land führen würde, würde darunter eine Struktur entstehen, die einfach zu lange, nahezu ewig wird. Ich merke das sehr deutlich in Ministerienstrukturen und in allen Ebenen. Wenn Sie mit Leuten zu tun haben, die da zwanzig Jahre sitzen, dann hat es sich mit Flexibilität nicht so sehr. Dann mag man auch neue Gedanken nicht so sehr. Ich höre sehr oft solche Sätze wie: "Das möchte der Freistaat nicht." Und dann sage ich: "Dann hat der Freistaat offensichtlich eine dissoziative Bewusstseinsstörung. Weil, ich bin ja auch der Freistaat und meine Bürger auch. Und wir wollen das ja."
Deutschlandfunk Kultur: Nun sind Sie in erster Linie Mitglied einer Splitterpartei, jedenfalls in Sachsen.
Neubauer: Das kommt dazu, ja.

Landes-Kandidaten-Listen der Parteien abschaffen

Deutschlandfunk Kultur: Die SPD hat nur 7,7 Prozent. Sie sagen: "Wenn man den Parteien abgewöhnen will, dass die agierenden Personen hauptsächlich um ihr Machtstreben zirkulieren, zu selbstbezogen sind, nicht mehr für die Bürger agieren, dann ist wohl der wichtigste Punkt, Landeslisten abzuschaffen." – Warum?
Neubauer: Ja, das ist auch ein Gedanke, über den man trefflich diskutieren kann, das weiß ich wohl. Für mich steht dabei eine Grundidee im Raum, weil ich das sehr viel von Menschen höre, die mir zum Beispiel sagen: "Also, den würde ich ja wählen, aber die, die da auf der Liste stehen, nicht."
Warum kommen wir nicht zu einem System, wo wir in einem Wahlbezirk nicht nur Eigenkandidaten zulassen, sondern X Mandate zu vergeben haben und jeder sich darauf bewerben kann, so dass am Ende jeder, der in einem Landes- oder Bundesparlament sitzt, wirklich persönlich direkt gewählt ist? Ich glaube, dass das auch tatsächlich auf ein gewisses Maß an Interesse stoßen würde auf der anderen Seite.
Deutschlandfunk Kultur: Auch bei Ihren Kollegen Politikern?
Neubauer: Das glaube ich weniger.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Sie müssen ja Mehrheiten für so was finden. Die Idee ist ja vielleich zauberhaft, aber sonst kaum umzusetzen…
Neubauer: Ich glaube, dass es momentan gerade auf etwas Anderes ankommt. Ich bin ja schon länger im Gespräch. Ich glaube, man braucht wirklich mal einen disruptiven Moment. Deshalb habe ich mich jetzt auch mal aus dem Fenster gelehnt und mal ein paar Thesen formuliert, die ich schon länger in mir trage. Ich will ja gar nicht recht haben. Darum geht's ja gar nicht. Ich möchte aber, dass wir in eine ernsthafte Debatte kommen und zunächst erstmal erkennen, dass das, was wir gerade machen, ein bisschen aus der Zeit gefallen ist und dass, wenn wir so weitermachen, wir unter Umständen neue Wähler suchen müssen.
Hier ist was kaputt gegangen und das zündet gerade. Und vielleicht ist der Osten da etwas sensitiver, in der Auswirkung tatsächlich auch klarer, weil es hier einen Erlebnisvorsprung von vielen Menschen gibt, die schlicht und ergreifend sagen: "Dann mache ich nicht mit!" Und die haben gelernt, wenn man sich verweigert, dass es Veränderung bringt. Vielleicht ist es das, was mich so beunruhigt, weil ich ganz vielen Leuten das in Diskussionen aus den Augen ablese, dass die sich zurücklehnen und sagen: "Ja, dann macht doch mal. Wir werden schon sehen, wer am längeren Hebel sitzt."
