Spaziergangsforscher über das Flanieren

"Der unmittelbare Zugang zur Welt mit allen Sinnen"

Ein junges Paar flaniert in Berlin-Mitte an einem Café vorbei.
Ein junges Paar unterwegs in Berlin: Den klassischen Flaneur kenne man aus sehr großen Städten, erklärt Bertram Weisshaar. © picture-alliance / dpa / Siewert Falko
Bertram Weisshaar im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Einfach losgehen und erfahren, was in der Welt vor sich geht: So beschreibt der Künstler Bertram Weisshaar die Grundidee des Flanierens. Man brauche dazu weder Smartphone noch Stadtplan.
Stephan Karkowsky: Heute Abend eröffnet in Bonn eine neue Ausstellung im Kunstmuseum, und diese Ausstellung widmet sich ganz dem Flaneur. Ich finde das ja ein ganz herrliches, schönes altes Wort, "Der Flaneur. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart", so heißt die Ausstellung. Der Wanderer wird von der Kunst relativ häufig bedacht. Was genau der Unterschied ist zum Flaneur, das bespreche ich mit dem Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar. Guten Morgen, Herr Weisshaar!
Bertram Weisshaar: Einen schönen guten Morgen!
Karkowsky: Ihr neues Buch trägt den Titel "Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen". Wie reiht sich denn da der Flaneur ein? Was zeichnet ihn aus?

"Das Flanieren kennt irgendwie jeder"

Weisshaar: Ich denke, das Flanieren kennt irgendwie jeder, insbesondere aus den Ferien, im Urlaub, da machen es, glaube ich, alle noch. Ansonsten so, am Heimatort, na ja – da ist es vielleicht noch ein Einkaufsbummel, oder vielleicht beim Dorffest bummelt man, flaniert man auch von einem Stand zum anderen.
Karkowsky: Gibt es einen Unterschied zum Spaziergänger eigentlich? Ist der Flaneur da was anderes?
Weisshaar: Ja, man kann das so, wenn man will, fein auseinanderdröseln. Der Flaneur lässt sich so ein bisschen treiben, auch das Bad in der Menge, während der Spaziergänger vielleicht auch eher so einen einsamen Spaziergang sucht, vielleicht auch im Stadtwald, am Stadtrand oder mit einem Freund zusammen.
Karkowsky: Also ein Flaneur ist einer, der einfach nur losgeht, ohne Ziel? Sieht der denn andere Dinge als Menschen, die sich zielgerichtet bewegen, von A nach B?
Weisshaar: Das ist vielleicht auch so ein bisschen das Streunen, was Sie ansprechen, also dass man sagt, so aufs Geradewohl. Wo war ich denn vielleicht schon lange nicht mehr oder auch noch gar nie in der Stadt. Und man würde jetzt nicht vermuten, dass da es besonders schön zum Spazieren ist, aber trotzdem will man da mal hin und das selbst sehen. Und da empfehle ich, also das würde ich auf jeden Fall empfehlen, das zu tun und praktisch nicht nur diese Gegenden aufsuchen, die ganz klassisch bekannt sind.
Karkowsky: Wie macht man das denn am besten? Manche Leute können sich gar nicht vorstellen, wie das geht in Gegenden, die sie nicht so kennen. Haben Sie da einen Tipp?

