Spaziergang in den Wahnsinn

22.12.2010
"Je paranoider du bist, desto sicherer lebst du": Der italienische Schriftsteller Massimo Carlotto schreibt in seinem autobiografischen Krimidebüt "Der Flüchtling" über seine Jahre im Exil.
In Italien ist Massimo Carlotto ein Star. Er hat knapp zwanzig Kriminalromane verfasst, und sein Name wird in einem Atemzug mit den großen Autoren des "mediterranean noir" genannt: Andrea Camilleri, Jean-Claude Izzo, Manuel Vázquez Montalbán. Den Hinweis auf seine Vergangenheit lässt sich allerdings kein Rezensent entgehen: Carlotto ist die Hauptfigur in dem größten Justizskandals seines Heimatlandes. Es beginnt 1976 in Padua, mit dem Mord an einer jungen Frau namens Margherita Magello.

Carlotto, damals 19, findet die Leiche. Er wird unter Mordanklage gestellt, ein Schwurgericht spricht ihn aus Mangel an Beweisen frei, doch Carlotto ist Mitglied der linksradikalen Gruppe "Lotta Continua". Der Staat will ein Exempel statuieren: In zweiter Instanz wird Carlotto zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Er setzt sich ab – und an dieser Stelle beginnt "Der Flüchtling", Carlottos autobiografisches Debüt, das nach 15 Jahren jetzt auch auf Deutsch erscheint.

Kurz vor Antritt seiner Strafe taucht Carlotto 1982 in Frankreich unter. Er legt sich verschiedene Identitäten zu: Als Bernard, der Prolet mit der abgewetzten Lederjacke, oder als Lucien, ein Tourist, der "I love New York"-T-Shirts trägt, lebt er in Paris in ständigem Misstrauen. Er spioniert seine Nachbarn aus, protokolliert die Schichten der Straßenreinigung, prägt sich die Kennzeichen der Autos in seiner Straße ein: "Mit der Zeit wird dir klar, je paranoider du bist, desto sicherer lebst du."

Hemdsärmelig kommentiert Massimo Carlotto den Alltag im Untergrund. Es gibt regelrechte Slapstick-Szenen wie den Notfall-Besuch bei einem sadistischen Zahnarzt, der den eingeschüchterten Carlotto mit dem Bohrer in der Hand dazu bringt, eine Lebensbeichte abzulegen, bevor er die Behandlung fortsetzt. Doch auch der lockere Tonfall ist nur Maskerade, und während der "Zufallsflüchtling" zuerst in Frankreich und später in Mexiko von einer Rolle in die nächste stolpert, holt ihn die Angst ein. Panik überfällt ihn auf offener Straße, und nachts kämpft Carlotto in seinen kahlen Wohnungen gegen die Einsamkeit und die Verzweiflung, indem er vor einem fiktiven Gericht stundenlange Plädoyers für seine eigene Unschuld hält: Das Exil ist ein langsamer "Spaziergang in den Wahnsinn".

Carlotto hält nicht lange durch. 1985 verrät ihn ein schmieriger Anwalt in Mexiko-Stadt an die Polizei. Nach zehn Tagen im berüchtigten Folterkeller in der Calle de Soto lässt er sich nach Italien ausweisen, um den Gespenstern seiner Vergangenheit nicht länger auszuweichen: "Der Prozess war mein eigentliches Leben", schreibt Carlotto, ein Satz wie von Franz Kafka. Wie Josef K. in "Der Process" kämpft Massimo Carlotto weiter erfolglos für seine Unschuld. Einen Freispruch wird es nie geben, und es vergehen acht weitere Jahre, bis er schließlich auf massiven Druck der Öffentlichkeit begnadigt wird. Gnade wofür? Es liegt eine bittere Hoffnungslosigkeit über den Figuren in Carlottos Kriminalromanen. Man muss "Der Flüchtling" lesen, um das zu verstehen.

Besprochen von Kolja Mensing

Massimo Carlotto: Der Flüchtling
Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Tropen, Stuttgart 2010
184 Seiten, 18,95 Euro