Deutschlandfunk Kultur: Eine Frage habe ich noch zu Ihrer Kritik an den Parteien im Allgemeinen. Sie selbst sind als Parteiloser gestartet, sind seit 2017 in der genannten kleinen Splitterpartei SPD, in Sachsen mit 7,7 Prozent. Trotzdem fordern Sie die Menschen auf: "Rein in die Parteien!"
Neubauer: Weil ich denke, dass wir eine Erneuerung brauchen. Ich bin selber 2017 nach langem Überlegen in eine Partei eingetreten. Das war auch nicht mein Lebensplan, sage ich ganz offen. Aber ich bin in eine Partei gegangen, weil wir ja in einer Parteiendemokratie leben. Und wenn ich was verändern will – das habe ich relativ schnell gemerkt – als parteiloser Bürgermeister ist man dann irgendwie auch relativ schnell am Ende seiner Möglichkeiten angekommen. Das passierte in einer Zeit, als bei uns eine sehr heftige Diskussion in der Stadtgesellschaft lief nach dem Motto: "Das System ist Mist! Die Parteien sind Scheiße!" Und ich habe dann gesagt: "Okay, dann gehe ich jetzt rein und zeige euch an meinem Beispiel, dass man was verändern kann von innen heraus."
Und ich glaube da auch dran, dass das geht. Aber dazu brauchen wir erstmal wieder Menschen, die das auch machen wollen und die bereit sind, ihre Verantwortung als Bürger auch in diesem Bereich zu tragen und sich dort in die Dinge einzumischen.
Deutschlandfunk Kultur: Was verändert werden muss, ist Ihrer Ansicht nach, nicht weniger als das gesamte deutsche politische System. Da fordern Sie zum Beispiel in eine Ihrer Thesen, "einen Aufbruch und Neuanfang, was die Hierarchie angeht, die zwischen Bund, Ländern, Kreisen und Kommunen herrscht. Die müsse radikal aufgebrochen werden". Was halten Sie denn vor diesem Hintergrund von dem neuen Infektionsschutzgesetz? Wenn es Realität ist, dann wird es – im Krisenfall zumindest – deutlich größere Durchgriffsrechte für den Bund geben. Eine richtige Entwicklung?
Neubauer: Die Antwort wird Sie überraschen. Die lautet in Teilen: Ich halte es für richtig. Das würde aber bedeuten, es wäre nur richtig, wenn wir das meinen würden, was drauf steht.
Wenn wir jetzt wirklich meinen würden, wir machen einen echten Lockdown – das würde aber dann wirklich bedeuten, wir bleiben alle mal zu Hause und wir halten auch die Bänder an – dann würde das in irgendeiner Form, aus meiner bescheidenen Sicht von da ganz unten, sinnvoll sein. Was wir jetzt aber gerade regeln, ist vorzuschreiben, was wir zwölf Monate lang versucht haben, nämlich immer mal ein bisschen was zuzumachen und das jetzt zu zentralisieren. Dagegen bin ich tatsächlich!
Entweder wir gehen jetzt wirklich mal konsequent den Weg oder aber, wir gehen den Weg, wie wir es jetzt mit unserem Modellprojekt in der Stadt machen, dass wir nach Wegen suchen, wie wir versuchen, Leben sicher zu organisieren, und zwar mit diesem Virus, solange wir das müssen.

