"Spaziergänger der Herzen"

Von Sigrid Brinkmann · 26.10.2011
Robert Bober hatte bereits mehr als hundert Dokumentarfilme für das Fernsehen gedreht, bevor er anfing, Prosa zu schreiben. 1993, mit 62 Jahren, veröffentlichte er sein erstes Buch. Gerade ist ein neuer Roman erschienen: "Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen". Damit geht Bober auf Lesereise in Deutschland.
"Ich bin ein unverbesserlicher Spaziergänger. Spazierengehen, das ist für mich Nahrung. Ich habe das große Glück, mich noch an das alte Paris erinnern zu können. Einen Vorteil muss das Altern ja schließlich haben (Lachen). Für mich ist Paris ein durchsichtiges Gewebe. Ich sehe in den neuen Gebäuden immer noch die alten durchscheinen. In einem Gedicht von Baudelaire heißt es: 'Die Form einer Stadt wandelt sich schneller als das Herz eines Menschen'."

Lächelnd fügt Robert Bober hinzu, er sei auch ein "Spaziergänger der Herzen" und - wie seine Romanfiguren - stets offen für Zufallsbegegnungen. Wenn er von seinen Anfängen beim Film erzählt, wirkt er unglaublich jung. Dabei wird Robert Bober im November 80.

1959 suchte der Regisseur Francois Truffaut jemanden, der während der Drehpausen bei "Sie küßten und sie schlugen ihn" hundert Kinder beschäftigen konnte. Robert Bober bekam den Job, denn er brachte Erfahrungen als Freizeitbetreuer von Waisenkindern mit. Als Truffaut ihn danach auch als Assistent für seinen Kultfilm "Jules und Jim" engagierte, war beruflich eine Weiche gestellt.

Musikeinspielung "Le tourbillion de la vie"

Jeanne Moreau sang dieses Lied in einer Filmszene. Auf Bobers Schreibtisch steht ein Foto von ihr und ihm, aufgenommen bei Dreharbeiten. "Jules und Jim" kam 1962 in die Kinos, und Robert Bober beschloss, auch Regisseur zu werden. Er drehte Dokumentarfilme über weibliche Clochards, über die Geschichte der Einwanderer-Insel Ellis Island im Hafen von New York und zahlreiche Autorenporträts. Der früh verstorbene Freund und Schriftsteller Georges Perec erkannte Bobers untrügliches Gespür für Augenblicksmomente und ermutigte ihn zum literarischen Schreiben.

"Ich muss einfach sämtliche Bewegungen meiner Figuren nachvollziehen. Für die Beschreibung eines Fluchtweges bin ich mit dem jungen Bouglione auf das Dach des Winterzirkus im 11. Arrondissement geklettert. Für mich ist so etwas einfach wichtig."

In seinem neuen Buch, das in den 60er-Jahren spielt, hat Robert Bober auch Fotos abdrucken lassen – von der Wahrsagerin Madame Rayda und dem Pariser "Original" Robert Giraud, einem Sammler von Alltagsgeschichten, der rauchend an einer Theke lehnt und versonnen in Richtung Tür schaut.

"Die alten Fotografien mit den gezackten Rändern haben auf mich die gleiche Wirkung wie Musik aus den 50er-Jahren. Es ist egal, ob das Chanson etwas taugt, man hört es, erkennt es, und schon kommen einem die Tränen. Man sieht Gesichter, erinnert sich an eine bestimmte Atmosphäre. Es ist etwas sehr Kostbares und taucht in jedem meiner Bücher auf."

Robert Bober liebt den jazzigen Swing von Fats Waller. Die Wände seines Arbeitszimmers sind gespickt mit Fotografien, wie zum Beispiel Aufnahmen vom Schuhmachergeschäft seines Vaters und der Mutter, die nebenan Korsagen und Büstenhalter nähte. Dazu Stadtansichten und Familienfotos. Eines aus dem Jahr 1928 ist sehr kostbar für ihn. Es zeigt den in Wien lebenden Großvater, umringt von seinen Kindern, Enkeln und Neffen.

"Ich wurde 1931 geboren, zwei Jahre nach seinem Tod, und doch ist er für mich so gegenwärtig. Er fertigte Leuchter und zog Kerzen. Ich habe sehr lange gebraucht, um zu verstehen, warum die Bücher von Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Joseph Roth und Hugo von Hoffmannsthal von früh an zu meinen Lieblingstexten zählten. Diese Schriftsteller gehörten derselben Generation an wie mein Großvater. Mit dem Unterschied, dass er nicht lesen konnte."

Über den frommen Großvater, der vergeblich versucht hatte, nach Amerika auszuwandern, will Robert Bober einen Film drehen. Mit den Vorarbeiten für einen nächsten Roman hat er bereits begonnen. Er wird vom Erwachsenwerden eines Jungen erzählen, dem wir in "Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen" zum ersten Mal begegnen.

Der kleine, vaterlos aufgewachsene Alex hatte schnell herausgefunden, wie er seine Großmutter richtig ärgern konnte. Er spürte, dass sie ihn nicht mochte und bat sie beim Abendessen scheinheilig, den Straßennamen Saint-Julien l'Hospitalier doch für ihn einmal auf Jiddisch auszusprechen. Eine Unmöglichkeit.

" C'est intraduisible! (Lachen) Il a trouvé le truc pour l'emmerder, voilà. (Lachen)"

Als Robert Bober die Anekdote erzählt, funkeln seine Augen vor Vergnügen. Einer wie er steht eben immer aufseiten der Kinder.