An der eigenen Haustür loswandern

Weisshaar: Ja, das ist ganz einfach. Man steht auf und macht einen Schritt vor den vorherigen, und siehe da, schon geht man. Das Verrückte ist eben, es lohnt sich auch mal, so einen Wanderrucksack zu schnappen und an der eigenen Haustür loszuwandern. Es ist ganz merkwürdig, schwer zu beschreiben, warum, aber man geht dann schon an der eigenen Haustür los, und man geht schon irgendwie anders als jemand anderes.
Karkowsky: Der Wanderer ist jemand, den man vorwiegend in der freien Natur vermutet, in Wäldern, auf Bergen, in Tälern, an Flussbiegungen und so weiter. Der Flaneur, ist der eigentlich per se ein Großstadtmensch?
Weisshaar: Der Flaneur, kennt man so die Figur, klassisch aus Paris oder Berlin, die großen Städte, der in den Shopping-Arenen oder einfach im Großstadtgetriebe unterwegs ist und sich von diesen, man könnte sagen, von den Brandungen der Großstadt einfangen lässt und da vielleicht auch unbeobachtet, geheim Menschen folgt und verfolgt, was die so tun in der Stadt, und sich davon durch die Stadt strömen lässt, viel los.
Während der Wanderer vielleicht im klassischen Sinne aufbricht, um selbst als ein anderer Mensch vielleicht sogar zurückzukommen. Die ganz großen Sehnsüchte des Wanderns, einmal das Land quer zu durchwandern oder von Nord nach Süd, von Ost nach West. Es lohnt sich, das auch in Deutschland einmal zu tun. Es gibt da auch – ich hab das vor 2005 einmal gemacht, einmal von Aachen bis Zittau. Man braucht dafür 50 Tage oder zwei Monate.
Karkowsky: Ich wahrscheinlich etwas länger als Sie. Sie sind besser geübt.
Weisshaar: Nicht unbedingt. Weil man lernt das dann auch, seine eigene Kondition praktisch zu steigern. Am Anfang fängt man an vielleicht mit 15 Kilometer, und jeder, der eine durchschnittliche Gesundheit hat, ist dazu in der Lage. Wir sind als Menschen gewissermaßen, so unsere tierische Grundlage ist so geschaffen, dass wir jeden Tag 20, 25 Kilometer gehen eigentlich.
Karkowsky: Hat das Flanieren auch etwas mit der Zeit zu tun? Ich meine, ist nicht das eigentlich Unverschämte am Flaneur, die er im Überfluss zu haben scheint unter lauter gehetzten Großstadtmenschen?

"Ich nehme mich einfach raus aus dem Getriebe"

Weisshaar: Das ist ja das Schöne daran, dass man sich sagt, ich bin jetzt mal nicht erreichbar, ich tue hier jetzt mal etwas, nichts, was produktiv verwertbar ist, sondern ich nehme mich einfach raus aus dem Getriebe, aus dem Hamsterrad. Und solange ich gehe, bin ich nicht erreichbar, kann ich nichts tun. Und man ist aber doch mit allen Sinnen in der Welt, und das Gehen ist, das ist auch das sehr Schöne daran, und da sind vielleicht alle Figuren gleich, es ist so der unmittelbare Zugang zur Welt mit allen Sinnen. Man muss dazu nichts erst kaufen. Man braucht auch kein Handy oder keine Stadtkarte.
Historische Aufnahme: Ein Mann und zwei Frauen flanieren.
Historische Aufnahme: Ein Mann und zwei Frauen flanieren.© picture alliance / imageBROKER
Man kann im Grunde genommen einfach losgehen und erfährt nur dadurch, dass man unterwegs ist mit seinen Füßen, was so passiert, was in der Welt vor sich geht. Und man ist damit auch Teil der Gesellschaft, dadurch, dass man einfach im öffentlichen Raum unterwegs ist. So entstand ja auch die Promenade. Man ging, um sich zu zeigen, dass man da ist, und sich zu vergewissern, die anderen sind auch da. Und das hat auch heute, denke ich, nach wie vor neben all den elektronischen sozialen Medien eine wichtige Komponente: Dass man immer noch auch mit den anderen zusammen im öffentlichen Raum anwesend sein möchte.
Karkowsky: Marcel Proust stellt dem Flaneur auch ein weibliches Gegenstück gegenüber, die Passante. Begegnen Ihnen eigentlich mehr Flaneure, also Männer, als Passantes, sprich Frauen? Macht dieses ziellose Herumstreifen vielleicht uns Männern mehr Spaß als den Damen?
Weisshaar: Ich glaube, dass es inzwischen sich gleichermaßen verteilt. Auch die Frauen haben gleichermaßen den Spaß daran. Das ist, glaube ich, Geschichte geworden. Vielleicht war das früher so, dass die Männer mehr allein auf der Straße sich zeigen durften. Das hat sich ja auch zum Glück geändert. Da sehe ich also die Frauen auf gleicher Höhe.
Karkowsky: Über Flaneure und Passantinnen sprachen wir mit dem Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar, weil heute Abend im Kunstmuseum Bonn eine neue Ausstellung eröffnet, die sich ganz dem Flaneur widmet. Herr Weisshaar, herzlichen Dank!
Weisshaar: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Die Ausstellung "Der Flaneur. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart" ist vom 20.9.2018 bis zum 13.1.2019 im Kunstmuseum Bonn zu sehen.