Erleben von Demokratie in den Kommunen ermöglichen

Deutschlandfunk Kultur: Sie würden aber nicht so weit gehen, dass Sie, wenn Sie von einer neuen Hierarchie zwischen den verschiedenen politischen Ebenen reden, sagen würden, "den Bund brauchen wir mit klaren Vorgaben und wir brauchen diejenigen, die es umsetzen. Das sind die 10.800 Kommunen und Gemeinden an der Basis. Und das, was dazwischen ist, die Länder beispielsweise, brauchen wir gar nicht in dem Maße"?
Neubauer: Nein. Ich habe aber tatsächlich ein zunehmendes Problem mit der Verteilung der Befugnisse. Beispielsweise: Wir haben ja zwischen Land und Kommune noch eine Ebene, das sind die Kreise. Das wird zunehmend schwierig, weil die Kreise inzwischen auch zu politischen Instrumentarien werden und wir zunehmend – das werden mir viele jetzt nicht verzeihen, aber man muss es einfach mal aussprechen – durch die Großkreisstrukturen, die wir inzwischen haben, noch eine Einheit, die politisch weitgehend autark operieren möchte. Ich kann ein Lied davon singen, denn Augustusburg sitzt in einem solchen großen Kreis. Das hat zumindest in Sachsen die Tendenz zu so kleinen Fürstentümern.
Ganz unten, da, wo die Menschen Politik erleben, die Auswirkungen von Politik erleben, dort stellen wir fest, dass wir durch diese ganze Überregulierung – weil, jeder möchte ja irgendwas entscheiden – am Ende in der Kommune fast nichts mehr entscheiden. Das ist so absurd! Dort sind die Menschen, die Einfluss nehmen könnten, denen wir zeigen könnten: "Misch dich ein und es hat auch Sinn". Dieses Erleben von Demokratie, das fahren wir immer weiter zurück, weil wir immer weniger in den Kommunen entscheiden. Immer weniger finanzielle Möglichkeiten stehen zur direkten Verfügung meiner gewählten Stadträte, sondern stehen immer unter Fördervorbehalt oder sonst irgendwas. Das beschneidet die Demokratie tatsächlich in ihrer Funktion.
Wir können den Leuten natürlich immer wieder sagen, "wir wollen ein demokratisches System sein". Wenn die Leute aber nicht lernen können, was das wirklich bedeutet, und es selber erleben können, dann werden sie dieses Wort irgendwann nur als Hülse begreifen. Ich glaube, da ist es nicht mehr weit hin.
Deutschlandfunk Kultur: Sie nennen in Ihrem Buch die Kommune die "Herzkammer der Demokratie". Damit es da kein Herzkammerflimmern gibt, was ungute Folgen hat, muss sich etwas ändern. Sie haben schon die Tatsache angesprochen, dass die Kommunen relativ wenig Entscheidungsbefugnisse haben. Neunzig Prozent aller zur Verfügung stehenden Mittel sind jedenfalls bei uns – in anderen Ländern ist das anders – in den Kommunen für Pflichtaufgaben vergeben, für Schulen, Kindergärten, für die Verwaltung und so weiter.
Kann man das anders machen? Könnte man mit Pro-Kopf-Vergabe pro Einwohner jedenfalls einen Großteil der Mittel direkt in die Hände der Kommunen geben? Und kann man das 10.800 Bürgermeistern zutrauen, dass sie damit sachdienlich, konstruktiv umgehen?
Neubauer: Absolut! Reinen Herzens sage ich "Absolut!" Und ich kann Ihnen auch sagen, warum.
Wenn wir mal den Freistaat Sachsen nehmen. Sachsen hat knapp eine Milliarde Euro, die jedes Jahr irgendwie an die Kommunen verteilt werden, die aber unter Fördervorbehalt stehen. Ich fordere noch nicht mal mehr Geld, ich sage nur: Wir teilen diese Milliarde auf vier Millionen Sachsen auf, 250 Euro pro Kopf, in meinem Fall mal 4.500 Einwohner, dann sind das 1,25 Millionen Euro.
Wenn ich im Gegenzug dazu mindestens die Hälfte der Förderprogramme einfach schlicht und ergreifend streiche und den Kommunen sage "Lieber Stadtrat, lieber Gemeinderat, das ist die feste Summe, mit der du planen kannst für die nächsten vier Jahre – Jahr für Jahr" und wir dann selber priorisieren könnten, wir selber Geld zurücklegen dürfen, wir selber mit unserer Stadtgemeinschaft diskutieren können, "was ist uns denn wichtig", dann passieren zwei Dinge: Erstens, entscheiden wir wirklich was – was ganz wichtig ist für den demokratischen Prozess. Zweitens, sind wir deutlich schneller, weil wir natürlich diese ganzen Antragsverfahren nicht haben.
Das würde, drittens, bedeuten, dass die ganzen Projekte nicht alle teurer würden. Wenn Sie sich mal fragen, warum die Öffentliche Hand immer teurer wird, liegt das daran, dass wir gigantische Laufzeiten in diesen Projekten haben und dann keine Zahlen mehr stimmen.

