Spaß am Sprachnonsens

Von Eberhard Spreng · 09.07.2007
Das 61. internationale Theaterfestival in Avignon widmet sich in diesem Jahr vorrangig der poetischen Literatur und deren Kraft, Denk- und Freiräume zu erschaffen. So preist Valère Novarinas "l'Acte Inconnu" das kindliche Spiel mit Sprache als Vorbild: wie man aus purem phonetischen Spaß am Nonsens die erstarrte Erwachsenenwelt auslachen kann.
Eine Horde von 14 argentinischen Jugendlichen feiert einen lauten Karneval auf der Bühne im Hof des Karmeliterklosters. Es sind leibhaftige Murgueros, die Rodrigo Garcia bei einer Reise in seine argentinische Heimat kennengelernt und für sein Stück über die Murga, den argentinischen Karneval, engagiert hat. Jugendliche aus den Armenvierteln, die schon als Kinder mit harten Drogen und Gewalt zu tun hatten. Ihre Körper sind das Fleisch, das Material für ein Stück mit dem provozierenden Titel "Cruda, Vuelta y vuelta, Al punto. Chamuscada" - Bezeichnungen für den Garzustand des Fleisches auf einem Grill.

Rodrigo Garcia arbeitet nah am Ekel, immer auf der Suche nach der Grenze, an der in der Wahrnehmung des mittelständischen Publikums in der ersten Welt die Probleme der dritten Welt jeden pittoresken, exotischen Reiz verlieren. Mehlwolken stäuben auf, mit Wasser wird gespritzt, Rasierseife wird verschmiert, Ketchup vergossen. Der Autor-Regisseur hat einfache Fragen und Aussagen formuliert und lässt sie auf einen großen Bildschirm auf die Bühne projizieren. Es sind provozierende Fragen nach dem Zustand der Vitalität der von Wohlstandsproblemen neurotisierten Menschen in Europa und Nordamerika.

Wenn er allerdings die impulsive Kraft der Murga, diesem Tanz, in dem noch die schwarzen Wurzeln des argentinischen Karnevals zu ahnen sind, vor der barocken Emphase einer Malerei ablaufen lässt, die auf die Leinwand projiziert wird, ist neben dem schönen optischen Effekt plötzlich eine etwas simple Rechnung aufgemacht: Kraft der Gefühle, Pathos, Ausgelassenheit, einst auch europäische Lebenskraft, nun ausgewandert in die dritte Welt? Erreichbar für die Augen des Abendlandes nur noch als ferne Exotik?

Eine andere Poesie, nicht die der Körper und Bilder, sondern die der Sprache, bewegt Valère Novarina, der seinen "l'Acte Inconnu", also den "unbekannten Akt" im Papstpalast urinszenierte. Mit einer ausgelassenen Mischung von populärem Chanson, popigen Kostümen und überschäumendem Spaß am Spiel mit der Sprache entfaltet der große Sprachmeister und Poet Novarina sein kleines Welttheater um einen kosmischen Clown mit dem Namen Raymond de la Matière.

Novarina entführt die Zuschauer nicht nur in eine entzückte Meditation über die Sprache als Mittlerin zwischen kruder Natur und göttlicher Inspiration, sondern lädt ein zur Reise in die Kindheit der Zuschauer, als man mit Worten nicht nur solide, sinnvolle Aussagen treffen konnte, sondern aus purem phonetischen Spaß am Nonsense die Macht hatte, Phantasiewelten auszurufen, aus denen heraus man die Erstarrung und die Gewissheit der Erwachsenen auslachen konnte.

In diesem am besten mit Kinderaugen anzuschauenden kosmischen Kabarett ist, vom Wunsch des privaten Glücks bis zur leeren Rhetorik der Politiker, eigentlich auch alles Zeitgenössische vorhanden, nur eben als bunter Wirbelsturm einer in phonetische und semantische Schnipsel zerfetzten Welt.

Alles muss von der Materie der Sprache ausgehen, sagt Novarina, der ganze Kosmos muss sich aus einem einzigen Blatt Papier entfalten, von einer Zelle aus, einem sehr kleinen Partikel. Theater ist also vor allem ein Ort der Materie.

Inmitten der von Touristen überlaufenen, mit fünfhundert Off-Theaterarbeiten angefütterten und von Straßenmusikern und viel Lärm erfüllten Stadt will sich das 61. Festival d'Avignon in diesem Jahr die poetische Literatur vornehmen und deren Fähigkeit überprüfen, neue Denk- und Freiräume zu schaffen. Es greift einen alten französischen Traum auf - den von der vollständigen Erschließbarkeit der Welt durch Worte und Literatur. Manchmal auch durch die Frage nach den Gründen für die Stille und das Schweigen.

Jean-Pierre Vincent inszenierte äußerst wirkungsvoll und nüchtern in "Le Silence der Communistes" den Briefwechsel von drei führenden Vertretern der kommunistischen Partei Italiens in der Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer.

Matthieu Bauer, ein Rockmusiker, der seine Aufführung selbst am Schlagzeug begleitet, entwickelte aus John Steinbecks "Sweet Thursday" ein melodramatisches, zwischen amerikanischem Kino und Pop-Varieté changierendes Theater. In diesem vom französischen Regisseur Frédéric Fisbach künstlerisch begleiteten Programm wird in den ersten Tagen ein unendlich weites Spektrum von Bühnen-Handschriften aufgefächert.