Bürgermeister, die "Mist bauen" leicht abwählbar

Und was dazu kommt: Die Menschen würden wieder hinschauen: "Wen wähle ich denn in diesen Stadtrat? Wen wähle ich denn zum Bürgermeister oder zur Bürgermeisterin?" Wir Bürgermeister stehen jeden Tag infrage. Fünf Prozent meiner wahlberechtigten Bürger können, wenn sie das wollen, ein Abwahlverfahren anstreben. So gefährdet ist kein Landtagsabgeordneter, kein Bundestagsabgeordneter. Das heißt: Bauen wir Mist, werden wir bestraft. Das ist doch völlig klar. Das gehört ja auch zum demokratischen Prozess.
Das würde ja bedeuten, dass eine Gesellschaft wieder wach wird und sagt: "Ich muss ja hinsehen, was hier passiert. Und ich kann hier vor allem Einfluss nehmen." Das können sie im Land oder auf Bundesebene nur ganz, ganz schwer.
Deutschlandfunk Kultur: Was für Sie auch ganz wichtig ist, wenn man denn die Demokratie bei uns retten will, ist mehr Bürgerbeteiligung zu organisieren. Natürlich müssen Bürger und Bürgerinnen auch Motive haben, sich beteiligen zu wollen. Was machen Sie in Augustusburg anders als andere Kommunen?
Neubauer: Wir versuchen sehr intensiv die Bürger mit einzubinden. Leider musst es aus finanziellen Gründen auch erstmal stoppen, aber wir haben 2018/19 jeweils 50.000 Euro aus dem Stadthaushalt – das ist bei uns wirklich viel Geld – in eine Aktion gegeben, die nennt sich "Bürgerprojekte". Da gibt es eine eigene Internetplattform, da kann ein Bürger sagen: "Ich habe eine Idee. Das sind die fünf Leute, mit denen ich das umsetzen will. Das ist der Eigenanteil, den wir leisten. Und das möchte ich von dir als Kommune als Unterstützung haben."
Wir haben so 25, 26 Projekte umgesetzt, mit diesen 100.000, die wir zugeschossen haben. Da kommen Leute, die engagieren sich, sa schließen sich Leute zusammen. Da werden auch Bedarfe sichtbar, die wir nicht sehen, also, wo Leute kommen und sagen: "Wir wohnen hier in dieser Straße und hier sind viele Kinder und wollen gar keinen Spielplatz, wollen eine Sandkiste". Das war dann das kleinste Projekt mit 300 Euro. Es geht aber auch hin bis zu einem Aussichtsturm, den das Unternehmen Sachsenforst aus wirtschaftlichen Gründen abreißen wollte, den wir als Stadt dann zurückgekauft haben, aber gleich gesagt haben: "Wir können den nicht sanieren". Zack waren da gleich am Anfang Leute, die gesagt haben "Wir reichen das als Bürgerprojekt ein". Die haben inzwischen zweimal Geld bekommen, 20.000 Euro. Inzwischen ist es ein Verein, 50, 60 Leute aus allen Ortsteilen, die dort wahnsinnig viel Arbeit investieren, weil ihnen dieser Aussichtspunkt am Herzen liegt.
Außerdem lernen sich Leute anders kennen. Die kommen zu mir und sagen: "Da wusste ich zwar, dass das irgendwie ein Nachbar ist, aber jetzt kennen wir uns." Da wird gefeiert. Leute rücken zusammen, definieren Heimat positiv, sind stolz darauf, dass sie Dinge machen.

Macht nach unten und an die Bürger delegieren

Deutschlandfunk Kultur: Man muss ja, wenn man so was ernsthaft machen will und Bürger nicht nur pro forma anhören will, sondern beteiligen will, dann muss man ja organisieren, dass die jeweils anderen Ebenen auch immer ein Stück Macht abgeben oder zumindest delegieren, also: Stadtrat an die Ortschaftsräte und die Ortschaftsräte an die Bürger. Da hat es doch mit Sicherheit auch Widerstände gegeben.
Neubauer: Das waren Diskussionen – natürlich. Aber wir haben sie geführt und ich bin sehr stolz auf meine Stadt- und Ortschaftsräte, weil die den Ball aufgenommen haben und wir dann eine freiwillige Kette definiert haben, wer wann sozusagen wessen Entscheidung akzeptiert.
Auch ein ganz wichtiger Punkt: Wir haben sehr viel Macht – in Anführungsstrichen – aus dem Stadtrat in die Ortschaftsräte zurückgegeben.
Deutschlandfunk Kultur: Also die nächstkleinere Ebene.
Neubauer: Genau, in die Ortsteile. Wir haben gesagt: Selbst bei uns, schon von Augustusburg aus, weiß ich nicht, wo ganz genau die Probleme etwa in Ortsteil Grünberg liegen, obwohl das nur wenige Kilometer entfernt liegt. Aber die haben ja einen Ortschaftsrat. Und ich habe 2013 gesagt: "Entweder wir stärken die Ortschaftsräte oder wir schaffen sie ab." Wir haben uns gemeinsam entschieden, die Ortschaftsräte zu stärken. Da gibt es einen freiwilligen Stadtratsbeschluss. Der hat immer noch Bestand. Der sagt: "Wenn wir eine Sache in der Ortschaft haben, die entschieden werden muss, die nur die Ortschaft betrifft, dann entscheidet das der Ortschaftsrat. Und der Stadtratsbeschluss, den wir ja pro forma rechtlich brauchen, der folgt dem Votum des Ortschaftsrates.
Das haben wir alles hinbekommen. Das funktioniert sehr, sehr gut. Und dann merkt man, dann werden Leute wieder wach und sagen: "Hey, Moment mal, wir können ja wieder was bestimmen." Und das ist unglaublich wichtig. Da geht es noch nicht mal darum, ob es um einen Euro oder um 10.000 Euro geht. Es geht reinweg um die Sache, dass Menschen merken: "Ich habe wieder Einfluss".
Deutschlandfunk Kultur: Was Sie da machen, und auch, was sonst noch in Augustusburg geschieht oder angedacht ist – von der Bürgerplattform über #diStadt, wo Digitalisierung, auch Bürgerbeteiligung erleichtert und Ähnliches – wäre im Grunde übertragbar auf 10.800 andere Kommunen, ohne dass wir das ganze System in der Bundesrepublik, wie Sie es fordern, umbauen müssten. Warum passiert es nicht mehr?
Neubauer: Das ist so einfach übertragbar nicht, weil es schon sehr damit zu tun hat, dass man – in meinem Fall, sage ich jetzt mal ganz kühn, ohne jemand anderes auf die Füße treten zu wollen – viel kompensiert bei uns; sehr viel, das, was wir nicht haben, kompensiert durch Einsatz und Motivation. Das klappt nicht überall.
Das kann auch nicht überall gehen. Man muss dafür schon Möglichkeiten haben. Zu den Möglichkeiten gehört eben leider Gottes in diesem Land tatsächlich fundamental die Finanzierungsmöglichkeit. Deshalb sage ich: Ein wichtiger Ansatz wäre wirklich, Geld frei verfügbarer zu machen und in die Entscheidungshoheit der vor Ort gewählten Gremien zu stellen.
Dass wir das nicht machen, das ist ein reines Misstrauenssystem. Dass wir Geld hinter Förderanträgen verstecken, ist ein Misstrauenssystem. Und wir haben dann aber auch keine guten Entscheidungen. Wenn ein Sachbearbeiter bei der Sächsischen Aufbaubank, die unsere Fördermittel weitestgehend im Auftrag des Freistaates verwaltet, eine Sache einer Stadt entscheidet, wo er wahrscheinlich vorher erst googelt, um zu wissen, wo das überhaupt ist, dann ist das keine gute Entscheidung. Die kann nicht gut sein. Und sie ist auch nicht demokratisch. Wenn mein Stadtrat mit 15:0 Stimmen sagt "Wir bauen einen Sportplatz", dann kann es nicht sein, dass dort ein Sachbearbeiter sagt: "Ich glaube aber nicht, dass Sie einen brauchen."

Politik wird als "Lieferservice" empfunden

Deutschlandfunk Kultur: Sie sagen, dass man einerseits Geld braucht – gar keine Frage, andererseits Engagement. Jetzt wollen wir mal den anderen Kolleginnen und Kollegen in den Kommunen nicht unterstellen, dass die dieses nicht hätten. Fehlt noch etwas anderes, was man ja auch haben muss, nämlich Mut, nicht nur was auszuprobieren, auch Mut zum Scheitern?
Neubauer: Das ist ja wirklich ein großes gesellschaftliches Problem, das wir haben. Da nehme ich jetzt Politik mal ein Stück in Schutz, weil wir natürlich auch als Gesellschaft gegenüber der Politik eine Null-Fehler-Toleranz fahren. Wenn tatsächlich mal jemand nachweislich wirklich falsch liegt, dann wird er ja quasi einmal durch die Republik getrieben. Das kann natürlich auch nicht richtig sein.
Wenn Menschen wollen, dass es im Land vorwärts geht, dann muss man auch der Politik einräumen, dass sie sagt: "Wir haben jetzt drei Sachen versucht. Davon sind zwei schief gegangen, eine klappt." In der Industrie oder auch in der Digitalisierung bei Google beispielsweise wäre 1 von 3 eine traumhafte Quote. Ich kann vorwärts nur generieren, wenn natürlich auch alle dann sagen: "Okay, da hat mal was nicht geklappt - Schwamm drüber!"
Das funktioniert aber bei uns auch nicht mehr. Und das hat aber mit dieser Fehlentwicklung zu tun, dass wir immer top-down gearbeitet haben. Die Menschen empfinden inzwischen die Politik als so eine Art Lieferservice. Leute müssen verstehen, deshalb sage ich immer: "Du bist die Stadt. Du bist als Bürger ein Teil dieser Stadt. Und dann frag du dich doch erstmal, was du da beisteuern kannst." Das müssen wir aushalten. Eine solche Diskussion müssen wir auch führen.
Aber das entbindet uns nicht aus der Verpflichtung, darüber nachzudenken, wie wir dieses Land vielleicht zeitgemäß zu organisieren haben, damit Menschen sich da wiederentdecken. Wir leben in einem politischen System, das hat sich weitgehend seit den 60er-Jahren nicht maßgeblich verändert. Das kann doch nicht funktionieren!
Und ich habe inzwischen das Gefühl, dass wir uns inzwischen so reguliert haben und dass die Gesellschaft darüber auch so ein bisschen eingeschlafen ist, dass der Idealzustand in diesem Land offensichtlich der Stillstand ist. Da muss sich niemand bewegen. Es kann niemand einen Fehler machen. Jeder ist in seiner Komfortzone und alles ist schick. Und dann kommt so ein doofes Virus um die Ecke und sagt uns: "Das geht aber nicht!" Und dann sind wir alle völlig hilflos.

Deutschland ist ein "Schlafwagenabteil"

Stellen Sie sich mal vor, wir hätten es mit einer Pandemie zu tun, mit einem Virus, das unmittelbar tödlich wäre. Wir wären überhaupt nicht in der Lage, das irgendwie in den Griff zu bekommen, weil wir alle schlafen. Diese ganze Republik ist ein Schlafwagenabteil. Ganz vorne sitzt Mutti in der Lok. Das meine ich jetzt nicht abwertend. Ich habe hohen Respekt vor unserer Kanzlerin. Ich befürchte, dass wir sie sehr vermissen werden.
Wir müssen alle was tun. Das geht nicht nur mit denen da oben und die hier unten. Aber die da oben sind eben auch Thema bei der ganzen Veranstaltung.
Deutschlandfunk Kultur: Und es sind natürlich schon auch Ihre Kolleginnen und Kollegen, denn die Kommunen – bei allen Begrenzungen, die Sie beklagen – haben Kompetenzen, haben Möglichkeiten. Vielleicht nicht unbedingt in der Geldvergabe, aber wie sie die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen, ansprechen, mitnehmen, damit sie aus dem Schlafwagen aufstehen, das liegt schon in der Hand des Einzelnen.
Bei Ihnen kann man zum Beispiel direkt einen Gesprächstermin buchen. Dann kommen Sie in den Garten oder man setzt sich irgendwo in der Nachbarschaft zusammen. Ist also ein wesentlicher Punkt, dass diejenigen, die die Kommunen leiten und führen, Bürgermeister und Bürgermeisterinnen zum Anfassen sein müssen?
Neubauer: Es gibt auch Bürger in meiner Stadt, die sagen: "So einer ist kein Bürgermeister!" Es ist ja nicht so, dass es nur einen Fan-Block gäbe. Aber ich denke schon, dass wir eine gesellschaftliche Debatte brauchen: Wie soll das denn künftig sein? Wir Bürgermeister sind da sehr unsicher. Das beobachte ich auch immer wieder. Wir sind in einer merkwürdigen Position – so dazwischen. Mal gibt's ein bisschen Rückendeckung von unten, mal ein bisschen Rückendeckung von oben. Meistens gibt's aber Druck von beiden Seiten.
Das führt jetzt auch nicht dazu, dass man besonders experimentierfreudig wird oder dass man rausgeht und die Diskussion sucht. Hier ist schon eine Menge Wut. Damit muss man dann eben halt auch umgehen können.
Deutschlandfunk Kultur: Zum Schluss noch: Wer ist Löwenherz? Bei dem oder bei der bedanken Sie sich am Ende Ihres Buches "Rettet die Demokratie".
Neubauer: Jeder hat jemanden, der einen selbst rettet. Und das ist Löwenherz.

Dirk Neubauer: "Rettet die Demokratie"
Rowohlt, Hamburg 2021 (erscheint am 21.April)
192 Seiten, 10 Euro

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